Hamburg. Dreierkette, Viererkette, Spielidee – HSV-Nachwuchs-Chef Bernhard Peters über Fußball-Trends, Jugendspieler und Training im Zorn.
Wenn an diesem Donnerstag (19.30 Uhr) in Aspach die deutsche U19-Auswahl gegen Portugal ihr zweite EM-Spiel austrägt, hält sich HSV-Nachwuchschef Bernhard Peters in Schneverdingen auf. Im Trainingslager des HSV II kümmert sich der 56-Jährige um die neue U21 des Vereins, während in Baden-Württemberg die besten deutschen Talente um den EM-Titel spielen. Zuvor nahm sich Peters, seit 2014 beim HSV, Zeit für ein Gespräch über den Zwischenstand seiner Arbeit in Hamburg.
Hamburger Abendblatt: Herr Peters, die U19-EM findet ohne Spieler des HSV statt. Sagt das etwas aus über die Nachwuchsarbeit des Vereins?
Bernhard Peters: Es sagt etwas aus über die Ressourcen der Clubs. Der Unterschied zu Wolfsburg, Bayer Leverkusen oder RB Leipzig, die Spieler stellen, liegt nicht in der Ausbildung, sondern in der Tatsache, dass diese Clubs mit einem sehr klugen Scouting früh junge Toptalente in ihre Mannschaften dazuholen. Wir beim HSV machen mittlerweile eine sehr gute Ausbildungsarbeit, aber wir haben nicht die gleichen Ressourcen, um in diesem Maße Toptalente zwischen 15 und 17 zu verpflichten.
Der HSV muss also noch mehr in Nachwuchsspieler investieren?
Da sind wir dran. Dietmar Beiersdorfer, Dieter Gudel und ich sind einer Meinung, dass wir den nächsten Schritt machen müssen. Allgemein aber gilt: Natürlich sind DFB-Auswahlspieler im Nachwuchs eine wichtige Währung. Aber sie ist nicht die Entscheidende.
Was ist für Sie entscheidend?
Die entscheidende Währung ist die Erhöhung der Durchlässigkeitsquoten von der U17 in die U19 und von der U19 über die U21 zu den Profis. Für uns ist es daher enorm wichtig, dass wir als älteste Ausbildungsmannschaft die U21 haben, um den Übergang qualifiziert zu gestalten.
Ist die neue U21 mit Dirk Kunert als Trainer das Puzzleteil, das Ihnen noch fehlte?
Dirk ist ein wichtiger Mann, um unseren stark verjüngten Kader den nächsten Schritt zu vermitteln. Wir haben mittlerweile viele richtig gute Mitstreiter, das Gerüst im HSV wird stabiler. Es fehlen aber noch mehrere Puzzleteile, das bleibt immer ein Prozess.
Der HSV-Nachwuchs ist also noch nicht so aufgestellt, wie es Ihnen vorschwebt?
Dafür müssen wir noch an etlichen Schrauben weiterdrehen. Wir haben aber in jedem Fall eine klare Systematik ab dem Grundlagenbereich von der U11 an, die unsere jüngste Mannschaft ist. Die Kinderperspektivteams unter der U11 werden bereits sehr gut angenommen. Wir wollen auch zukünftig intensiv durch Fortbildungen in diesem Bereich mit den Hamburger Vereinen zusammenarbeiten. Wir wollen zudem bis zur U15 eine so starke Auswahl an Jungs aus dem Norden zusammen haben, dass wir mit vielen Übergängen bis zur U19 und U21 planen können. Das Niveau muss sich kontinuierlich steigern, damit wir als HSV für bundesweite Top-Talente ab der U16 interessant sind.
Labbadia und der HSV präsentieren sich jetzt schon topfit
Verfolgen Sie dabei eine einheitliche Spielidee?
Natürlich. Wir denken weniger in Spielsystemen als mehr in Spielprinzipien mit dem Ball und gegen den Ball. Das ist nichts Revolutionäres, aber wir haben eine klare Rahmung dieser Prinzipien, was die Aufgaben im Spielaufbau sind, was die taktischen Aufgaben im Spiel durchs Zentrum sind, im Flügelspiel, in der Seitenverlagerung, im schnellen Umschaltspiel. Wir trainieren sehr viel im kognitiven Bereich. Es geht um Wahrnehmung und Entscheidungen in der Handlungsschnelligkeit, um schnell und variabel Situationen erfolgsstabil zu lösen. Unsere Trainer müssen eine Kreativität und Eigenkompetenz entwickeln, um sehr eng aus der Analyse des Spiels heraus zu trainieren und die entsprechenden Spielformen zu entwickeln. Die besten Übungen schreibt das Spiel. Das ist die Überschrift. Da sind wir auf einem guten Weg.
Sie halten nicht viel von einheitlichen Systemen?
