Hamburg. Als 13-Jähriger flüchtete Javad Hosseini aus dem Iran, um Fußballer in Deutschland zu werden. Heute spielt er in der U19 des HSV.
Wahrscheinlich war Mario Götze schon nach ein paar Minuten klar, dass der Treffer sein Leben verändern würde. Das Siegtor zum 1:0 im Fußball-WM-Finale 2014 in Rio de Janeiro. André Schürrle sprintete auf der linken Seite, flankte in die Mitte, wo Götze den Ball mit der Brust annahm und ihn dann artistisch in Argentiniens Tor drosch. Ein Moment für die Ewigkeit. Doch Götze dürfte bis heute nicht klar sein, dass er mit seinem Kunstschuss nicht nur sein, sondern vor allem das Leben von Javad Hosseini für immer veränderte.
Ein Dienstagabend im Oktober 2019. Auf dem Kunstrasenfeld der Fußballhalle „Soccer in Hamburg“ an der Kieler Straße machen sich 15 Hobby-Fußballer warm. Zwischen 18 und 59 sind alle Altersklassen dabei. Ein paar Trikots vom HSV sind zu sehen, zweimal Kolumbien, einmal Gladbach und einmal Real Madrid.
Javad Hosseini flüchtete aus dem Iran, kam 2015 nach Hamburg
Der Besitzer des weißen Real-Trikots setzt beim Warmmachen zum Fallrückzieher an – und trifft den Ball sauber ins Toreck. „Wow“, sagt einer der älteren Kicker, der hier jeden Dienstagabend um den Turniersieg spielt. „Starkes Tor. Woher kommst du eigentlich?“
Das Gespräch auf dem Kunstrasen dauert maximal zwei Minuten. Er sei Afghane, in Pakistan geboren, komme als Flüchtling aber aus dem Iran, berichtet der Kunstschütze. 2014 sei er nach Deutschlands WM-Titel aus Teheran bis nach Hamburg geflüchtet, weil er im Land des Weltmeisters Fußballer werden wollte. Dann ist das Gespräch beendet – und das wöchentliche Fußballturnier beginnt.
Javad reiste als 13-Jähriger durch acht Länder, wurde verhaftet
Die kurze Geschichte, die Javad Hosseini erstmals beim Warmmachen in der stickigen Fußballhalle in Stellingen angerissen hat, ist in Wahrheit eine lange. Eine Geschichte von einer Reise durch acht Länder. Es geht um Schlepper, Prügel, gekenterte Flüchtlingsboote, Verhaftungen.
240 Tage dauerte die Reise, die vom Iran über die Türkei, Griechenland, den Balkan und Österreich bis nach Deutschland ging. Vor allem ist es die lange Geschichte von einem großen Traum – Javads Traum.
Javad wohnte mit der Familie in einem Vorort Teherans
Ein paar Wochen nach dem Fallrückzieher sitzt Javad Hosseini in dem Backshop „Brot und Brötchen“ nahe der U-Bahn-Haltestelle Berliner Tor. Er sieht gar nicht afghanisch oder iranisch aus, wirkt durch die schmalen Augen fernöstlich-asiatisch. In den Ohren blitzen Ohrringe. Die Haare an der Seite sind sauber abrasiert, oben ist die schwarze Tolle aber so lang, dass er sie beim Fußball stylisch zu einem Zlatan-Ibrahimovic-Zöpfchen binden kann.
Javad hat einen Milchkaffee bestellt, trinkt aber keinen Schluck. Der junge Mann mit dem Kapuzensweater und der Trainingshose, heute 18 Jahre alt, hat zugestimmt, seine ganze Geschichte zu erzählen. Es wird zehn Treffen geben. Beim Bäcker, in einer Pizzeria, bei Javad zu Hause, auf dem Fußballplatz, im Stadion, im Büro seiner Betreuerin und in der Kita, in der er seit Oktober arbeitet.
Javads Traum: Fußballer werden – aber nur in Deutschland
„Mein Traum war es immer, Profi in Europa zu werden“, sagt Javad, sein Deutsch ist sehr ordentlich. „Aber als Deutschland Weltmeister wurde, war mir klar, dass ich nur nach Deutschland wollte.“
Javads Geschichte beginnt also am 13. Juli 2014, dem Tag des WM-Finales. Er habe das Spiel zusammen mit seinem Vater Muhamed Ali und seinen Onkeln im Fernsehen geschaut. In Mosha, einem kleinen Ort 77 Kilometer östlich von Teheran entfernt.
