Regensburg/Hamburg. Der unbekannteste Trainer hat den bewegendsten Lebenslauf. Mersad Selimbegovic über Krieg, Flucht, Fußball und Bakery Jatta.
Als Mersad Selimbegovics Welt untergeht, scheint die Sonne. Es ist ein warmer Junitag in Rogatica, einst Jugoslawien, heute eine Kleinstadt im Osten Bosnien-Herzegowinas. Mersad ist zehn Jahre alt und tobt draußen mit seinem drei Jahre jüngeren Bruder Mirza. „Wir waren in unser Spiel vertieft, als wir auf einmal Schüsse hörten“, erzählt Selimbegovic. „Frauen schrien, alle waren verzweifelt.“
Der heute 37-Jährige macht nach jedem Satz eine kurze Pause. „Eigentlich hatten wir alles für diesen Moment vorbereitet. Jeder hatte einen Rucksack mit dem Nötigsten gepackt. Ein paar T-Shirts, Unterhosen und ähnliches. Doch in dem Moment, als die Schießereien und der Krieg tatsächlich losgingen, wusste keiner mehr, wo er seinen Rucksack hatte.“ Selimbegovic spricht weiter langsam, aber bestimmt. „Auf den Krieg kannst du dich nicht vorbereiten“, sagt er. „Irgendeiner rief: Lauft, so schnell ihr nur könnt! Und dann sind wir gelaufen.“
Mersad Selimbegovic – ein Gespräch über sein Leben
Es ist mittags im Hier und Jetzt, 12.30 Uhr, trainingsfrei. Mersad Selimbegovic, seit dieser Saison Cheftrainer des SSV Jahn Regensburg, ist zu Hause am Telefon. Seine beiden Söhne seien in der Schule, der Fußballlehrer, der an diesem Sonnabend (13 Uhr/Sky) auf den HSV trifft, will das verabredete Gespräch mit dem Abendblatt in Ruhe führen. Das Gespräch über sein Leben, den Krieg, die Flucht. „Wenn wir über diesen Teil meines Lebens sprechen, wenn ich Ihnen beschreiben soll, was wir damals erlebt haben“, sagt er, „brauche ich Zeit.“
Seit drei Monaten ist Selimbegovic Zweitligatrainer, wahrscheinlich der unbekannteste. Das überrascht, denn seine Geschichte ist grausam, verstörend und Mut machend zugleich. „Der Krieg macht etwas mit den Menschen“, sagt er.
100.000 Tote im Krieg um das ehemalige Jugoslawien
Der Krieg, von dem Selimbegovic so detailliert spricht, ist der Jugoslawien-Krieg. Allein im heutigen Bosnien-Herzegowina, Selimgbegovics alter Heimat, kamen zwischen 1992 und 1995 laut einer offiziellen Untersuchung rund 100.000 Menschen ums Leben. 16.662 Menschen werden bis heute vermisst.
„Als 1991 der Krieg in Kroatien ausbrach, fühlte sich das alles weit weg an. Auch, als wir Ende 1991 plötzlich keinen Strom mehr hatten, glaubte niemand daran, dass der Krieg auch zu uns kommen könnte“, sagt Selimbegovic. „Meine Eltern und unsere Nachbarn haben nicht damit gerechnet, dass es auch bei uns ernst werden würde.“ Er macht eine kurze Pause, sagt dann: „Als Kind fragt man sich, warum der Fernseher und alles andere nicht mehr geht, aber irgendwann geht man eben raus zum Spielen.“
"Da war man kein Kind mehr"
Mersad Selimbegovic ist in Rogatica geboren. Als er drei Jahre alt war, zogen er und seine Familie auf einen Bauernhof seines Opas, ein paar Kilometer außerhalb der Kleinstadt in Ostbosnien. „Ich hatte eine glückliche Kindheit“, sagt Selimbegovic. „Es war total idyllisch.“ Die Flüsse Rakitnica und Bereg fließen durch die Ortschaft – „und überall ist Grün.“
Doch die glückliche Kindheit endete mit dem Krieg. „Bei mir teilt sich mein Leben in die Zeit vor dem Krieg, nach dem Krieg und während des Krieges.“
Und die Zeit während des Krieges begann für ihn im Juni 1992. „Als es dann wirklich losging, war man plötzlich kein Kind mehr. Es ging nur um das Überleben“, sagt Selimbegovic. „Das versteht man dann auch als Zehnjähriger.“
Zu trinken gab es Regenwasser
Was in den ersten drei Tagen und Nächten folgte, ist mit Worten kaum zu beschreiben. Selimbegovic versucht es trotzdem: „Wir sind in den Wald gelaufen, weil wir hofften, dass uns da keiner erwischt.“ Zwölf Menschen; die Brüder Mersad und Mirza, ihre Eltern, ein paar Nachbarn. „Zusammen sind wir orientierungslos umhergelaufen. Und natürlich hatten wir Angst.“ Es gab nichts zu essen, getrunken wurde das Regenwasser.
