Hamburg. Das 3:2 gegen Wehen war noch nicht der erhoffte Befreiungsschlag. Das wurde während der Partie, vor allem aber danach deutlich.

Dieter Hecking saß am frühen Pfingstmontag im Garten und las. Knapp 20 Stunden nach dem nervenaufreibenden 3:2-Sieg gegen Wehen Wiesbaden brauchte der HSV-Trainer ein wenig Zerstreuung. Hecking blätterte im aktuellen „Spiegel“-Magazin und blieb bei einer Mediengeschichte über die „Bild“, Chefredakteur Julian Reichelt und dessen Fehde mit Virologe Christian Drosten hängen. „Ein wirklich interessanter Artikel“, sagte Hecking anerkennend über die Geschichte mit der Überschrift „Der Boss und seine Boys“.

Eine ähnliche Überschrift (in einem natürlich komplett anderen Kontext) hätte auch zu den Geschehnissen vor, während und nach der Partie am Vortag zwischen Heckings HSV und Abstiegskandidat Wehen Wiesbaden gepasst. Die 93 Minuten im verwaisten Volkspark waren eine Achterbahnfahrt der Gefühle, die nur zweieinhalb Tage nach der traumatischen Last-Minute-Niederlage in Stuttgart (2:3) besonders am Nervenkostüm von Boss Hecking zehrten.

„Mir war von vornherein klar, dass das heute eine ganz schwere Geburt wird“, sagte der angefasste Trainer nach der Partie. „Wir mussten am Donnerstag eine der bittersten Niederlagen – auch für mich als Trainer – seit einer langen Zeit erleben. Und wie unsere Mannschaft nach so kurzer Zeit nun gegen Wehen Wiesbaden zurückgeschlagen hat, das zeigt mir, was für eine tolle Mannschaft der HSV hat.“

Hecking reagiert gereizt beim Thema Pollersbeck

Eine tolle Mannschaft, auf die Hecking an diesem Pfingstwochenende nichts kommen lassen wollte, die er nach dem mentalen Tiefschlag im Ländle zunächst aber gehörig durcheinandergewirbelt hatte. Der Trainer tauschte auf vier Positionen durch, wobei vor allem der Torwartwechsel von Julian Pollersbeck für Daniel Heuer-Fernandes gut und gerne in die Kategorie „extrem überraschend“ eingeordnet werden konnte. Umso mehr, weil Fernandes nicht mal auf der Bank Platz nehmen durfte und Pollersbeck direkt von der Tribüne von drei (vorbei auch an Ersatzkeeper Tom Mickel) auf eins durchstartete.

„Ein Torwart steht immer unter hohem mentalen Stress. Ich hatte den Eindruck, dass ich für dieses Spiel einen frischen Torhüter brauche“, erklärte Hecking nach dem Spiel in einer digitalen Zoom-Pressekonferenz, bei der er auf Nachfragen zur ungewohnten Torwartrochade gereizt reagierte. Auf die Frage, ob Pollersbeck nun vorerst im Tor bleibe, antwortete der Coach: „Wenn das eure wichtigste Frage ist, dann kann ich nur sagen: Für heute war das die richtige Aufstellung, und gegen Kiel gucken wir mal.“

Warum Hecking so verärgert war

Doch Heckings kurze Lunte hatte eine Vorgeschichte. Der verdiente (aber doch sehr glückliche) 3:2-Sieg gegen die aufopferungsvoll kämpfenden Wiesbadener war gerade erst ein paar Sekunden Geschichte, als er gemeinsam mit Sportchef Jonas Boldt und Pressesprecher Till Müller auf einen Interviewtermin mit Sky wartete.

Und während die erleichterten HSV-Protagonisten auf die Hecking-Schalte ins TV-Studio warten mussten, schauten sie sich das Sky-Interview mit Matchwinner David Kinsombi auf einem kleinen Monitor am Spielfeldrand an – und konnten nicht glauben, was sie da hörten. So musste der zweifache Torschütze, der erstmals nach fast sieben Monaten wieder von Beginn an spielen durfte, zunächst keine Fragen zum mutmaßlichen Befreiungsschlag und seinen Toren beantworten, sondern vor allem zum Torwartwechsel.