Dort gebe es viele Afghanen, sagt Javad, die wie seine Eltern vor langer Zeit vor den Taliban geflohen seien. Die Taliban sind sunnitische Muslime, im Iran leben überwiegend Schiiten. Auch Javads Familie sind Schiiten der Volksgruppe Hazara, der drittgrößten ethnischen Gruppe in Afghanistan nach Paschtunen und Tadschiken. In Afghanistan wurden sie verfolgt, im Iran geduldet. „Aber auch im Iran ist man als Afghane am Ende immer nur der Afghane“, sagt Javad.
Viele Menschen im Iran träumen von einem neuen Leben in Europa
Tatsächlich haben nach UN-Angaben rund drei Millionen Afghanen Zuflucht im Iran gesucht. Nur ein Drittel der Menschen befindet sich legal im Land. Und nicht erst seit der aktuellen Krise träumen viele von ihnen von einem neuen Leben in Europa.
Auch Javad. Im Iran habe er sich nie willkommen gefühlt. Als Afghane durfte er nicht einmal in den regulären Fußballmannschaften mitspielen, behauptet er. Er habe immer nur in reinen Afghanen-Mannschaften spielen müssen. Sein großer Traum, eines Tages Fußballprofi zu werden, wäre im Iran unmöglich gewesen, sagt Javad.
Javads Vater organisierte einen Schlepper
Vor allem deshalb wollte er schon als Zwölfjähriger nach Europa, um hier Fußballer zu werden. „Aber meine Eltern erlaubten mir zunächst nicht loszugehen“, sagt Javad, und er klingt, als ob er über einen Ausflug in die Harburger Berge spricht. Doch nach dem WM-Finale habe es kein Halten mehr gegeben. „Als meine Mutter unsere Verwandten in einer anderen Stadt besuchte, überredete ich meinen Vater“, sagt Javad.
Papa Muhamed Ali wollte ein besseres Leben für seinen Sohn, willigte ein, organisierte einen Schlepper. Nur vier Tage nach dem WM-Finale und Götzes Tor. Er fuhr seinen Sohn zum Treffpunkt. Javad war 13.
Zwei Millionen Rial, durch die Inflation heutzutage gerade mal 42 Euro, sollte die erste Etappe der Flucht kosten. Aus dem Iran in die Türkei. „Ich hatte überhaupt keine Angst, weil ich nur an meinen Traum dachte“, sagt Javad. Weinen musste er dann aber doch. Als er sich nur am Telefon von seinen Geschwistern Fatima (heute 17) und Hamid (12) verabschiedete. Und von seiner Mutter Masuma, die ihn zur sofortigen Rückkehr überreden wollte.
Javad hatte nicht viel dabei, nicht mal ein Foto
Für Javad gab es kein Zurück mehr. In einem Peugeot wurden er und drei weitere Flüchtlinge (Mohamed, Reza und Musa) zunächst nach Täbris, dann nach Maku an der türkisch-iranischen Grenze gebracht. Javad hatte nicht viel dabei, ein bisschen Essen, etwas zu trinken und ein paar Klamotten. Nichts Persönliches, nicht mal ein Foto. Nur ein Blatt Papier mit einer Ayatul Kursi, einem Schutzvers aus der zweiten Sure des Korans. „Ich bin nicht strenggläubig, aber mein Onkel hatte mir diesen Vers gegeben, weil er mir Glück bringen sollte“, sagt Javad.
Das Glück brachte ihm am nächsten Abend zunächst einmal einen weiteren Schlepper, der ihn, Mohamed, Reza, Musa und noch weitere über die Berge bei Gürbulak in die Türkei leiten sollte. „Die Schlepper sagten uns, dass wir keinen Mucks machen dürfen.“ Die Grenzsoldaten waren nur ein paar Meter entfernt. Javad zeigt auf die andere Straßenseite der Kurt-Schumacher-Allee. „Ungefähr so weit weg. Mit Maschinenpistolen.“
Etwas mehr als ein Jahr bevor Kanzlerin Angela Merkel den berühmten Satz „Wir schaffen das“ in der Bundespressekonferenz am 31. August 2015 sagte, lag Javad in den Bergen zwischen der Türkei und dem Iran im Dreck und wartete, bis die Grenzsoldaten weit genug entfernt waren. „Irgendwann gab uns der Schleuser das Zeichen, dass wir weiterrobben sollten. Also robbten wir weiter.“
Der heute 18-Jähriger erinnert sich an jede Kleinigkeit
Javad lässt in seinen Erzählungen kein Detail aus, er erinnert sich an jede Kleinigkeit. An die Farbe seines Rucksacks (Grau), an den Geruch der Unterkunft, als sie es nach der Nacht endlich in die Türkei geschafft hatten („Es stank nach Urin“) und sein Gefühl, als er erstmals in der Türkei aufwachte („Ich fühlte mich alleine“).
