Hamburg. Tim Walter bekommt beim HSV weiter das Vertrauen ausgesprochen. Der Vorstand will die Ruhe bewahren - anders als andere Clubs.
Das Wochenende nach dem Derbysieg gegen St. Pauli wurde zur großen Ernüchterung. Dabei feierte der HSV mit seinen Fans nur sieben Tage zuvor eine Party, die sich nach Aufstieg anfühlte. Die Spieler zogen auf den Kiez, die Verantwortlichen ins „Zwick“, und die HSV-Anhänger erlebten ihre wohl schönste Woche am Arbeitsplatz. Doch eine Woche später endete der Rausch abrupt. 2:3 verloren. Der Aufstieg in großer Gefahr.
Es hätte die Beschreibung dessen sein können, was sich in der vergangenen Woche beim HSV abspielte. Gemeint ist aber die Geschichte, die sich vor vier Jahren im Volkspark ereignete, als die Hamburger in ihrer ersten Zweitligasaison der Geschichte nach dem Derbysieg in der Rückrunde auf St. Pauli einen beispiellosen Absturz hinlegten.
Angefangen mit der 2:3-Niederlage gegen Darmstadt 98. Beim HSV fragte man sich nach der Saison, ob die Party nach dem 4:0 gegen den Stadtnachbarn vielleicht etwas zu heftig ausfiel? Und ob man Trainer Hannes Wolf früher hätte entlassen müssen?
Muss der HSV reagieren, um die Ziele nicht zu gefährden?
Es sind Fragen, die sich vier Jahre später wiederholen, nachdem der HSV am Sonnabend mit 2:3 (1:1) gegen den Aufsteiger 1. FC Magdeburg verlor. Und das schon zum zweiten Mal in dieser Saison. Nichts war zu spüren von der Euphorie des Derbysiegs. Stattdessen wirkte der HSV müde und uninspiriert, ergab sich in der zweiten Halbzeit in sein Schicksal gegen eine Mannschaft, die zu jeder Zeit des Spiels verwundbar wirkte. Nach der achten Niederlage der Saison stellt sich daher automatisch die Frage, ob der Club vier Spieltage vor Saisonende mit einem Trainerwechsel reagieren muss, um das Aufstiegsziel nicht zu gefährden?
Sportvorstand Jonas Boldt beantwortete diese Frage am Sonntagvormittag mit einer klaren Symbolik, als er Seite an Seite mit Trainer Tim Walter beim Spielersatztraining erschien. Zuvor hatte sich der Manager noch einmal in Ruhe die Gegentore in Magdeburg im Video angeschaut.
Seine Meinung: Mit der viel diskutierten und auch kritisierten Spielweise des Cheftrainers hätte die erneute Niederlage nichts zu tun. Anstatt die Mannschaft – wie etwa beim FC Bayern München mit Thomas Tuchel – mit einem neuen Trainer zu verunsichern, setzt Boldt darauf, dass Walter mit seinen Spielern noch einmal die Wende schafft. So wie in vielen Spielen in dieser Saison zuvor. Und so wie vor einem Jahr, als sich der HSV mit einem Schlussspurt von fünf Siegen in die Relegation rettete.
Doch die Ausgangslage in diesem Jahr ist eine andere. Der HSV ist von Beginn an offensiv mit dem Aufstiegsziel umgegangen und hat dementsprechend in den Kader investiert. In der Rückrunde zeigt sich nun aber, dass die Verantwortlichen bei der Kaderplanung einer Fehleinschätzung unterlagen.
HSV kann Mario Vuskovic nicht ersetzen
Während Tabellenführer Darmstadt 98 etwa problemlos das Fehlen des besten Innenverteidigers Patric Pfeiffer kompensieren konnte, fehlt dem HSV seit der Dopingsperre von Mario Vuskovic jegliche Stabilität in der Abwehr. Mit dem Kroaten kassierte der Club in der vergangenen Saison die wenigsten Gegentore der Liga (35). Jetzt sind es schon 41 nach 30 Spielen. Bis zu seiner Sperre waren es 17 Gegentore in 16 Spielen (1,06 pro Spiel), ohne ihn 24 in 14 (1,71 pro Spiel).