Die Zahlenspielerei der Medien über Systeme, wie gerade wieder bei der EM gehört, ist in meinen Augen nicht mehr die Gegenwart. Ob nun 4-1-4-1 oder andere Nuancen, darüber zu diskutieren, wirkt für mich überholt. Die guten Trainer von heute denken doch gar nicht mehr so. Es geht nicht mehr um Positionsbindung, sondern um eine Variabilität im erfolgreichen Handeln in den Spielräumen. Natürlich brauchst du bei gegnerischem Ballbesitz eine klare Grundordnung, aber im eigenen Ballbesitz geht es um flexibles schnelles Handeln. Ist die Fläche durch Überzahl noch dynamisch bis zum Torabschluss schnellstens zu überwinden oder ist der Gegner so formiert, dass ich in andere Räume verlagern und ihn in Bewegung bringen muss. Das muss der Spieler zielorientiert in seinen Spielräumen wahrnehmen lernen und stabil erfolgreich entscheiden.
Entspricht das Spiel der Deutschen Ihrer Vorstellung von modernem Fußball?
Definitiv sehr oft. Die Schnelligkeit im Passspiel. Die Laufwege zwischen und hinter die Ketten. Das Entwickeln von Überzahlspiel in jedem Raum. Da hat auch Pep Guardiola die ganze Trainingsarbeit und Trainerphilosophie in Deutschland mit positiv beeinflusst. Ich denke, die EM gibt uns nach der Analyse die Aufgaben, positionsspezifische Profile des Stürmers und der Außenverteidiger individuell noch mehr zu trainieren.
Was kann man von Island lernen?
Viele Mannschaften waren erfolgreich, die tief standen in einer Art Abwehrpressing, mit sehr engen Reihen und entsprechend großer Fläche zum Kontern. Auf diese tiefen Reihen muss man sich noch besser einstellen, um die Räume, die so klein geworden sind, zu nutzen. Diesen Stress gegen den tiefen organisierten Gegner muss man genau im Training simulieren. Ein Beispiel: Es steht 0:1 und es sind noch 5 Minuten zu spielen. Die Isländer hatten zudem eine große Stärke in der Mentalität der Teamarbeit, in der Einfachheit ihres Spiels, im robusten Zweikampfverhalten und im Willen.
Siegeswille gehört zu den Säulen im HSV-Nachwuchs. Wie lernt man das?
Ob jemand einen ausgeprägten Willen hat, liegt auf der Motivebene, auf der Triebebene des Menschen. Das hat auch mit Jähzorn zu tun. Mit Zorn. Das ist wichtig im Sport. Diese Triebe muss man provozieren durch das richtige Training. Jedes Trainingsspiel gewinnen zu wollen, zeichnet die gierigen Spielernaturen aus. Es geht um Training mit Belohnung, mit methodischem Zwang, mit - in Anführungszeichen - Bestrafung und Provokationsregeln, um den Wettkampf zu simulieren.
Sie arbeiten mit Bestrafung?
Unsere Trainer müssen möglichst viele Formen finden, die einen Wettkampfcharakter haben, in denen es immer um Gewinnen und Verlieren geht. Wenn man Menschen nur belohnt, kommt man an die letzten fünf Prozent des Willens nicht heran. Hochleistungssport ist Provokation. Viele Spiele werden zwischen der 70. und 90. Minute entschieden. Da braucht man eine Mannschaft, in der Führungsspieler und Entscheider voran gehen. Da sind wir auf dem Weg, besser zu werden.
Entscheidet der Wille, ob die Talente den Übergang zu den Profis schaffen?
Das ist eine Sache des Entwicklungsweges, des Willens, des Fleißes und der kontinuierlichen Beharrlichkeit. Diejenigen, die fleißiger und beharrlicher sind, werden sich zu höheren Prozentsätzen durchsetzen als diejenigen, die talentierter sind. Da können Sie bei Bruno Labbadia als Beispiel anfangen.
Was meinen Sie?
Labbadia war als Spieler kein Künstlertyp, aber wahnsinnig ehrgeizig und fleißig, daher so erfolgreich. Eine seiner Stärken als Trainer ist es, Bescheidenheit, Arbeit für das Team und Klarheit vorzuleben. Er ist total authentisch, weil er sich selbst alles hart erarbeitet hat. Auch da ist er ein tolles Vorbild für die jungen Spieler.
Wie kann man die jungen Spieler auf das Leben als HSV-Profi vorbereiten?
Das ist ein langwieriger Weg mit kontinuierlicher Begleitung. Wenn ein Junge sich mit 18 Jahren eine Riesenwelle einbildet, er hätte schon was erreicht, scheitert er. Daher musst du als Trainer ständig erzieherisch wirken. Diese pädagogischen Werte musst du vorleben. Nur so kann ein Spieler die konkreten Werte zur Leistungsbereitschaft erlangen, die er braucht. Wenn du nicht bereit bist zu malochen, wirst du kein erfolgreicher Spieler werden.
Rummel um Jatta beim ersten HSV-Training
Hätten Sie es noch für möglich gehalten, dass ein Spieler wie der Gambier Bakery Jatta (18) ohne fußballerische Ausbildung einen Profivertrag bekommt?
Ich kann mir vorstellen, dass es Jungs aus diesen Herkunftsländern gibt, die sich so viel im freien intuitiven Fußballspiel bewegt und dadurch die nötigen Reize in ihrem Talent mitbekommen haben. Den Jungen sollten wir jetzt erstmal in Ruhe trainieren lassen, er muss zunächst die vielen neuen Eindrücke verarbeiten und wir sollten nicht so viel Erwartungen hereinreden.