Nach offiziellen Angaben lebten 2015 bereits 153.000 Personen mit iranischem Migrationshintergrund in Deutschland. Alleine in Hamburg waren 20.429 von ihnen gemeldet, was Hamburg nach London zur zweitgrößten iranischen Stadt Europas machte. Und Javad war „nur“ 3500 Kilometer davon entfernt.
Erzählungen von Prügelattacken und Hunger
Für heute ist es genug. Javad muss gleich zum Training. Er spielt seit vergangenem Sommer in der zweiten U-19-Mannschaft des HSV. „Ich muss pünktlich beim Training sein“, sagt er. Immer wieder werden seine Augen wässrig, wenn er von seiner Flucht berichtet. Wenn er von Prügelattacken erzählt, von Hunger und von immer mehr Geld, das die Schleuser plötzlich haben wollten. Jetzt will er erst einmal zum Fußball.
Ein paar Tage später. Diesmal sitzt Javad in der Hippster-Pizzeria „Heat“ in Altona. Er zeigt Fotos von seiner Flucht auf seinem Handy. Fotos von Mohamed, Reza und Musa, von Istanbul, Athen, Belgrad, Budapest, Wien und München.
Dann fängt er wieder an, chronologisch zu berichten. Mit zwölf Flüchtlingen im Minibus sei es zunächst weitergegangen. „Es war eng. Und es gab kein Fenster“, sagt Javad. Irgendwann seien sie in Istanbul angekommen.
Es muss ungefähr zu der Zeit gewesen sein, als Urlaubsfotos von Mario Götze in Deutschlands Zeitschriften zu sehen waren. Der WM-Held in kurzer Badehose mit seiner Freundin auf einer Yacht. „Erholungsurlaub auf Ibiza“, titelte die „Bunte“.
„Es war heiß, und es hat gestunken. Ich musste mich übergeben“
Erholen musste sich auch Javad. In Istanbul. Gemeinsam mit den anderen wurde er in eine Behausung ins Viertel Aksaray gebracht, wo mehr als 70 Flüchtlinge darauf warteten, dass der nächste Schleuser die Reise fortsetzt. „Es war heiß, und es hat gestunken. Ich musste mich übergeben“, sagt Javad.
In Altona füllt sich die Pizzeria. Javad bestellt einen Tee, den er diesmal auch tatsächlich trinkt. Nach ungefähr einer Woche, erzählt er, seien sie dann aus Istanbul wieder los, um ihr Glück an der türkisch-bulgarischen Grenze zu suchen. Nachts ging es über den Grenzfluss Mariza, ehe dieses Glück ein paar Stunden später an der Autobahn 4 aufgebraucht war.
Bulgarische Polizei entdeckte die Geflüchteten
Die bulgarische Polizei entdeckte die Gruppe. Den Schlepper, so behauptet es Javad, habe die Polizei „halb totgeschlagen“. Die Geflüchteten hätten sie mitgenommen, in eine Zelle gesteckt und am nächsten Tag zurück zum Fluss gebracht. Dort seien sie mit einem Boot wieder zurück auf die türkische Seite gebracht worden.
Die Organisation Human Rights Watch hat der bulgarischen Polizei schon mehrfach vorgeworfen, Geflüchtete geschlagen, ausgeraubt und sie dann zurück in die Türkei geschickt zu haben. 2015 reisten fast 30.000 Menschen illegal nach Bulgarien ein. Das bulgarische Innenministerium hat die Vorwürfe stets zurückgewiesen.
Der erste Versuch übers Meer war nach 15 Minuten vorbei
„Wir haben viele solcher Geschichten von anderen Flüchtlingen gehört“, sagt Javad und nippt an seinem Tee. „Deswegen war uns klar, dass wir einen anderen Weg finden mussten.“ Der Weg über das Mittelmeer hatte keinen guten Ruf – und war teuer. 2000 türkische Lira (rund 300 Euro) sollte ein kleines Boot pro Person kosten, 4000 Lira ein großes Boot. „Trotzdem haben wir uns nach ein paar Tagen entschieden, es über das Meer zu versuchen.“
Zwei Wochen später, als Mario Götze gerade mit den Bayern in die neue Bundesligasaison gegen Wolfsburg startete, folgte Mittelmeer-Versuch Nummer eins. „Mein Vater hatte einem Mittelsmann des Schleppers Geld gegeben, das dieser überweisen sollte, sobald wir mit dem Boot auf einer griechischen Insel angekommen wären“, erklärt Javad.
