Hamburg. Fußballhauptstadt: Die Hansestadt bringt die meisten Profis hervor, zu wenige aber bleiben in Hamburgs Clubs. Wie sich das ändern soll.
Das ist schon eine beeindruckende Truppe, die in der Fußball-Bundesliga sicherlich eine gute Rolle spielen würde. Jonathan Tah ist gerade mit Bayer Leverkusen herausragend deutscher Meister geworden, Erik Maxim Choupo-Moting kennt das Gefühl schon von Bayern München. Vitaly Janelt ist Stammspieler in der Premier League und wird mit einem Marktwert von 22 Millionen Euro taxiert.
Alles Hamburger Jungs, hier groß geworden und ausgebildet. Karriere gemacht aber haben sie in der Fremde. Und eben nicht beim HSV oder dem FC St. Pauli. In Bilal Yalcinkaya und Eric da Silva Moreira haben beide Clubs nun aktuell zwei U-17-Weltmeister, aber könnnen die auch längerfristig bleiben?
Talent-Förderung: Hamburg bringt viele Profis heraus
Die Stadt Hamburg hat laut einer Untersuchung der Strategie-Beratungsagentur International Football Concepts (IFC) seit fünf Jahren bezogen auf die Einwohnerzahl die meisten Fußballprofis hervorgebracht. Da könnte man sich als Nachwuchsförderer natürlich hinsetzen und sich auf die Schulter klopfen: Gute Arbeit! Aber so ist es nicht.
„Timo Schultz hat einmal gesagt: Den Durchbruch einzelner Spieler werden wir nicht verhindern“, zitierte Loic Favé (31) am Montagabend beim 7. Lotto Talk des Hamburger Fußball-Verbandes den ehemaligen Cheftrainer bei St. Pauli, als dessen Assistent er anderthalb Jahre gearbeitet hatte. Das klingt mit Blick auf den Status quo der Ausbildung junger Spieler in der Hansestadt fast schon resignativ – ist aber gar nicht so gemeint. Sondern soll ein Ansporn sein, es in Zukunft noch viel besser zu machen.
Der FC St. Pauli hat sein Nachwuchskonzept geändert
„Wir haben in der Metropolregion Hamburg 5,5 Millionen Menschen, das ist die Hälfte von Portugal“, sagt Favé, der seit Anfang des Jahres Sportlicher Leiter des Nachwuchs-Leistungszentrums (NLZ) beim HSV ist, „dafür entwickeln wir zum Beispiel im Vergleich zu einer Stadt wie Lyon viel zu wenige Spieler mit hoher Qualität. Unser Anspruch muss sein, mehr Jungs auf Top-Niveau zu bringen.“
Benjamin Liedtke (37) nickt zustimmend. Der NLZ-Leiter des FC St. Pauli hat bei seinem Verein bereits unter dem kernigen Titel „Rebellution – ein anderer Jugendfußball ist möglich“ die Konzeption in der Ausbildung jugendlicher Fußballer geändert. Zum Teil viel diskutierte Stichworte sind dabei: Keine Zusammenarbeit mit externen Beratern am NLZ, Nicht-Teilnahme der U16 am Punktspielbetrieb, Konzentration auf Spieler aus Hamburg. Und individuelle Förderung.
„Es geht darum, das einzelne Talent auszubilden, und nicht als Mannschaft erfolgreich zu sein“, sagt Liedtke und kritisiert deshalb das herrschende System: „Wir haben in Deutschland die jahrgangsgemäße Einteilung. Dadurch müssen zum Teil Kinder miteinander spielen, die in ihrer biologischen Entwicklung fünf Jahre auseinander liegen.“ Bei der Orientierung an Mannschaftserfolgen heißt das oft: Der Kräftigere spielt – und nicht der spielerisch Bessere und Kreativere, Handlungsschnellere.