HSV-Trainer Dieter Hecking wusste, bei wem er sich zu bedanken hatte: Bei Matchwinner David Kinsombi.
HSV-Trainer Dieter Hecking wusste, bei wem er sich zu bedanken hatte: Bei Matchwinner David Kinsombi. © Witters

Als anschließend auch Hecking vom Sky-Reporter mit dieser Thematik gleich zu Beginn des Gesprächs konfrontiert wurde, platzte es aus dem emotionsgeladenen Trainer heraus. „Sie sind Außenstehender“, blaffte er den Fragesteller an. „Ich bin im internen Zirkel, und nur ich kann letztendlich beurteilen, wer im Tor zu stehen hat und wer nicht. Ich wusste, dass die Frage kommen wird. (…) Zu der Fragestellung fällt mir aber nichts ein.“

Hecking gibt Ärger über Sky zu

Am Morgen danach war das Kriegsbeil wieder begraben. „Was ich manchmal ein wenig vermisse, ist ein gewisses Gespür und ein Verständnis für die Situation und dem daraus resultierenden Druck, der auf manch einem lastet“, sagte der längst wieder tiefenentspannte Hecking – und gewährte einen Blick in sein Seelenleben.

„Natürlich können wir nach dem Spiel gegen Wiesbaden nicht von einer guten Leistung sprechen. Die große Leistung meiner Mannschaft aber war, dass sie den großen Willen gezeigt hat, dieses extrem schwierige Spiel zweimal zu drehen.“

Tatsächlich war die Erleichterung nach dem Schlusspfiff nur kurz zu spüren – „und dann kommen nur Fragen zum Torwartwechsel. Da muss ich zugeben: Das hat mich geärgert. Da habe ich das Gefühl als Trainer, dass ich meine Jungs ein bisschen schützen muss.“

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Leibold, Letschert und der Druck beim HSV

Wie angespannt manch einer seiner Jungs während des Spiels war, hatte Hecking selbst von der Seitenlinie aus verfolgen müssen. Beispiel Nummer eins: Timo Letschert. Der zuletzt formstärkste Hamburger legte das frühe Gegentor zum 0:1 förmlich auf, erholte sich davon nicht mehr und verschuldete dann auch noch den Strafstoß, der zum 2:2 führte.

„Timo war sehr niedergeschlagen am Donnerstagabend. Er wusste, dass er da im Zweikampf vor dem 2:3 nicht gut aussah. Und er hat sich dann selber sehr viel Schuld an der Niederlage gegeben“, sagte Hecking und erklärte: „Vielleicht hatte er dann heute nicht die mentale Frische, die er in den letzten Wochen hatte. Da war er der beständigste und beste Innenverteidiger bei uns.“

