Hamburg. Der Sportvorstand des HSV spricht über alte Fehler, neue Strategien, Wege aus der Krise und Fußball-Übersättigung.

Jonas Boldt hat spannende Wochen hinter sich, als er am Mittwochmorgen zum Interviewtermin mit dem Hamburger Abendblatt erscheint. Seine Zukunft beim HSV ist geklärt, beim Zukunftstreffen der Bundesligisten saß er mit am Tisch – und die Zukunft des HSV gilt es tagtäglich zu planen. Ein guter Zeitpunkt, um mit dem Sportvorstand (38) über die Zukunft zu sprechen.

Herr Boldt, Wenn alles gut läuft, sind Sie im Mai 2021 zwei Jahre beim HSV. Wäre das ein Erfolg?

Jonas Boldt: Sie spielen sicher auf meine Worte bei meiner Vorstellung an.

Richtig. Sie sagten damals, wenn die zwei Jahre eintreffen, wäre das ein großer Erfolg.

Die Aussage war bezogen auf meine Vertragslaufzeit. Die hat sich ja jetzt verändert. Ich habe hier aus voller Überzeugung verlängert. Bezogen auf meine Aussage aus dem Mai 2019 ist das schon mal ein kleiner Teilerfolg.

Vor zwei Wochen haben Sie Ihren Vertrag vorzeitig bis 2023 verlängert. Es wurde Interesse von AS Rom nachgesagt. Was hat für einen Verbleib beim HSV gesprochen?

Es ist die gleiche Überzeugung, die ich vor eineinhalb Jahren hatte. Der HSV ist und bleibt eine spannende Aufgabe, bei der ich mich auch persönlich weiterentwickeln kann. Ich hatte bewusst nur für zwei Jahre unterschrieben, weil ich sehen wollte, ob es die Chance gibt, hier etwas zu entwickeln. Der HSV war ein Verein, der nahezu brachlag. Ich habe gemerkt, dass man etwas bewegen kann. Deswegen war klar, dass der Weg für mich hier noch nicht zu Ende ist.

Sie haben gesagt, dass Sie dabei einige Dinge aus dem Weg räumen müssen. Was genau?

Wir hatten und haben unglaublich viele Altlasten. In den vergangenen zehn Jahren hat einiges hier sportlich nicht funktioniert, das spiegelt sich auch in den Bilanzen wider. Bei so einem großen Verein sind die Strukturen nicht immer einfach und auch ein Stück weit langsam. Die müssen effizienter funktionieren. Wir haben in der vergangenen Saison dennoch wirtschaftlich gut gearbeitet. Nur geht das durch Corona leider unter.

Der Aufsichtsratsvorsitzende Marcell Jansen meinte, Sie wollen zusammen die „sportlich-strategische Gesamtentwicklung fortsetzen“. Wie sieht diese Strategie im Detail aus?

Ich stelle die Worte Entwicklung und Ambition in den Vordergrund. Es ist ein Teilerfolg, dass die Leute hier endlich alle an einem Strang ziehen, dass die politischen Spielchen aufhören und die Eitelkeiten zurückgeschraubt werden. Dazu gibt es operative Maßnahmen, die zu unserer Strategie gehören, wie günstiger einzukaufen und Werte zu schaffen.

Sie haben beim Trainerwechsel von Dieter Hecking zu Daniel Thioune gesagt, dass Sie verstärkt auf Entwicklung setzen wollen. Was hat sich durch diesen Richtungswechsel in der täglichen Arbeit beim HSV verändert?

Wir haben festgestellt, dass der Weg nur mit vermeintlich fertigen Spielern so nicht funktioniert hat. Das 1:5 gegen Sandhausen war das Ende eines Prozesses. Das hat wehgetan, weil in dem Spiel noch alles möglich gewesen wäre. Aber darum geht es jetzt nicht mehr. Es geht um die Entwicklung der Mannschaft. Aber auch um Entwicklung auf allen Ebenen. Dass Michael Mutzel als Sportdirektor jetzt eine stärkere Rolle einnimmt, liegt nicht daran, dass ich die Dinge nicht mehr machen will, sondern weil ich weiß, dass er operativ richtig gut ist. So wird bei mir Zeit und Energie für andere Aufgaben frei.