Was der Mittelsmann dem Vater allerdings nicht gesagt hatte: Vor Izmir an der türkischen Küste wartete ein Kleinboot, das für vielleicht zehn Personen ausgelegt war. Die Gruppe aber bestand aus fast 40 Menschen. „Die Kinder sollten sich in die Mitte setzen, dann die Frauen und wir Männer an den Rand“, sagt Javad. „Wir Männer“ – Javad war damals 13.
Das Boot fuhr los – und hatte nach einer Viertelstunde einen Motorschaden. „Wir mussten also zurück schwimmen. Mein Freund Mohamed konnte aber nicht schwimmen. Wir mussten ihn in die Mitte nehmen.“
Die Wellen waren riesig, es regnete
2:1 gewann Bayern München sein erstes Saisonspiel gegen den VfL Wolfsburg an dem Wochenende, Götze wurde nach 62 Minuten ausgewechselt.
Javad und seine Gefährten starteten eine Woche später einen zweiten Versuch. Diesmal mit einem schnelleren, kleineren, aber auch teureren Boot. „Auch diese Überfahrt war schwierig“, sagt Javad. „Die Wellen waren riesig, es regnete, und ich hatte Todesangst.“ Dem 18-Jährigen fällt das Reden nun schwer. „Ich dachte, dass ich jetzt sterben würde.“ Auch das Benzin neigte sich dem Ende entgegen, als sie von einem Polizeiboot entdeckt wurden. „Wir wussten zunächst nicht, ob es ein griechisches oder ein türkisches Boot war“, sagt Javad.
Doch diesmal hatte die Flüchtlingsgruppe Glück. Die griechische Polizei brachte die Geflüchteten auf eine kleine Insel und ließ sie registrieren. Mit einem größeren Sammelboot ging es zwei Tage später weiter nach Samos und knapp drei Wochen später auf das Festland in die griechische Kleinstadt Drama. „Spätestens jetzt war klar, dass ich nur noch nach vorne gucken konnte. Die Türkei hatte eine direkte Grenze zum Iran, da hätte ich theoretisch zurückgekonnt“, sagt Javad. „Ab Griechenland gab es nur noch ein Ziel.“
HSV-Flüchtling Bakery Jatta wird Javads großes Vorbild
Javads Ziel an diesem Nachmittag ist erneut Norderstedt. Der Nachwuchsfußballer des HSV hat für heute genug geredet. Insgesamt fünf Stunden und 45 Minuten lang werden die Bandaufnahmen von allen Gesprächen am Ende sein.
Das nächste Treffen ist am Nikolaustag. Der HSV spielt am Abend gegen Heidenheim – und Javad will zum ersten Mal in seinem Leben ein Fußballspiel im Stadion sehen. „Alles ist so groß, so unglaublich, so cool“, sagt er, als er auf der Tribüne im Volksparkstadion Platz nimmt. Der HSV spielt schlecht. Doch das ist Javad egal. Er will alles über Bakery Jatta wissen, von dem er vorher noch nie gehört hatte. Auch Jatta ist aus Gambia über das Mittelmeer geflüchtet – und hat jetzt einen Vertrag als Fußballprofi.
Von so einem Leben konnte Javad nur träumen, als er in Griechenland in einer Flüchtlingsunterkunft von den Behörden festgehalten wurde. Weihnachten 2014 und Silvester feiert er in Volos, ehe er im Januar doch die Erlaubnis bekommt, weiterzuziehen. Nach einem Zwischenstopp in Athen geht es mit dem Zug weiter bis zur Grenze zu Nordmazedonien, wo er erneut von der Polizei aufgegriffen wird.
Immer wieder wird Javad festgenommen
„Wir wussten genau, dass wir es über den Balkan bis nach Österreich schaffen müssen, um sicher zu sein“, sagt Javad. Das HSV-Spiel ist gerade zu Ende gegangen. 0:1 haben die Hamburger verloren, aber für Javad war es ein besonderer Abend. „Irgendwann will ich auch mal hier spielen“, sagt er.