Aber am schlimmsten waren die Geräusche. „Wir hörten in regelmäßigen Abständen die Granaten einschlagen. Das war immer das Gleiche: Flach auf den Boden legen, Gesicht in den Dreck. Zehn Minuten. Dann war der Granatenhagel vorbei. Weiter laufen. Ein, zwei Stunden. Wieder von vorne: Hinlegen, Gesicht in den Dreck, Granaten.“
Selimbegovics Söhne Faris (11) und Benjamin (8) sind heute fast genauso alt wie er und sein Bruder damals. „Der Krieg ist immer wieder ein Thema bei uns“, sagt Papa Mersad. „Nach und nach wollen sie immer mehr von früher wissen“, sagt er. „Ich sage den Jungs dann, dass sie vor allem verstehen müssen, wie gut sie es haben.“ Selimbegovic lacht. „Ihre größte Sorge ist, ob sie das neueste I-Phone haben dürfen. Das ist ja auch normal. Meine Sorgen waren andere.“
Auf der Flucht
Seine Sorge war zu überleben. „Irgendwann hatten wir auch noch Leute hinter uns. Patrouillen. Man hörte Schüsse, dann wurde gerannt. Am Ende müssen wir Gott danken, dass unsere Kleingruppe von zwölf Leuten das alles überstanden hat. Wir dachten nicht, dass wir wirklich überleben werden.“
Die Gruppe hatte Glück. „Oft haben wir andere Kleingruppen im Wald getroffen. Es ging dann immer um die Frage: Welcher Weg könnte besser sein? Wir wollten in Richtung Sarajevo, andere wollten nach Srebrenica.“
Der Ort Srebrenica ist heute ein Synonym für die Schrecken des Krieges. Das „Massaker von Srebrenica“ ist längst als Kriegsverbrechen in die Geschichte eingegangen. Allein im Juli 1995 wurden an der heutigen Grenze zu Serbien mehr als 8000 Bosniaken ermordet.
„Wir hatten Glück im Unglück“, sagt Selimbegovic. Seine Familie floh zunächst nach Goražde, eine Kleinstadt 50 Kilometer südöstlich von Sarajevo. Dort blieben die Selimbegovics zunächst zwei Monate in einem Flüchtlingslager, ehe ihnen eine kleine Wohnung in der Nähe eines Krankenhauses zugewiesen wurde. „Das Krankenhaus war täglich unter Granatenbeschuss“, sagt Regensburgs Trainer. „Wir haben mehr im Keller als in der Wohnung gelebt.“
Flüchtlinge in früheren Olympia-Hotels
So konnte es nicht weitergehen. Selimbegovics Vater entschied, dass sich die Familie einem Flüchtlingskonvoi anschließen müsse. „Aber Männer durften nicht mit“, erzählt Selimbegovic. „Mein Bruder war zu klein, der hat das noch nicht kapiert. Aber ich habe geheult wie ein Baby. Ich wollte auf keinen Fall ohne meinen Vater gehen.“ Die Worte werden langsamer. „Ich hatte Angst, ihn nie wiederzusehen.“
Ohne den Vater ging es 18 Stunden lang zu Fuß weiter. Ins Gebirge von Bjelašnica, zum Berg Igman. 1984 fanden hier die olympischen Winterspiele statt. Neun Jahre später wurden in den schicken Hotels von einst Flüchtlinge untergebracht. „Von dort wollten wir nach Sarajevo, aber wir wussten ja gar nicht, was in Sarajevo los war.“
Das Stadtzentrum und die Altstadt wurden vom 5. April 1992 an 1425 Tage lang von der bosnisch-serbischen Armee belagert. Den Kämpfen in der Stadt fielen nach Angaben der heutigen Regierung Bosnien-Herzegowinas 10.615 Menschen aller Volksgruppen zum Opfer.
Freudentränen mit dem Vater
Selimbegovic atmet tief durch. „Es gab ja kein Internet, kein Smartphone, auf das man mal schnell gucken konnte. Irgendwann haben wir aber doch mitbekommen, wie es um Sarajevo aussieht. Dann haben wir unsere Pläne geändert und sind in Richtung Südbosnien weitergelaufen. Meine Mutter hatte dort eine Tante, die wir suchen wollten.“
Zwei Tage später kam die Familie in Brđani an. „Ich dachte, ich bin in einer anderen Welt“, sagt Selimbegovic. „Es gab Strom, es gab Fernsehen. Aber vor allem war der Krieg dort nicht mehr. Die Frontlinie war weit entfernt.“ Dem Vater wurde per Brief mitgeteilt, wo man nun sei. Es gab kein WhatsApp. „Als dann ein paar Monate später mein Vater tatsächlich vor der Tür stand, habe ich zwei Stunden lang nur noch geweint“, erinnert sich Selimbegovic. „Vor Freude.“
Die Geschichte Selimbegovics klingt wie eine Erzählung aus dem Ersten oder Zweiten Weltkrieg. 70 Jahre oder länger vergangen. Doch das Geschehene ist gerade einmal ein Vierteljahrhundert her.
