Hamburg. Das 106. Duell zwischen St. Pauli und HSV wird zum Comeback der Emotionen nach anderthalb Jahren Corona. Ein Stimmungsbericht.
Die Derbywoche vor dem 106. Pflichtspielduell zwischen dem FC St. Pauli und dem HSV begann in der Nacht vom Sonntag auf den Montag pünktlich um Mitternacht. Der HSV hatte ein paar Stunden zuvor 2:1 im DFB-Pokal gegen Eintracht Braunschweig gewonnen, als den zurückreisenden Hamburgern am Volksparkstadion sehr deutlich gemacht wurde, was dieser Pokalsieg im Vergleich zum bevorstehenden Derby an diesem Freitag (18.30 Uhr/Sky und im Liveticker bei abendblatt.de) bedeutet: nichts. Rund 250 Ultras empfingen die Mannschaft zur Geisterstunde und bildeten eine Pyro-Allee bis zum Stadion.
Als die ein wenig eingeschüchterten Profis dann aus dem Bus stiegen, übernahm einer der Capos, also einer der Ultra-Vorsänger, das Wort: „Glückwunsch zum Sieg! Aber das ist jetzt vorbei. Das Einzige, was wirklich zählt, ist das Derby“, soll der Anhänger den Spielern zugerufen haben. In diesem Sinne: Willkommen in Hamburg! It’s Derbytime!
HSV bei St. Pauli: Festtag für die Fans
Es ist bereits das siebte Zweitligaduell des HSV gegen den FC St. Pauli. Und nachdem in den vergangenen Tagen hier und da Stimmen aufkamen, die meinten, dass dieses Stadtduell in Liga zwei mittlerweile ein wenig an Reiz verloren hat, widerspricht nun Muchel energisch. „Derbytage sind Festtage“, sagt der Sänger der HSV-Band Abschlach. Der 36-Jährige gehört zu den glücklichen 700 HSV-Fans, die erstmals seit Beginn der Corona-Pandemie wieder in einen Gästeblock eines Auswärtsspiels dürfen.
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Am vergangenen Freitag saß Jan-Michel „Muchel“ Deutsch vor seinem Rechner – und drückte ab 10 Uhr immer wieder den „Neu laden“-Knopf. Nach mehreren gescheiterten Versuchen dann um 10.06 Uhr die glückliche Nachricht: „Vielen Dank für Ihren Auftrag!“ Wenige Sekunden später waren sämtliche 700 HSV-Tickets, die lediglich an Mitglieder ausgegeben wurden, verkauft. Muchels heiß ersehntes Ticket wurde per E-Mail zugesendet. „Ich war megafroh“, sagt Deutsch, der bis auf das letzte Derby am Millerntor (1:0 für St. Pauli), bei dem gar keine Zuschauer zugelassen waren, alle Zweitligaduelle des HSV gegen den Kiezclub live im Stadion verfolgt hat.
10.000 Fans sind beim Derby dabei
„Zu einem richtigen Derby gehören definitiv die Fans von beiden Clubs ins Stadion“, sagt auch Dorian. Der 46 Jahre alte St.-Pauli-Anhänger hat seit 35 Jahren eine Dauerkarte – und ist natürlich auch wieder mit seinen Jungs in Block 7, Reihe 8 auf der Haupttribüne. Das 106. (Pflichtspiel-)Stadtderby ist sein 20. St.-Pauli-HSV-Duell, das der Halstenbeker live vor Ort verfolgt.
Etwas mehr als 10.000 Zuschauer hat die Stadt Hamburg zugelassen. Wie die meisten seiner Freunde ist auch Dorian geimpft – und findet es gut, dass bei Erfüllung der 3-G-Regeln (geimpft, genesen oder getestet) nun endlich auch wieder Gästefans zugelassen werden. „Für die Stimmung im Stadion ist das wichtig“, sagt Dorian. „Außerdem wollen wir ja auch im Rückspiel im Volksparkstadion dabei sein.“
HSV: Große Nervosität vor dem Derby
Nach vier sieglosen Derbys in Serie ist besonders im HSV-Lager die Nervosität vor der Partie groß. Der Besuch der Ultras in der Nacht zum Montag war nicht der erste unmissverständliche Auftrag an die eigene Mannschaft. Bereits kurz vor Saisonbeginn waren auch schon 250 Ultras am Trainingsplatz, um die Mannschaft am Aufgang zum Stadion auf die Saison einzuschwören.
Die Botschaft, die trotz Corona-Abstand und Masken klar artikuliert wurde: Ein Aufstieg in die Bundesliga nach drei bitteren Jahren in der Zweiten Liga wäre wünschenswert. Aber der Derbysieg ist wichtiger. Er ist kein Wunsch, sondern ein Muss. „Sie haben zwar nur auf Deutsch gesprochen“, sagte HSV-Däne Mikkel Kaufmann im Abendblatt, „aber die Message habe ich durchaus verstanden.“
HSV-Ultras färben Treppe auf St. Pauli
Freunde der visualisierten Botschaft kamen auch in dieser Woche auf ihre Kosten, als HSV-Ultras die Davidstreppe am St.-Pauli-Hafenrand in Blau, Weiß und Schwarz angemalt haben. „Das alles ist doch das Salz in der Suppe bei Derbys“, sagt Moritz Freerks. Der 36 Jahre alte HSV-Fan darf sich mit Fug und Recht als waschechter Derby-Experte bezeichnen. Neben dem Hamburger Stadtduell hat der Nautiker im Havariekommando, der in Hamburg geboren ist, aber in Glückstadt wohnt, nahezu alle relevanten Derbys weltweit gesehen.