Seine Fluchterinnerungen sind jetzt nicht mehr ganz so ausführlich wie zu Beginn. Die Polizei greift zu – und lässt wieder laufen. So sollte es noch häufiger passieren. Nordmazedonien, Serbien, dann mit dem Bus nach Belgrad. Weiter an die ungarische Grenze – und wieder die Polizei. Freigelassen, Budapest – und mit dem Zug nach Wien. „Im Zug hatten wir eine panische Angst, dass wir erneut aufgegriffen werden und zurück nach Ungarn müssen“, erzählt Javad.
Die Flüchtlingsgruppe teilt sich auf, versteckt sich zwischen den Sitzreihen und auf der Toilette. Doch relativ schnell wird klar, dass kein Schaffner die Ausweise kontrolliert. Es geht nur darum, ob man eine gültige Fahrkarte hat.
"In Wien mussten wir keine Angst mehr haben"
Es war Anfang März 2015, Götze und die Bayern waren mit elf Punkten Tabellenführer der Fußball-Bundesliga, als Javad wusste, dass er es geschafft hatte. „Wir waren in Wien, in der Mitte Europas. Hier mussten wir keine Angst mehr haben“, sagt Javad und lächelt. Der Rest der Reise ist schnell erzählt: Von Wien fahren er und seine Freunde mit dem Zug nach München, dann geht es mit dem Flixbus weiter nach Hamburg. Seine Mitstreiter wollen nach Skandinavien, aber er will in Deutschland bleiben, im Land des Weltmeisters.
Es ist kurz vor Weihnachten 2019, als Javad zu sich nach Hause einlädt. Ein Hochhaus am Berliner Tor, fünfter Stock. 15 kleine Wohnungen werden hier von der Pestalozzi-Stiftung unterhalten. Javads Wohnung besteht aus einem Raum, einem kleinen Tisch, zwei Stühlen, einem Mini-Bücherregal und einem Bett.
Die Ankunft in Hamburg – eine Erlösung
Auf dem kleinen Nachttisch liegen drei Autogrammkarten der HSV-Profis Aaron Hunt, Adrian Fein und Josha Vagnoman, dazu die Eintrittskarte vom Spiel gegen Heidenheim. „Ich mag es hier“, sagt Javad, der aus dem Fenster direkt auf die Erlöserkirche guckt.
Seine Erlösung, die Ankunft in Hamburg, wird sich am 14. März zum fünften Mal jähren. Javad spricht Deutsch, spielt beim HSV Fußball, hat durch Paragraf 25 ein Abschiebeverbot („Aufenthalt aus humanitären Gründen“) und darf sogar darauf hoffen, dass sein bisheriger Aufenthaltsstatus bald in einer Niederlassungserlaubnis, also einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis, mündet. Man könnte also sagen, dass Javads Geschichte an dieser Stelle zu Ende geht.
Doch sie fängt gerade erst an.
„Ich fühle mich wohl in Deutschland“, sagt Javad, obwohl er seine Familie im Iran seit seiner Flucht vor fünf Jahren nicht mehr gesehen hat. Mit seinem Vater, seiner Mutter und seinen Geschwistern hat er seitdem lediglich geskyped. Die aktuelle Lage im Iran mache ihm natürlich Sorgen, auch wenn seine Familie nicht in unmittelbarer Gefahr sei. „Mein großes Ziel bleibt es aber, Fußballprofi zu werden“, sagt er. „Wenn ich das nicht schaffe, bleibt mein Traum, in Deutschland leben zu dürfen.“
Sein Traum wirkt zum Greifen nah
Bis zu seinem Ziel ist es noch ein weiter Weg. Sein Traum wirkt dagegen zum Greifen nah. Wie nah er diesem Traum tatsächlich schon ist, wird in einer evangelischen Kita in Eimsbüttel sehr deutlich.