Fall Jatta: "Mit Flüchtlingen werden Ängste und Hass geschürt"
„Ich habe durch meine eigene Biografie eine andere Sicht auf die Flüchtlingsdebatte“, sagt Selimbegovic. Die aufgeheizte Stimmung, Menschen, die das Leid der Flüchtenden für ihre eigenen Zwecke nutzen, der Hass, all das macht den Fußballtrainer traurig. Und nachdenklich. „Es wurden und werden Ängste geschürt“, sagt er. Wirklich enttäuscht ist Selimbegovic, wenn er an die Debatten in seiner Heimat denkt. „Ich habe kein Verständnis dafür, dass in meiner Heimat, in Bosnien, Flüchtlinge so schlecht behandelt werden. Die Erinnerungen an die eigene Flucht sollten doch eigentlich noch frisch sein.“
Und weil auch seine Erinnerungen so präsent sind, kann Selimbegovic auch die Debatte um HSV-Profi Bakery Jatta nicht nachvollziehen. Um den Flüchtling aus Gambia, der zum Fußballprofi wurde. Und dessen Lebensgeschichte nun massiv angezweifelt wird. „Der Junge hat so viel mitgemacht. Und nun nehmen manche in Kauf, ihn zu zerstören. Warum machen Menschen so etwas?“
Dass Jahn Regensburg nach der erneuten Berichterstattung über Jatta und den öffentlichen Zweifeln an dessen Identität einen Protest in Erwägung ziehen würde, war und ist für Selimbegovic und für Regensburgs Geschäftsführer Christian Keller undenkbar.
Er sagte dem Abendblatt: "Zum einen ist es nach unserem Verständnis ganz sachlich betrachtet so, dass Bakery Jatta Spielrecht hat und deshalb vom Hamburger SV nach freiem Ermessen eingesetzt werden kann. Für den SSV Jahn kommt es daher überhaupt nicht in Frage, den Ausgang eines Spiels anzufechten, weil Bakery Jatta dabei mitgewirkt hat. Derartige Überlegungen haben aus unserer Sicht nichts mit sportlicher Integrität und Fairplay zu tun." Keller ergänzte: "Zum Zweiten ist in dieser Sache aber noch viel wichtiger zu bedenken, was die aktuelle Situation mit dem Spieler als Mensch macht. Es gilt für jeden, auch für Bakery Jatta, die Unschuldsvermutung und solange nichts Gegenteiliges bewiesen ist, gibt es an den Angaben des Spielers absolut nichts zu rütteln."
Auch Selimbegovic ist klar: „Wenn der HSV mit einem Spieler antritt, der über eine Spielberechtigung verfügt, und Jatta ist spielberechtigt, werden wir nie auf die Idee kommen, Protest einzulegen. Das wäre einfach falsch.“
Die Liebe verschlug Selimbegovic nach Regensburg
Eine gute Stunde, die sich wie ein ganzer Tag anfühlt, ist um. Selimbegovic pustet einmal durch. „Am liebsten erinnere ich mich daran zurück, wie es vor dem Krieg war“, sagt er. „Als mein Bruder und ich mit meinen Cousins in den dreimonatigen Sommerferien zu unseren Großeltern gefahren sind. Da waren wir dann sechs Jungs. Da war was los.“
Selimbegovic hat Glück gehabt. Nach dem Krieg zog die Familie tatsächlich nach Sarajevo, er wurde Fußballprofi, verliebte sich in Aldiana, die in Passau wohnte. Selimbegovic suchte einen Club in der Nähe, fand den SSV Jahn und zog 2006 nach Regensburg. Hier war er Fußballer, wurde Nachwuchscoach, Co-Trainer, Cheftrainer, Profitrainer. „Fußball prägt mein Leben“, sagt Selimbegovic. „Der Fußball hat mir auch dabei geholfen, den Krieg zu verarbeiten.“
An diesem Sonnabend ist nun der HSV zu Gast. Es geht um viel, um drei Punkte. Für die einen geht es darum, oben dabei zu bleiben. Für die anderen, nicht zu tief unten reinzurutschen. Nur um eines geht es in den 90 Minuten nicht: „Es ist Fußball“, sagt Selimbegovic. „Es geht nicht um Leben und Tod.“