Hamburg. Der Torhüter entwickelte sich vom Sündenbock zum HSV-Hoffnungsträger. Warum sich das Bild des Ex-U-21-Europameisters gedreht hat.
Es ist ziemlich genau ein Jahr her, dass Julian Pollersbeck von Ralf Becker in dessen Büro gebeten wurde. Der HSV hatte gerade den sicher geglaubten Aufstieg in die Bundesliga verspielt. Als einen der Gründe machte der damalige Sportvorstand den Torhüter aus. Der Vorwurf: mangelnde Professionalität, falsche Berufsauffassung, fehlender Trainingseinsatz. Zusammenfassung: Pollersbeck könne weg. Das teilte der Manager dem 25-Jährigen auch ziemlich deutlich in jenem Vieraugengespräch mit.
Doch die Geschichte, das ist bekannt, sollte gänzlich anders verlaufen. Becker musste wenige Tage später selbst gehen. Pollersbeck dagegen blieb – auch dann noch, als Beckers Nachfolger Jonas Boldt mit Daniel Heuer Fernandes eine neue Nummer eins verpflichtete und der neue Trainer Dieter Hecking Pollersbeck zur Nummer drei degradierte.
Hecking honorierte Pollersbecks Eigeninitiative
Dass sich die Dinge im Fußball schnell ändern können, weiß man nicht erst seit der Geschichte um Ralf Becker und Julian Pollersbeck. Und trotzdem zeigt das neue Kapitel des Keepers mal wieder, dass es gerade beim HSV immer besonders schnell gehen kann mit Wendungen und Wandlungen. Wobei man an dieser Stelle hinzufügen muss, dass es ganze 393 Tage dauern sollte, ehe Pollersbeck plötzlich wieder zur Nummer eins wurde. Dabei sollte die Wandlung des Torhüters vom Sündenbock zum Hoffnungsträger schon früher beginnen.
Als die Transferperiode im vergangenen Sommer vorbei war und sich für Pollersbeck auch die letzte Wechseloption zerschlagen hatte, entschied sich der Torhüter dazu, mit dem Sportwissenschaftler Yannick Obenauer (49) zusammenzuarbeiten. Den Kontakt zu dem früheren Athletiktrainer von 1899 Hoffenheim stellte ihm seine neue Agentur um Berater-Schwergewicht Roger Wittmann her.
Pollersbeck und Obenauer arbeiten seitdem bis zu zweimal die Woche privat an seiner Fitness. Das hatte auch HSV-Trainer Hecking honoriert und dem 25-Jährigen schon in der Winterpause neue Perspektiven im Kampf um die Nummer eins eröffnet. Doch dann rissen dem Torhüter im Training die Bänder im Sprunggelenk.
"Bauernopfer" Heuer Fernandes fieberte mit
Mit fünf Monaten Verspätung hat sich Hecking nun doch noch dazu entschieden, sechs Spieltage vor Schluss im Tor eine Veränderung herbeizuführen. Es war eine Entscheidung, die zumindest zu diesem Zeitpunkt überraschte und nicht überall auf Verständnis stieß. Schon gar nicht bei Heuer Fernandes und dessen Umfeld.
Der 27-Jährige erfuhr genau wie Pollersbeck am Sonnabend davon, dass er nach den drei sieglosen Spielen nach der Saisonfortsetzung aus dem Kader für die Partie gegen Wehen Wiesbaden gestrichen werde. Heuer Fernandes hätte nach dem 2:3 in Stuttgart als Schuldiger herhalten müssen, heißt es. Ein Bauernopfer?
Heuer Fernandes hatte dem HSV in der Hinrunde einige Punkte gerettet. Trotzdem wurde immer wieder über seinen Status diskutiert. Was auch damit zu tun hatte, dass mit Pollersbeck der wohl talentiertere Torhüter nur auf der Tribüne saß. Dabei zeigte Heuer Fernandes die Professionalität, die man bei Pollersbeck vermisst hatte. Auch am Sonntag saß er vor dem Fernseher und fieberte mit seinem Torwartkollegen.
