Hamburg. Der Club kämpft am Sonntag gegen Darmstadt auch um seine Anhänger – und mit der Stadt um Stehplätze und Alkoholverkauf.

Karl Grabow stapfte am Freitagvormittag mit seinen Flaggen durch den Regen. Der HSV-Fan, besser bekannt als „Kuddel“, war völlig durchnässt, als er vom Training der Profis im Volkspark kam. „Durch Regen und Wind“, sagte der Lüneburger, der bei fast jeder Trainingseinheit mit seiner HSV-Fahne und einem Koffer voller internationaler Flaggen dabei ist und dem offenbar wie so vielen HSV-Fans der Optimismus nicht zu nehmen ist. „Wir gewinnen am Sonntag 5:1“, rief „Kuddel“ den anderen Zuschauern zu, die sich unter einem Baum vor dem Schauer schützten.

„Durch Regen und Wind, durch Sturm und Schnee, HSV olé“, heißt es auch in einem der meistgesungenen Lieder der Ultraszene des HSV. Ein Lied, das man lange nicht gehört hat auf der Nordtribüne des Volksparkstadions. Wohl auch nicht am Sonntag im Heimspiel gegen Darmstadt 98 (13.30 Uhr/Sky und Liveticker auf Abendblatt.de). Trotz der Rückkehr der Fans in die Stadien bleiben die meisten Anhänger aus der aktiven Fanszene den Spielen fern.

HSV-Fans nach Derbyniederlage ernüchtert

Dabei wäre es durchaus interessant, wie die Ultras auf die jüngste 2:3-Niederlage im Stadtderby beim FC St. Pauli reagiert hätten. Die Antwort wird man nicht erfahren. Mit ziemlicher Sicherheit wäre die Reaktion nicht so trotzig ausgefallen wie bei Daueroptimist „Kuddel“.

Zu groß war die Ernüchterung nach der verdienten Derbyniederlage. Auch Trainer Tim Walter ist klar, dass er die Enttäuschung bei den Fans selbst mit einem Sieg gegen Darmstadt nicht vollständig ausmerzen kann. „Es ist nicht angenehm, ein Derby zu verlieren. Das tut weh. Es ist immer die Aufgabe, uns zu rehabilitieren. Aber um das Derby aufzuwiegen, brauchen wir noch das nächste Derby“, sagte der HSV-Coach am Freitag, eine Woche nach dem Stadtduell.

Wie zu hören war, herrschte in der Fanszene des HSV nach dem Spiel auf St. Pauli ein hoher Grad an Frustration und Resignation. Schon in einem offenen Brief hatten die Ultras vor der Saison klar gemacht, dass sie vor allem in den Derbys gegen St. Pauli und Werder Bremen eine mutigere Mannschaft sehen wollen als in den vergangenen zwei Spielzeiten. Mit einem Pyro-Empfang nach dem Pokalspiel in Braunschweig hatten einige Ultras den Spielern ihren Wunsch auch noch einmal eindringlich hinterlegt.

Fan-Interesse an Rückkehr ins HSV-Stadion begrenzt

Eine positiv gemeinte Aktion der Fans, die ihre Wirkung aber völlig verfehlte. Setzte sie die Profis sogar noch zusätzlich unter Druck? Auch darüber wurde beim HSV diskutiert.

Es ist eine spannende Zeit, in der sich der Club und seine Fanszene befinden. Das Interesse an der Rückkehr ins Stadion ist unter den aktuellen Umständen noch begrenzt. Trotz der Erhöhung auf 17.955 Zuschauer durch die Zulassung von Gästefans waren am Freitag noch knapp 1000 Karten im freien Verkauf erhältlich.

Eigentlich hatte der HSV darauf gehofft, schon gegen Darmstadt das Kontingent auf 25.000 erhöhen zu können, kassierte aber eine Absage. Selbst wenn das Gesundheitsamt diese Zahl für das darauffolgende Heimspiel erlaubt, ist es unwahrscheinlich, dass an einem Sonnabend um 20.30 Uhr gegen Sandhausen 25.000 Fans kommen.

HSV kämpft um Stehplätze und Alkoholverkauf

In seiner Etatplanung hatte der HSV mit einem Saisonschnitt von 30.000 kalkuliert. Wenn künftig nur noch Corona-Geimpfte und -Genesene ins Stadion dürfen, hält der HSV diese Zahl nach wie vor für realistisch. Nach Abendblatt-Informationen verhandelt der Club aktuell mit dem Gesundheitsamt darüber, zeitnah wieder Stehplatztickets zu verkaufen. Im nächsten Schritt wäre dann auch über Alkoholverkauf im Stadion zu diskutieren. Die vielen Regulierungen halten derzeit noch einige Fans davon ab, zu den Heimspielen zu kommen.

Nach einem Jahr ohne Zuschauer befindet sich die Fanszene im Wandel. Ob sie überhaupt wieder so wird wie früher, ist ungewiss. Herausgekommen ist beim bislang letzten Heimspiel gegen Dresden ein spielbezogener Support, der an Fußballspiele in England erinnerte. Der Dauergesang der Ultras – „durch Regen und Wind“ – hatte schon vor der Corona-Pandemie nicht allen Fans gefallen.

Gegen Darmstadt begann die HSV-Abwärtsspirale

Für den HSV geht es in den kommenden Wochen und Monaten aber auch im Dialog mit den Fans darum zu definieren, wofür der HSV künftig überhaupt stehen will. Das ständige Auf und Ab der Stimmung rund um den Club ist auch Trainer Tim Walter schon negativ aufgefallen. „Nach dem ersten Spieltag waren wir in der Champions League, nach der Niederlage im Derby sind wir gleich wieder Absteiger“, sagte Walter.

Das große Ab nach dem großen Auf begann vor zwei Jahren nach dem Derby am Millerntor im Heimspiel gegen Darmstadt. Der HSV hatte auf St. Pauli 4:0 gewonnen und anschließend gegen Darmstadt 45 Minuten begeistert. Nach der 2:0-Führung zur Halbzeit stand es am Ende 2:3 – und der HSV begann den sicher geglaubten Aufstieg zu verspielen.

Vom Aufstieg spricht derzeit kaum jemand im Volkspark, auch nicht bei den Fans. Trainer Walter will den Weg mit jungen Talenten fortsetzen. Gut möglich, dass Anssi Suhonen (20) am Sonntag das erste Mal von Beginn an spielen wird. Mit diesem Weg können sich auch die Fans identifizieren. Walter will mit den jungen Wilden am Sonntag daher vor allem eines: einen Sturm entfachen.