Sie haben mit Sven Ulreich, Simon Terodde und Toni Leistner Spieler geholt, die man nicht unbedingt in die Kategorie Entwicklung einordnet, sondern für die Zielrichtung Aufstieg sprechen. Widersprechen Sie?

Wenn man populistisch denkt, kann man das so sehen. Wenn man aber genau hinguckt, erkennt man, dass das nicht so ist. Insbesondere diese drei Spieler sind ein Sinnbild dafür, unseren jungen Spielern zu helfen und sich selbst auch weiterzuentwickeln, nie aufzugeben. Man sieht doch, welche Gier ein Simon Terodde mitbringt. Man sieht, wie Sven Ulreich seine Mitspieler coacht, genauso Toni Leistner. Und auch Klaus Gjasula, der mir viel zu negativ bewertet wird, hat zum Beispiel Amadou Onana in seinem ersten Zweitligaspiel gegen Düsseldorf super geführt.

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Aber aufsteigen wollen Sie schon, oder?

Auch wenn Sie etwas anderes hören wollen, werde ich nicht müde zu betonen, dass es uns um Entwicklung und Ambition geht.

Welcher Weg ist zielführender: möglichst schnell aufzusteigen, um in der TV-Tabelle zu klettern, oder mit einer klugen Einkaufspolitik Transfererlöse zu erzielen?

Natürlich helfen die TV-Gelder. Aber der HSV hat auch jahrelang gute TV-Gelder bekommen und sie nicht gut investiert. Es ist unsere Aufgabe, mit den Mitteln, die wir haben, gut zu arbeiten. Wir müssen unseren Weg gehen – durch gutes Scouting, gute Arbeit im Volkspark und gute Arbeit im Nachwuchs. Die ganze Diskussion, die jetzt geführt wird über das Papier der Zweitligisten zur TV-Geld-Verteilung und das Treffen in Frankfurt, sehe ich gelassen. Mir geht es darum, dass die Schere nicht weiter auseinandergeht. Aber wir sind auch im Sport, da sollte Leistung immer honoriert werden.

Sie haben den HSV bei dem Treffen mit 14 Bundesligisten als einzigen Zweitligisten vertreten. Gibt es Themen im deutschen Fußball, die Ihnen Sorgen machen?

Sorgen ist wieder so ein negativer Ansatz. Aber natürlich ist die gesamtgesellschaftliche Situation schwierig und man spürt eine Gefahr, dass viele Menschen sich vom Fußball entfremden. Es wird mittlerweile viel zu sehr über Business statt über Fußball gesprochen.

Haben Sie das Länderspiel in Spanien am Dienstagabend geguckt?

Nein.

Warum nicht?

Ich habe mich anderweitig im Sinne des HSV beschäftigt. Spanien gegen Deutschland ist ein Klassiker, aber wir können aus beiden Mannschaften aktuell niemanden für den HSV gewinnen.

Spüren Sie auch selbst eine Übersättigung?

Definitiv. Natürlich muss man die Frage stellen, ob eine Nations League sinnvoll ist. Meiner Meinung nach nicht. Immer nur mehr zu wollen und einen noch komplizierteren Modus zu entwickeln, hilft nicht. Ein Lokalderby elektrisiert mittlerweile mehr als Deutschland gegen xyz.

Es gab in der Corona-Krise viel Kritik am Fußballgeschäft. Sie sind Teil der DFL-Kommission Fußball. Was muss sich verändern?

Auch das ist mir wieder zu populistisch. Da sieht man, in welcher Neidgesellschaft wir leben. Wenn Firmen aus aller Welt sich bei uns und der DFL erkundigen, wie wir die Krise angegangen sind, und wenn man sieht, dass die 36 Vereine solidarischer waren als die 16 Bundesländer, dann geht mir das zu sehr unter.

Die Kritik war, dass viele Vereine in Existenznöte geraten sind, weil die Zahlung einer TV-Tranche gefährdet war.

Das ist doch normal. Wenn einem Restaurant die Kunden weglaufen und eingeplante Gelder ausbleiben, bekommt man eine Problematik. Eine Pandemie kann man in einer Planung gar nicht abbilden.

Für den HSV bleibt trotzdem die Frage, wie der Club perspektivisch wieder Kapital aufbaut. Wie stehen Sie zur Diskussion über Anteilsverkäufe oder eine neue Rechtsform?