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Ex-Förderer Todt freut sich für Pollersbeck
270 Kilometer weiter saß in Potsdam auch Jens Todt am TV und freute sich am Ende, dass der HSV auch dank Pollersbeck mit 3:2 gewinnen und den möglichen Knock-out im Aufstiegsrennen abwenden konnte. "Ich verfolge den HSV sehr intensiv und bin noch ziemlich nah dran", sagte der ehemalige Sportdirektor des HSV, der vor zwei Jahren freigestellt wurde, im Abendblatt-Podcast "HSV – wir müssen reden" am Dienstag. "Ich habe noch große Sympathien für den Verein und hoffe, dass der HSV aufsteigt", so Todt.
Todt freute sich vor allem, dass Pollersbeck die Hamburger bei seinem Comeback mit zwei wichtigen Paraden im Spiel hielt. Vor drei Jahren hatte Todt den Torhüter selbst für 3,5 Millionen Euro vom 1. FC Kaiserslautern nach Hamburg geholt. Pollersbeck kam dann als frischgebackener U-21-Europameister zum HSV und patzte gleich in seinen ersten beiden Testspielen. Das Torhüterduell gegen Christian Mathenia hatte er somit schon früh verloren. Hinzu kamen Berichte im Boulevard über nächtliche Ausflüge. Der Ruf des Torwarttalents mit der fehlenden Berufseinstellung war schnell zementiert.
Torwarttrainer Rabe nahm Pollersbeck "in die Mangel"
Intern gab man ihm aber schnell eine neue Chance. "Ein junger Sportler darf auch mal einen Fehler machen. Für uns war das schnell erledigt", sagt Todt im Rückblick. "Polle hatte ein paar Anlaufschwierigkeiten beim HSV. Er hat eine harte Zeit gehabt und musste sich da rausbeißen. Das hat er jetzt getan."
Auch Todt hat aus der Ferne beobachtet, wie sich Pollersbeck im vergangenen Jahr gewandelt hat. "Er hat in dieser Zeit sehr hart gearbeitet. Ich weiß, dass er im Training in einer guten Verfassung war", sagt Todt. Sein Wissen bezieht der 50-Jährige vor allem von Kai Rabe, den Todt noch vom Karlsruher SC kennt.
"Kai Rabe ist ein Top-Torwarttrainer. Wenn der jemanden in die Mangel nimmt, kommt etwas Gutes dabei heraus", sagt Todt mit einem Lächeln über den 39-Jährigen, der seit einem Jahr die Torhüter des HSV betreut. Auch Rabe stellte in der Vorbereitung vor einem Jahr schnell fest, dass Pollersbeck die nötige Fitness fehlte. In den vergangenen Monaten hat er aber dazu beigetragen, Pollersbeck auf ein neues körperliches Niveau zu bringen. Dabei halfen nicht nur ein paar Tritte in den Hintern, sondern auch einige Yoga-Einheiten.
Pollersbeck hat starke mentale Fähigkeiten
Dass Pollersbeck gegen Wehen Wiesbaden kaum Probleme hatte, gleich wieder ein sicherer Rückhalt zu sein, wird intern auch dem intensiveren Torwarttraining zugeschrieben. Mental hat der Bayer ohnehin selten Probleme, dem Druck standzuhalten. Pollersbeck verfügt über die Fähigkeit, äußerliche Einflüsse auszublenden. Auch deshalb könnte er in den kommenden Spielen erneut ein wichtiger Faktor werden.
Der Torhüter ist in jedem Fall der Überzeugung, dass ihm seine Erfahrungen aus der vergangenen Saison helfen werden, als der HSV in den letzten fünf Spielen den Aufstieg verspielte. Zweimal war ihm das zuvor auch schon mit Kaiserslautern passiert. Im vierten Anlauf soll es nun für ihn persönlich klappen. Es wäre eine Geschichte, die man beim HSV so schnell nicht wieder vergessen würde.
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