Hamburg. Initiator von HSV-Plus kritisiert Clubführung bei Mitgliederversammlung scharf. Beiersdorfer: „Habe zu lange an Tuchel festgehalten“.

Als die Mitgliederversammlung des HSV e. V. um 13.40 Uhr nach nur zwei Stunden und 40 Minuten beendet war, fühlte sich Otto Rieckhoff „erleichtert“. Weil er endlich Druck ablassen konnte. Der Mann, der entscheidend dabei mitgewirkt hatte, dass am 25. Mai 2014 86,9 Prozent der 9702 Mitglieder für die Umsetzung von HSV-Plus stimmten, hatte sich in der Pflicht gesehen, ein Jahr nach der Ausgliederung ein Fazit zu ziehen. Und zwar ein verheerendes.

Der Vorstand und der Aufsichtsrat der Fußball-AG wussten am Sonntag bereits, wie Rieckhoff die Arbeit der vergangenen Saison einschätzt. Als Zeichen von Fairness hatte der frühere Aufsichtsratschef bereits vergangene Woche jedem Funktionär einen „blauen“ Brief geschickt. Die Kernpunkte seiner Kritik skizzierte er am Sonntag erstmals öffentlich vor den nur 423 Mitgliedern auf der Westtribüne.

Mit Entsetzen habe er feststellen müssen, dass die Verschuldung des HSV durch Transfers von überteuerten Spielern in die Höhe getrieben worden sei und der Verein sich so in eine Zwangslage gebracht habe, Anteile zu veräußern: „Dabei hat man an den Wertschätzungen der Wirtschaftsprüfer so lange heruminterpretiert, bis der Unternehmenswert des HSV für Klaus-Michael Kühne konsensfähig war. Der Anteilsverkauf war nur für ihn ein guter Deal, nicht für den HSV.“

Offen gestand Rieckhoff ein, dass er auch die Personalie Karl Gernandt, der bei Kühne angestellt ist, falsch eingeschätzt habe, erwähnte einen privaten Besuch von Wunschtrainer Thomas Tuchel beim Investor („Wo entscheidet ein Minderheitsinvestor über Personalien?“) und warnte, sich noch stärker in persönliche Abhängigkeiten zu begeben: „Wehret den Anfängen!“

Matz ab zum Saisonende 2014/15

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    Schonungslos kritisierte der HSVPlus-Initiator den seiner Ansicht nach bisher gescheiterten Versuch, durch mehr fußballerische Kompetenz Fortschritte zu erzielen: „Das ist in die Hose gegangen. Wir leisten uns teure Transfers und leben über unsere Verhältnisse, neue Strukturen im Nachwuchs sind für mich nicht erkennbar.“ Seine Bilanz: „Man wurschtelt so weiter.“ Seine Aufforderung: „Zurück auf Los und die Resettaste drücken.“

    Rieckhoff war zwar das prominenteste, aber längst nicht einzige HSV-Mitglied mit Redebedarf. „Spart lieber an den Abfindungen, als den Fans noch mehr Geld aus der Tasche zu ziehen“, kommentierte Supporters-Chef Timo Horn die Ticketpreiserhöhungen im Familien- und Schwerbehindertenbereich. Und Konstantin Rogalla erinnerte an den „lausigsten Fußball der Vereinsgeschichte. Ganz Fußball-Deutschland hätte uns den Abstieg gegönnt“.

    Nein, es war kein einfacher Tag für Beiersdorfer. Dabei hatte der Vorsitzende in seiner halbstündigen, kämpferischen Rede noch versucht, die positiven Aspekte der abgelaufenen Saison hervorzuheben, teilweise mit humoristischen Ansätzen: „Ich weiß, dass wir nicht damit angeben dürfen, acht Punkte mehr als in der vergangenen Saison geholt zu haben. Mit dieser 30-prozentigen Steigerung sind wir der beste Verein in der Bundesliga vor Gladbach mit 20 Prozent und Wolfsburg mit 15 Prozent ...“

    Zur finanziellen Situation sagte der Clubchef, dass die Verschuldung zum 30. Juni um neun Millionen Euro auf unter 60 Millionen Euro zurückgegangen sein wird. Zugleich räumte er ein, dass das Geschäftsjahr wieder mit einem negativen Ergebnis enden werde, da sich die Abschreibung von Spielerwerten auswirke. Dem Vernehmen nach soll das Minus bei über zehn Millionen Euro liegen.

    Während Beiersdorfer Geduld für die Aufbauprozesse anmahnte („Das braucht noch einige Jahre“), gestand er durchaus auch eigene Fehleinschätzungen in den vergangenen Monaten ein: „Ich habe zu lange an der Vorstellung gehangen, mit einem Trainer (Thomas Tuchel, die Red.) in die Zukunft zu gehen, das war ein Fehler.“ Man habe aber immer das Heft des Handelns in der Hand gehabt. Der HSV-Chef betonte, es hätte eine ligaunabhängige Zusage Tuchels vorgelegen: „Als es eine beabsichtigte Verzögerung gab, haben wir sofort reagiert.“ Man habe sich im „freien Fall befunden, jetzt aber mit Bruno Labbadia einen Toptrainer, der maximalen Anteil am erreichten Klassenerhalt hat“.

    Klar wurde aber auch, dass Beiersdorfer nicht bereit ist, für die Sünden der Vergangenheit die Verantwortung zu übernehmen: „Der HSV ist längst keine Topadresse mehr im Nachwuchsbereich, diesen Status müssen wir uns erst wieder erarbeiten. Wir besaßen keine funktionierende Scoutingabteilung, mittlerweile gibt es 20 Clubs, die uns im Nachwuchs voraus sind.“

    Stolz äußerte sich Beiersdorfer über die vertrauensvolle Zusammenarbeit während der Krisenzeit: „Diese Menschen haben einen herausragenden Job gemacht. An diese Arbeitskultur, an dieses Ethos der vergangenen zwei Monate sollten wir anknüpfen.“ Er lobte ausdrücklich die Zusammenarbeit zwischen der HSV Fußball AG und dem HSV e. V.: „Es gibt ein exzellentes Miteinander und ein tolles gemeinsames Team.“

    Zugleich kündigte Beiersdorfer an, dass in den kommenden Monaten in Workshops intensiv an einem neuen Leitbild des HSV gearbeitet werden soll, das als verbindliche Orientierung dienen soll.