Freerks war beim Superclásico in Buenos Aires zwischen Boca Juniors und River Plate, er hat das altehrwürdige Old Firm zwischen den beiden Glasgow-Clubs Celtic und den Rangers besucht und war beim verhassten Belgrad-Duell zwischen Roter Stern und Partizan. Auch die heißen Derbys in Sofia (Lewski gegen ZSKA), Stockholm (AIK Solna gegen Djurgården), Kopenhagen (FC gegen Bröndby), Krakau (Wisla gegen Cracovia), Rotterdam (Feyenoord gegen Excelsior), Zürich (Grasshopper gegen FC), Wien (Rapid gegen Austria), Budapest (Ferencváros gegen Újpest) und in London (Arsenal gegen Chelsea) hat sich der HSV-Fan nicht entgehen lassen.
Derby ohne Fans ist kein Derby!
Die Rom-Reise mit seiner Frau, die in der Ewigen Stadt ihren 30. Geburtstag feiern wollte, hat der Derby-Junkie extra um eine Woche verschoben, um beim Spiel zwischen Lazio und AS im Stadion zu sein. Und eines war bei all diesen Derbys, die Freerks weltweit besucht hat, immer gleich: Ein Derby ohne Anhänger ist kein Derby! „Fußball ohne Fans ist wie ein Haus ohne Tür. Ohne die Fans findet man den Eingang beziehungsweise den Zugang zum Spiel nicht, und er ist sinnlos“, sagt der Familienvater, für den es essenziell ist, dass Anhänger beider Mannschaften im Stadion dabei sind.
Das sieht man beim Lokalrivalen glücklicherweise ganz genau so. Auch Björn Harwarth wird am Freitagabend im Stadion sein. Gegengerade, Stehplatzbereich. „Es macht doch den Reiz aus, wenn man sich im Stadion auch ein wenig beleidigen oder frotzeln kann“, sagt der Veranstaltungsmanager, den man in Hamburg vor allem als Kulturlotsen kennt.
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Harwarth hat seit 15 Jahren eine Dauerkarte – und freut sich am Freitag auf das Spiel, eine Birne-Helene danach auf dem Dom, das eine oder andere Bier im Knust und vor allem auf die HSV-Fans. „Nach vier Spielen ohne Niederlage ist die Angst vor dem Lokalrivalen nicht so groß. Der HSV und seine Fans sind herzlich willkommen beim FC St. Pauli, dem amtierenden Stadtmeister.“
St. Pauli vs. HSV: Das erwartet die Polizei
Derartige Frotzeleien wird man vor, während und nach dem Spiel rund um das Millerntor-Stadion wohl öfter hören. Bei der abschließenden Sicherheitsbesprechung mit der Polizei am Mittwoch waren allerdings alle Verantwortlichen zuversichtlich, dass es am Freitagabend auf dem Kiez friedlich bleibt. HSV-Anhänger dürfen sogar ihre Fanutensilien mit ins Millerntor nehmen. Und auch rund um das Stadion werden keine Ausschreitungen befürchtet.
Das hofft auch Farbod Saremi, der ebenfalls zu den 700 glücklichen HSV-Auswärtsfans am Millerntor gehört. Nach 45 bangen Sekunden hatte der 36-Jährige sein Ticket am vergangenen Freitag online gebucht. Der Poppenbüttler hat normalerweise eine Auswärtsdauerkarte, musste aber wie die restlichen 699 HSV-Fans mit Ticket bei der Verlosung auf Glück und Schnelligkeit hoffen.
Mit zehn Kumpels, mit denen Saremi normalerweise immer zum HSV geht, hatte er sich um Punkt 10 Uhr vor dem Laptop verabredet. Doch lediglich er und ein Freund haben es geschafft. „Für mich ist dieses Derby nach der langen Corona-Pause ohne Auswärtsfahrt doppelt und dreifach besonders“, sagt Saremi, der sich sicher ist, dass er und seine Mitstreiter die Farben des HSV auch am Millerntor würdig vertreten. „Wir sind zwar nur 700“, sagt er. „Aber wir werden Lärm für viele Tausend HSVer machen.“
So wollen sie spielen:
- FC St. Pauli: Vasilj – Zander, Ziereis, Medic, Paqarada – Smith – Becker, Benatelli – Kyereh – Burgstaller, Makienok.
- HSV: Heuer Fernandes – Gyamerah, David, Schonlau, Leibold – Meffert – Kinsombi, Dudziak– Wintzheimer, Glatzel, Kittel.