HSV erkämpft sich Heimsieg gegen Wiesbaden nach Rückstand

Torschützen unter sich: David Kinsombi (r.) und Joel Pohjanpalo haben mit ihren Toren das Spiel für den HSV gegen Wiesbaden gedreht.
Torschützen unter sich: David Kinsombi (r.) und Joel Pohjanpalo haben mit ihren Toren das Spiel für den HSV gegen Wiesbaden gedreht. © Witters
Klasse Schusshaltung: David Kinsombi bei seinem sehenswerten Ausgleichstreffer. Der Offensivmann avancierte mit einem Doppelpack beim 3:2-Heimsieg gegen Wiesbaden zum Matchwinner.
Klasse Schusshaltung: David Kinsombi bei seinem sehenswerten Ausgleichstreffer. Der Offensivmann avancierte mit einem Doppelpack beim 3:2-Heimsieg gegen Wiesbaden zum Matchwinner. © Witters
Kinsombis zweiter Streich: Das Siegtor gegen Kellerkind Wehen Wiesbaden.
Kinsombis zweiter Streich: Das Siegtor gegen Kellerkind Wehen Wiesbaden. © Witters
Julian Pollersbeck feierte sein Saisondebüt. Beim ersten Gegentor, einem Traumtor von Wiesbadens Torjäger Schäffler, war er machtlos.
Julian Pollersbeck feierte sein Saisondebüt. Beim ersten Gegentor, einem Traumtor von Wiesbadens Torjäger Schäffler, war er machtlos. © Witters
HSV-Verteidiger Timo Letschert (l., neben Wiesbadens Doppel-Torschütze Schäffler) erwischte einen gebrauchten Nachmittag: Der Niederländer verschuldete beide Gegentore.
HSV-Verteidiger Timo Letschert (l., neben Wiesbadens Doppel-Torschütze Schäffler) erwischte einen gebrauchten Nachmittag: Der Niederländer verschuldete beide Gegentore. © Witters
Letscherts Landsmann, HSV-Innenverteidiger Rick van Drongelen, wirkte wieder nicht sicher, war aber diesmal zumindest nicht an den Gegentoren beteiligt.
Letscherts Landsmann, HSV-Innenverteidiger Rick van Drongelen, wirkte wieder nicht sicher, war aber diesmal zumindest nicht an den Gegentoren beteiligt. © Witters
Wirbt Topscorer Sonny Kittel etwa um eine Teilnahme beim Maskenball?
Wirbt Topscorer Sonny Kittel etwa um eine Teilnahme beim Maskenball? © Witters
Der angeschlagene Jeremy Dudziak brachte nach seiner Einwechslung die Wende für den HSV. Seine wendigen Haken haben Bundesliganiveau.
Der angeschlagene Jeremy Dudziak brachte nach seiner Einwechslung die Wende für den HSV. Seine wendigen Haken haben Bundesliganiveau. © Witters
HSV-Kapitän Aaron Hunt war auf dem Platz nur durch Fouls zu stoppen.
HSV-Kapitän Aaron Hunt war auf dem Platz nur durch Fouls zu stoppen. © Witters
HSV-Trainer Dieter Hecking wusste, bei wem er sich zu bedanken hatte: Bei Matchwinner David Kinsombi.
HSV-Trainer Dieter Hecking wusste, bei wem er sich zu bedanken hatte: Bei Matchwinner David Kinsombi. © Witters
Youngster Josha Vagnoman versuchte es auch einmal mit einem strammen Distanzschuss.
Youngster Josha Vagnoman versuchte es auch einmal mit einem strammen Distanzschuss. © Witters
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Und Beispiel zwei: Tim Leibold. Der in dieser Spielzeit beste HSV-Spieler hatte mit einem Katastrophenpass um ein Haar eine Niederlage eingeleitet, die fast im Gegenzug im Sieg endete. „Die Spieler sind auch nur Menschen, das wird in der schnelllebigen Zeit heutzutage oft vergessen“, sagte Hecking am nächsten Morgen in seinem Garten. „Die Jungs machen sich selbst am meisten Druck.“

HSV kämpft sich ins Aufstiegsrennen zurück

Das Kunststück, den maximalen Druck nach der Pleite in Stuttgart auszuhalten, ist Boss Hecking und seinen HSV-Boys gerade so eben noch gelungen. Denn klar ist auch: Hätte der HSV auch gegen den Tabellenvorletzten verloren, wäre die Saison im Prinzip schon vorzeitig beendet gewesen. Nun hat der HSV acht Tage Zeit, sich vor dem so wichtigen Spiel gegen Holstein Kiel zu sammeln und zum Endspurt anzusetzen.

„Das war ein schweres Stück Arbeit und am Ende ein Erfolg der Moral“, sagte Sportvorstand Boldt, der seinen Kopf auch erst einmal mit einer Alsterrunde am Pfingstmontag durchlüften lassen musste. „Am Ende hat sich unsere Mannschaft diese drei Punkte verdient.“

Eine Meinung, der sich Hecking natürlich anschloss. „Ich bin überzeugt, dass wir unsere Ziele erreichen“, sagte der Coach, verabschiedete sich höflich – und widmete sich wieder dem „Spiegel“.

Das Restprogramm des HSV:

  • 30. Spieltag: Kiel (H), 8. Juni, Mo.
  • 31. Spieltag: Dresden (A), 12. Juni, Fr.
  • 32. Spieltag: Osnabrück (H), 16. Juni, Di.
  • 33. Spieltag: Heidenheim (A), 21. Juni, So.
  • 34. Spieltag: Sandhausen (H), 28. Juni, So.