Ich weiß, dass das hier in Hamburg ein prekäres Thema ist. Ich sage weder, dass wir uns komplett verkaufen müssen, noch bin ich der naive Fußball-Romantiker. Die Zeichen der Zeit sind anders. Es ist klar, dass wir ohne die Pandemie nicht in die Nöte geraten wären. Aber jetzt haben wir die Situation, und ich finde gut, dass diese Diskussion jetzt intensiver geführt wird. Dabei darf es nicht des Rätsels Lösung sein, dass es nur um Anteilsverkäufe geht. Wir haben das Glück, viele Möglichkeiten zu haben.

Welche meinen Sie?

Anteilsverkäufe sind die eine Möglichkeit. Die andere ist, selbst Werte zu kreieren und durch die sportliche Entwicklung mehr TV-Geld zu bekommen. Das versuchen wir mit geringeren Mitteln. Wenn wir perspektivisch erfolgreich sein wollen, müssen wir uns aber irgendwann Gedanken machen, was für Chancen weitere Anteilsverkäufe mit sich bringen könnten. Wir müssen offen diskutieren.

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Es gibt Fans, die die Sorge haben, dass sich ein Investor einkauft und den Club diktiert.

Ich kann die Bedenken verstehen. Es ist unsere Aufgabe, durch transparente Arbeit zu zeigen, dass wir auch mit geringeren Mitteln gut arbeiten können. Wir versuchen hier eine nachhaltige Strategie aufzubauen. Vielleicht hilft ein Stück mehr Kapital, um stabiler und erfolgreicher zu werden. Wir dürfen nur nicht von der Hand in den Mund leben. Und weil schon die ersten Fragen kommen, ob wir jetzt mit dem Rotstift durch den Nachwuchs gehen, kann ich sagen: Das wäre das falsche Signal.

Der HSV gibt jährlich acht Millionen Euro für den Nachwuchs aus. Können und wollen Sie sich das in Zukunft noch leisten?

Diese Zahl kommentiere ich nicht. Grundsätzlich gilt: Gute Unternehmen haben in Krisenzeiten investiert. Dass wir auf unserem Weg in den Nachwuchs investieren, ist klar. Wir müssen aber überlegen, ob die Ausbildungswege noch die richtigen sind, bei denen immer nur Wert auf Taktik und Technik gelegt wird. Vielleicht muss man wieder stärker die Persönlichkeitsentwicklung in den Vordergrund stellen.

Christian Rahn im Podcast zur HSV-Nachwuchsförderung:

Welche Rolle spielt Horst Hrubesch bei dieser Planung? Sein Vertrag läuft im Sommer schon wieder aus.

Horst Hrubesch spielt eine wichtige Rolle, und ich würde mich freuen, wenn er dem HSV länger erhalten bleibt. Die Klärung meiner Situation spielt dabei eine Rolle. Das liegt aber nicht daran, dass er mich so sympathisch findet, sondern weil wir gemeinsam einen Weg gehen wollen, von dem wir überzeugt sind. Das Gleiche gilt für Michael Mutzel und Claus Costa als Chefscout. Wir sind mit der aktuellen Konstellation im Sport gut aufgestellt, und das soll auch so bleiben.

Würden Sie sich über einen dritten Vorstand an Ihrer Seite freuen?

Die nächste typische HSV-Frage. Wenn es dem Club hilft, können wir auch fünf Vorstände haben. Entscheidend ist doch, dass jeder seiner Aufgabe gerecht wird. Momentan funktioniert es hervorragend in der Konstellation mit Frank Wettstein. Der dritte Vorstand ist ein mediales Thema.

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Ein mediales Thema war auch die Spekulation, ob Sie den Vorstandsvorsitz übernehmen. Könnten Sie sich das perspektivisch vorstellen?

Das ist eine Nebensächlichkeit, die in den Vertragsgesprächen nicht ansatzweise ein Thema war. Ich weiß um meine Stärken und die Dinge, die ich verbessern kann. Solange ich hier bin, werde ich immer ein starkes Wort und eine starke Meinung haben und mich bestmöglich in das Konstrukt einbringen.

Was wäre für Sie ein persönlicher Erfolg, wenn Sie den HSV irgendwann verlassen?

Ich halte nichts von Konjunktiven. Wer sagt denn, dass ich den HSV irgendwann verlasse?​