Ein Freitagmorgen im Dezember. Claudia Wagner öffnet die Tür zur Kita. Sie ist die Leiterin der Kindertagesstätte – und hat Javad als FSJ-Erzieher eingestellt. FSJ, das bedeutet Freiwilliges Soziales Jahr. Es ist ein Freiwilligendienst in sozialen Bereichen für Jugendliche und junge Erwachsene, die die Schulzeit bereits hinter sich haben. „Javad ist sehr zuverlässig. Man kann gar nicht besser integriert sein“, sagt sie. „Vor allem ist er extrem einfühlsam mit den Kindern.“
Javads FSJ dauert noch bis zum 30. September 2020
Es ist 8.30 Uhr, als sich sechs „Erdmännchen“ (Femma, Lucie, Paul, Pepe, Frederik und Ida) mit Erzieherin Anna und Javad im Bauwagen hinter der Kita zum Frühstück treffen. Paul (5) schiebt sich ein letztes Stückchen Brot in den Mund und sagt: „Mein Papa ist St.-Pauli-Fan.“ Javad lächelt und fragt: „Paul, bist du fertig?“
Als alle fertig sind, wird der Morgenkreis gebildet und ein Lied gesungen: „Ja, Gott hat alle Kinder lieb, jedes Kind in jedem Land“, singen die Kinder – und auch Javad. „Er kennt alle unsre Namen. Hält uns alle, alle in der Hand.“
Noch bis zum 30. September dieses Jahres läuft sein FSJ. „Wir hatten direkt vor Javad einen Flüchtling als FSJler, der hat es keine drei Wochen geschafft. Deswegen waren wir bei Javad zunächst ein wenig skeptisch“, sagt Leiterin Claudia Wagner. „Aber er hat alle Erwartungen übertroffen.“
Das kann man von Mario Götze derzeit nicht sagen. Der Held von 2014 spielt mittlerweile wieder bei Borussia Dortmund – muss den Verein am Saisonende allerdings verlassen. Der BVB soll dem Vernehmen nach nicht mehr bereit sein, Götzes Gehalt von rund zehn Millionen Euro zu bezahlen.
Trainer Christian Titz soll bei Javads Profikarriere helfen
Javad lächelt. Als FSJler verdient er 600 Euro im Monat, davon gehen 30 Euro Wohngeld ab. Trotzdem fühle er sich reich, sagt er. An diesem Gefühl dürfte sich auch nichts ändern, wenn er nicht Fußballprofi werden sollte.
„Ich weiß nicht, ob es wirklich zur großen Bundesligakarriere reicht. Aber ich bin mir sicher, dass er Profi in der Regionalliga und Dritten Liga werden kann“, sagt Jannik Paulat. Der Trainer der zweiten U-19-Mannschaft des HSV erinnert sich noch sehr gut an Javads erstes Training. „Ich habe gleich gemerkt, dass der Junge Potenzial hat. Und er ist so ehrgeizig. Den muss man eher stoppen. Der geht noch nach dem Training joggen.“
Im Sommer ist allerdings Schluss für Javad bei der U 19. Er ist dann zu alt. „Ich werde versuchen, ihm ein Probetraining zu verschaffen“, sagt Paulat, der einst bei Christian Titz hospitierte und noch immer guten Kontakt zu dem früheren HSV-Profitrainer hält. Titz könne helfen, sagt er.
Javad ist beeindruckt vom früheren Nationalspieler Piotr Trochowski
Es ist jetzt Mitte Januar, ein Donnerstagabend. In Kabine drei der Amateursport-Sportanlage Norderstedt ist der Trubel groß. Das erste Training der Rückrunde – und heute trainiert auch noch HSV III mit dem früheren Nationalspieler Piotr Trochowski auf dem gleichen Platz. „Der war sogar bei der WM 2010 dabei“, sagt Javad beeindruckt.
Und als er hört, dass der gebürtige Pole Trochowski sogar mal abgeschoben werden sollte, seine Schulklasse das aber durch eine Demonstration auf dem Rathausmarkt verhindert hat, ist er noch mehr beeindruckt. „Der war sechs Jahre beim HSV, war bei den Bayern, in Sevilla, bei der WM. Der hat wirklich alles geschafft“, sagt Javad. Und er sei sogar so ein ähnlicher Spielertyp wie Mario Götze.
Die Geschichte von Javad ist noch lange nicht zu Ende
Über den WM-Star von 2014 gibt es mittlerweile einen Film. „Being Mario Götze“ heißt die Doku. Es geht um das Tor, um die Bayern, um Dortmund. Um den großen Hype und den tiefen Fall. Und am Ende dieses Streifens sagt Götze, dass der Film fast so etwas wie eine Therapie für ihn gewesen sein könnte. „Ich finde es interessant, sich auch Zeit zu nehmen für sich und die Dinge so zu beschreiben“, sagt er. „Dadurch, dass ich es dann auch sehen kann, kann ich mich auch besser kennenlernen.“
Javad hat den Film nicht gesehen. Aber er weiß trotzdem, was Götze meint. „Es tut gut“, sagt er, „wenn man sich auch mal für seine eigene Geschichte Zeit nimmt.“ Eine Geschichte, die mit Götzes Tor anfing – und die noch lange nicht zu Ende sein soll.