„Wir müssen in den NLZ wegkommen von der Trainerorientierung“, so Liedtke, „Trainer suchen Spieler oft aus, mit denen sie ihre ,Philosophie´ umsetzen können, um sich durch Erfolge zu profilieren, das ist katastrophal. Die Spielidee muss sich an den Stärken der Spieler orientieren.“
Favé hat über 20 Vereine in Europa besucht
Wie es in anderen Ländern durch individualisierte Konzepte erfolgreicher geht, hat sich Loic Favé bei seiner „Europareise“ nach der Freistellung beim FC St. Pauli Ende 2022 selbst angeschaut. Über 20 Vereine in acht Ländern hat er besucht, um Anregungen für seine Arbeit zu erhalten. In Frankreich beispielsweise wurden Spieler sehr stark eingebunden, sollten selbst Gegner-Analysen betreiben.
Außerdem sind Wechsel der NLZ bis zum Alter von 16 Jahren nicht erlaubt, das heißt die Jugendlichen bleiben in ihrer gewohnten Umgebung, Abwerbungen gibt es nicht. Ähnlich in England, wo die Akademien nicht mehr als eine Stunde Fahrtweg vom Heimatort entfernt sein dürfen.
Janelt, Demirovic und Moukoko wurden schon früh weggelockt
In Deutschland sind dagegen Wechsel auch in ganz jungen Jahren möglich. In der Topmannschaft der in Hamburg ausgebildeten Talente stehen mit Janelt, Demirovic und Moukoko Spieler, die schon im Teenie-Alter zu finanzstarken Vereinen wie RB Leipzig oder Dortmund gelockt wurden. Sie haben den Durchbruch geschafft. Viele andere aber nicht.
„Zur Entwicklung gehört auch, Widerstände zu überwinden“, sagt Liedtke, „wenn die Möglichkeit besteht, bei Problemen woanders hinzugehen, wo sie dir alle sagen, wie toll du bist, hilft das nicht.“ Dieses Einflüstern geschieht oft genug auch durch externe Berater, die von Wechseln profitieren. „In NLZ wird viel Geld investiert, da wollen einige etwas vom Kuchen abhaben“, begründet Liedtke, die Entscheidung, mit Beratern nicht mehr zusammenzuarbeiten.
Konzentration auf Hamburger Talente
Noch hat sich kein weiteres NLZ zu diesem Schritt entschlossen, aber Liedtke berichtet von Anrufen von Kollegen, die fragen: „Wie macht ihr das?“. Auch der HSV hat diesen Schritt nicht gemacht, Favé betont aber immer wieder, „dass ich erst drei Monate im Amt bin“. Er ist noch in der Bestandsaufnahme, hat aber bereits einige klare Vorstellungen für die zukünftige Ausrichtung am NLZ. Die Aufgabe ist, da sind sich Favé und Liedtke, die sich seit Jahren gut kennen, einig, die größten Talente in Hamburg zu halten und öfter in die eigenen Profiteams zu integrieren.
Der FC St. Pauli und der HSV machen sich gemeinsam, aber in Konkurrenz, auf einen „Hamburger Weg“: „Wenn der FC St. Pauli im Jungendbereich erfolgreich ist, ist das für uns nur ein Ansport“, erklärt Favé: „Auch unser Fokus werden Hamburger Jungs sein, wir sind nicht Wolfsburg, wir müssen niemanden von außen holen“, sagt er.
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Auch die sehr guten Spieler mit guten Konzepten zu halten, soll möglich sein. Die müssen nicht mit 14 oder 16 die Stadt verlassen. Dass so etwas über Identifikation mit dem Club möglich ist hat Favé noch selbst beim Eimsbütteler TV, dessen Jugendleiter er war, erlebt. Auch in der Oberliga wird schließlich schon bei einigen Vereinen viel bezahlt – „trotzdem haben sich zahlreiche Spieler entschieden, nach dem Aufstieg in der Oberliga auch ohne Geld beim ETV zu bleiben, einfach weil die Identifikation mit dem Verein groß war.“
Nun ist Vollprofitum noch etwas anderes, irgendwann werden absolute Topleute zu Topvereinen gehen. Das ist so. Aber Spieler länger im heimischen Umfeld zu entwickeln, bleibt das Ziel. „Ich glaube, dass das Geld bei den Spielerwechseln eine geringere Rolle spielt, als man so denkt“, sagt Favé, „wir wollen erreichen, dass die Verbundenheit zu Stadt und Club größer wird. Wir müssen mehr Beziehungen zum Umfeld und den Personen schaffen.“ Und Erkenntnis ist oft der erste Schritt zu einer Änderung.