Walter muss sich vorwerfen lassen, dass er es insbesondere in den Auswärtsspielen nicht schafft, ohne Vuskovic eine defensive Kompaktheit herzustellen. Natürlich geht der HSV mit der Walterschen Spielart ein größeres Risiko ein, verteidigt oft eins gegen eins. Bei den vielen Gegentoren in den vergangenen Wochen lag es aber weniger am mutigen Spielaufbau oder der Grundordnung, sondern an der fehlenden Gier, das Tor mit aller Macht zu verteidigen.
HSV-Vorstand Boldt kritisiert die Menge an Gegentoren
So wie bei den Treffern des 1. FC Magdeburg, als Moritz Heyer vor dem 0:1 durch Moritz Kwarteng (32.) zu zaghaft agierte, Sebastian Schonlau beim 1:2 durch Baris Atik (74.) und Anssi Suhonen vor dem 1:3 durch Tatsuya Ito (86.). „Wir kriegen viel zu viele Gegentore, und am Ende ist das dann in manchen Szenen nicht entschlossen genug“, sagte Boldt.
Der Manager selbst hat sein Schicksal eng mit dem von Walter verknüpft. Der Aufsichtsrat des HSV steht mehrheitlich zu Boldt und dem aktuellen Vorstandsduo. Auch zu Investor Klaus-Michael Kühne pflegt Boldt mittlerweile einen guten Draht. Wie der Logistikunternehmer, der mit dem HSV über einen langfristigen Erwerb des Stadionnamens verhandelt, im Fall des erneuten Nichtaufstiegs reagiert, ist aber nur schwer vorherzusehen.
Noch hat der HSV die Chance, den Aufstieg aus eigener Kraft zu schaffen. Dafür braucht die Mannschaft aber wieder ihre Offensivkraft. In der Statistik der expected goals (zu erwartende Tore) liegt der HSV auswärts auf Platz eins. Doch auch in Magdeburg fehlte die Konsequenz im Abschluss. Zwar erzielte der HSV zwei reguläre Tore durch Sonny Kittel (42.) und Ludovit Reis (90.+4) sowie zwei irreguläre Treffer.
Die Hoffnung der HSV-Fans liegt im Volkspark
Doch anders als in vielen Spielen zuvor wirkten Robert Glatzel und seine Offensivkollegen wie schon beim 0:2 in Kaiserslautern harmlos. Die Hoffnung der HSV-Fans liegt im Volksparkstadion. Da haben die Hamburger zuletzt in der Hinrunde verloren – gegen Magdeburg.
Für die HSV-Anhänger ist die Achterbahnfahrt der Emotionen aber zunehmend schwerer auszuhalten. Vor drei Wochen sangen sie noch „Oh wie ist das schön“ beim 6:1-Sieg gegen Hannover 96, zwei Wochen später folgte die Ekstase gegen St. Pauli. Doch dazwischen lagen nun wieder zwei herbe Enttäuschungen gegen die Aufsteiger Kaiserslautern und Magdeburg. Der HSV lässt seine Fans immer wieder leiden. Und muss nun aufpassen, dass die Stimmung nicht kippt.
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„Wir sind heute die Gelackmeierten“, stellte Trainer Walter fest. „Wir haben heute auf die Fresse bekommen“, sagte Kapitän Schonlau, der den Blick aber schnell nach vorne richtete. „Vier Punkte sind immer noch weniger als sechs“, sagte der Abwehrchef mit Blick auf den Rückstand auf Heidenheim und den Vorsprung auf Paderborn, St. Pauli und Düsseldorf.
Angesichts der Entwicklung in der Rückrunde sieht es aktuell aber eher danach aus, dass der HSV um den Verbleib auf Platz drei kämpfen muss. In der Tabelle der zweiten Saisonhälfte sind die Hamburger auf Platz sechs abgerutscht. „Zweite Liga, Hamburg ist dabei“, sangen die Magdeburger Fans nach dem Schlusspfiff. Nach diesem Spiel ist die Wahrscheinlichkeit gestiegen, dass sie das auch in der kommenden Saison singen werden.