Hamburg. Gegen Kiel muss der HSV auf den Leitwolf verzichten. Dabei ist der Cheftrainer als Förderer und Forderer gleichermaßen wichtig.
Tim Walter marschiert vorweg. Sowieso. Immer. Generell. Und natürlich auch an diesem Montag. Im Nieselregen. Graue Trainingsjacke, schwarze Trainingshose. Passend zum grauen Himmel und zur Schwarzmalerei nach dem 2:4 in Karlsruhe. Ein kurzer Blick nach hinten, dann trabt Walter los. Als Erster. Ganz vorne, neben Ludovit Reis, dahinter das Trainerteam, dann der Rest der Mannschaft. Breite Brust, breites Kreuz.
Die Botschaft am Tag nach dem Debakel, das noch deutlich höher hätte ausfallen können: Wir sind trotzdem gut! Wir steigen trotzdem auf! Wir lassen uns nicht verrückt machen! Und: Wir bleiben nur bei uns!
HSV: Wie geht's weiter ohne Walter?
Doch was passiert, wenn dieses Wir auf Walter verzichten muss? Wenn der Vorweg-Marschierer plötzlich hinten dran bleiben muss? Die Antwort muss Walters HSV am kommenden Sonnabend gegen Kiel geben. Der DFB hat den 47-Jährigen am Montag für ein Spiel gegen Ex-Club Holstein gesperrt. Der HSV hat dem Antrag des DFB-Kontrollausschusses zugestimmt, das Urteil ist somit rechtskräftig. Walter, der zudem eine Geldstrafe in Höhe von 8000 Euro zahlen muss, drohte sogar eine deutlich härtere Strafe.
Der Hintergrund: Er wurde am Sonntag nach seinem lautstarken Streit mit der KSC-Bank von Schiedsrichter Sascha Stegemann des Stadion-Innenraums verwiesen, beschimpfte im Anschluss mutmaßlich Linienrichter Christof Günesch und drückte ihm dabei mehrfach den rechten Zeigefinger auf die Brust. Ein körperliches Vergehen, das letztlich kein Nachspiel hat.
Walter in Karlsruhe übel beleidigt
Was für die Höhe des Strafmaßes keinen Einfluss hatte: Walter und Co. wurden kurz vor dem Ausbruch übelst vom direkt hinter der Trainerbank sitzenden Karlsruher Publikum beleidigt. „Du Wichser!“, war noch eine der harmloseren Beschimpfungen, die der Ex-Karlsruher über sich ergehen lassen musste. Genauso wie fliegende Bierbecher, von denen Co-Trainer Julian Hübner einen abbekam.
Doch all das fällt unter die Kategorie: muss man abkönnen. Deswegen untersuchte der DFB-Kontrollausschuss bereits am Tag nach dem 2:4 lediglich Walters Vergehen auf Basis der TV-Bilder und des Schiedsrichterberichts. Da der Club dem Antrag, der das Mindeststrafmaß nach einer Roten Karte vorsah, zustimmte, gab es automatisch ein rechtskräftiges Urteil.
Nur im Falle eines Einspruchs wäre der Fall beim DFB-Sportgericht gelandet, das dann unabhängig entschieden hätte. In der Theorie wäre nicht nur eine mildere, sondern auch eine härtere Strafe als vom Kontrollausschuss beantragt möglich gewesen.
Tim Walter gilt beim DFB als unbeliebt
Die nun erfolgte Sperre gilt für den gesamten Stadion-Innenraum beim Heimspiel gegen Kiel. Eine halbe Stunde vor Spielbeginn bis eine halbe Stunde nach Abpfiff wird Walter keinen Kontakt zu seiner Mannschaft haben dürfen – auch nicht über Funk oder Zeichensprache. Der HSV-Coach wird sich laut dem DFB in dieser Zeit auch nicht in den Umkleidekabinen, im Spielertunnel oder im Kabinengang aufhalten dürfen.
Ob Walter in dieser Zeit und bei der anschließenden Pressekonferenz von Co-Trainer Hübner oder von Assistent Merlin Polzin vertreten wird, steht noch nicht fest. Trotzdem: Walter wird fehlen. Als Cheftrainer, Antreiber, Umarmer, Hauptkritiker, Taktiker und vor allem emotionaler Leader.
Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch: Walter gilt aufgrund seiner pöbeligen und bisweilen auch arroganten Art als einer der unbeliebtesten Trainer der Zweiten Liga. Sowohl unter Schiedsrichtern, als auch im Kollegenkreis. Einerseits. Andererseits gehen die eigenen Spieler für ihren aneckenden Coach durchs Feuer. Wie kein Zweiter kann der Familienvater eine Wagenburgmentalität kreieren. Wir gegen die, wir gegen alle, wir nur für uns.
HSV: Walter kann Teamgeist entwickeln
Bestes Beispiel hierfür ist vor dem Spiel gegen Holstein Kiel ausgerechnet Holstein Kiel. 0:1 hatte der HSV in Kiel in der vergangenen Saison sechs Spieltage vor Schluss verloren – und war buchstäblich am Boden. Die Folge: Sechster Platz, sieben Punkte Rückstand auf den drittplatzierten FC St. Pauli, heftige Kritik von außen, noch heftigere Kritik von innen. Glaubt man den Protagonisten, dann war die Entlassung Walters nach der Kiel-Niederlage fast schon beschlossen.
Am Tag nach der Niederlage versammelte Walter die eigene Mannschaft im Volkspark und hielt eine seiner wichtigsten Reden als HSV-Trainer. Die Kernbotschaft: Jetzt erst recht! Walter und Co. gewannen alle ihre letzten fünf Saisonspiele, erreichten noch die Relegation und scheiterten erst in den Entscheidungsspielen denkbar knapp an Hertha BSC.
Zuckerbrot und Peitsche bei Walter
Walter hat das bismarcksche Prinzip Zuckerbrot und Peitsche perfektioniert. Als Bakery Jatta am Tag vor dem Spiel gegen Darmstadt 98 zur Abschlussbesprechung drei Minuten zu spät kam, machte der Trainer den Gambier vor versammelter Mannschaft rund – und kündigte mit funkelnden Augen an, dass Jatta im Spitzenspiel auf die Bank müsse. Wenig später nahm er seinen Lieblingsschüler wieder in den Arm, versicherte ihm, dass er doch immer unter ihm von Beginn spielen würde – nur eben nicht gegen Darmstadt.
Ähnliches hat auch Unfallverursacher Jean-Luc Dompé erfahren. Walter hat dem Franzosen sehr deutlich gemacht, was er vor allem von seiner Unfallflucht hielt. Am Wochenende darauf nahm der 47-Jährige den schwachen Flügelflitzer in Heidenheim dann nach dem Abpfiff in den Arm, knuddelte ihn lang und innig. „Das kommt bei mir von innen heraus, das kann ich nicht einfach nur so spielen“, sagte Walter. Eben Peitsche und Zuckerbrot.
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HSV-Trainer Tim Walter mit forschen Tönen
Auch nach dem 2:4 in Karlsruhe gab es den doppelten Walter. Hier den reumütigen Fußballlehrer, der das eigene Verhalten reflektierte und von einem Fehler sprach. „Ich habe mich entschuldigt bei meiner Mannschaft, und ich glaube, dass ich mir da keinen Gefallen getan habe“, sagte Walter kleinlaut. Dort aber auch wieder der angriffslustige Coach, der beim späteren Interview mit dem NDR auf die hämischen „Nie mehr Erste Liga“-Gesänge aus der Karlsruher Kurve mit einem kräftigen Auf-die-Brust-trommeln reagierte: „Die, die sagen ,HSV immer Zweite Liga’, die wissen nicht, dass wir nächstes Jahr in der Ersten Liga spielen.“
An diesen Worten wird sich Walter messen lassen müssen. Dabei sagen die einen, dass seine Mannschaft mit Ausnahme des Heimspiels gegen Nürnberg schon seit Wochen schlecht spiele. Und die anderen sagen, dass der HSV doch vor der Niederlage in Karlsruhe sechs Spiele in Folge nicht verloren hätte.
Und Walter? Sagt, dass ihm egal sei, was die einen und die anderen sagen. Er sagt nur eines: Der HSV steigt auf. Ob er auf der Bank sitzt oder nicht.