Hamburg. Anstatt sich auf die Stärken des Gegners einzustellen, wollte der HSV-Coach nur auf sich gucken. Seine Spieler fanden deutliche Worte.

Tim Walter geriet in Erklärungsnot. „Es ist schwierig, das (die Gegentore; d. Red.) zu erklären, das muss man ganz ehrlich sagen“, sagte der HSV-Trainer, als er am späten Freitagabend während der Pressekonferenz die 3:4-Heimpleite gegen Hannover 96 analysieren sollte. Es war das zweite Heimspiel in Folge, bei dem der HSV vier Gegentore kassierte – und der 48-Jährige sich taktisch gehörig verzockte.

Auch Walter weiß das. (Öffentlich) eingestehen wollte er das so kurz nach dem Spiel aber nicht. „Es ist schwer zu analysieren“, wiederholte sich der HSV-Coach. Anstatt auf die konkreten (und für alle sichtbaren) Missstände einzugehen, verwies Walter auf die Steh-Auf-Qualitäten seines Teams. Die zentrale Frage, wieso seine Mannschaft denn überhaupt regelmäßig am Boden liegt, ließ er jedoch offen.

HSV News: Walter wollte vor dem Spiel nur auf sich gucken

Etwas mehr als 55 Stunden vor diesem Moment der Ratlosigkeit hatte Walter schon einmal eine Pressekonferenz gegeben. Auf die Abendblatt-Frage, welche taktische Herangehensweise und Statik er bei Hannover erwarte, antwortete der Trainer typisch in seiner Art: „Der Gegner denkt sich gegen uns immer etwas aus. Darum sind wir der HSV und darum liegt mein Fokus nur bei uns und nicht beim kleinen HSV.“

Es war eine Aussage, die Walter in seiner mittlerweile 103 Pflichtspiele andauernden HSV-Amtszeit so oder so ähnlich schon häufiger getätigt hat. Man konzentriere sich nur auf sich, was der Gegner mache, sei sekundär bis egal. Gegen den „kleinen HSV“ fiel Walter diese Herangehensweise erneut auf die Füße.

Hannover spielte aggressives Angriffspressing

Problem Nummer eins: das Hannoveraner Pressing. Bereits vor dem Spiel war klar, dass 96 eine mutigere Herangehensweise wählen würde als noch Hertha BSC sechs Tage zuvor, wo der HSV mit 2:1 gewinnen konnte. Von der ersten Minute an setzten die Niedersachsen die Hamburger Viererkette im Spielaufbau unter Druck. „Die Entschlossenheit hat gefehlt, auch das Zutrauen, hinten raus zuspielen. Teilweise hat auch die Konzentration gefehlt“, sagte Sechser Jonas Meffert. „Bei vier Gegentoren zu Hause hat man aber ein, zwei Probleme mehr als nur ein Problem.“

Tatsächlich wirkten viele Hamburger Profis total verunsichert. Rechtsverteidiger Ignace Van der Brempt, der zum Rückrundenauftakt bei Schalke 04 (2:0) noch ein überragendes Spiel gemacht hatte, ist seit drei Spielen nicht wiederzuerkennen. Bereits beim 3:4 zu Hause gegen den KSC vor zwei Wochen hatte ein Ballverlust des Belgiers im entscheidenden vierten Karlsruher Tor resultiert. Am Freitag gegen Hannover verlor Van der Brempt vor der Ecke zum 0:1 erneut den Ball in gefährlicher Position.

Chipbälle stellten den HSV vor Probleme

Problem Nummer zwei: das Defensivverhalten. Ein großes Problem hatten die Hamburger mit Hannovers hohen Bällen hinter die Abwehrkette. „Wir hätten eine andere Lösung finden müssen für die Chipbälle, die sie die ganze Zeit gespielt haben“, sagte Immanuel Pherai. Stattdessen ließen sich die Innenverteidiger Guilherme Ramos und Stephan Ambrosius mehrfach von 96 düpieren.

Einer dieser Chipbälle führte dann auch zum dritten Hannoveraner Tor, als Jannik Dehm einen hohen Ball auf Nicolo Tresoldi spielte und der 96-Stürmer völlig frei vor Matheo Raab auftauchte. Tresoldis Schuss wehrte der HSV-Keeper zunächst noch stark ab, den Abpraller versenkte dann aber Louis Schaub. Auch beim zweiten und vierten Gegentor ließ sich die schlecht positionierte HSV-Abwehr zu einfach ausspielen.

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In der Schlussphase hätte der HSV das Remis retten müssen

Problem Nummer drei: die Alles-oder-Nichts-Taktik am Ende. Angepeitscht von den Zuschauern, spielte der HSV in den Schlussminuten voll auf Sieg. Die Viererkette stand mitunter auf Höhe der Mittellinie, immer wieder drohten gefährliche Konter. Zudem agierte der HSV in den letzten 18 Minuten des Spiels bereits in Unterzahl, weil Laszlo Benes Rot sah.

„Man muss irgendwann mal während eines Spiels verstehen, dass man, wenn man 0:2 und 1:3 zurücklag und zum 3:3 zurückkommt, nicht wieder volles Risiko spielen kann. Dann muss man einfache Ballverluste vermeiden und clever sein“, ärgerte sich Torhüter Matheo Raab. Auch Robert Glatzel fand klare Worte. „Es ist dumm. Wir wollen zu viel in dem Moment, sind auch ein Mann weniger. Da muss man den Punkt mitnehmen“, sagte der Stürmer.

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Es war nicht das erste Mal in dieser Saison, dass der HSV in der Schlussphase einer Partie alles nach vorne warf. Doch erneut verpasste es Trainer Walter, seine Mannschaft zu mehr Ruhe und Stabilität zu bewegen. Ein Remis hätte zwar keiner Mannschaft so richtig weitergeholfen, durch die drei Punkte ist Hannover nun aber wieder mittendrin im Aufstiegsrennen.

HSV-Sportvorstand Jonas Boldt muss nun entscheiden, ob Walter noch einmal die Wende gelingt. Alternativen böte der Trainermarkt zurzeit genug. Auf die Frage, ob die Stimmung nun kippen könne, antwortete Boldt: „Ich kann das total verstehen. Jeder merkt, wie enttäuscht ich gerade bin. Dieses Recht hat auch jeder Fan. Dass der Geduldsfaden gerade sehr, sehr kurz ist, ist nachvollziehbar, weil unsere Fans alles reinhauen und uns supporten.“