Hamburg. Keine Berater und Individualtrainer mehr, auch keine eckigen Bälle. Die Ideen von NLZ-Leiter Benjamin Liedtke im Abendblatt-Podcast.
Wäre nicht ein eckiger Ball passender gewesen? Schließlich steht Benjamin Liedtke als Leiter des Nachwuchsleistungszentrums des FC St. Pauli für die und auch hinter den Reformen im deutschen Kinder- und Jugendfußball, die unter anderem die Dokumentation von Ergebnissen im jüngeren Bereich abzuschaffen gedenken und über die DFB-Vizepräsident Hans-Joachim Watzke ätzte: „Demnächst spielen wir dann noch ohne Ball. Oder wir machen den eckig, damit er den etwas langsameren Jugendlichen nicht mehr wegläuft.“
Liedtke greift sich trotzdem einen herkömmlichen Ball, als er sich im Abendblatt-Fotostudio ablichten lässt. Weswegen, begründet der 36-Jährige anschließend im Podcast „Millertalk“.
Liedtke: "Schaffen nicht Sieg und Niederlage ab"
„Weil wir ja nicht Sieg und Niederlage abschaffen, sondern weiterhin Leistungssport betreiben“, sagt Liedtke. Es werde nach wie vor Fußball gespielt, wofür er mit seinem eigenen Lebensweg exemplarisch steht.
Denn die Biografie des St. Paulianers ist eine Hamburger Fußballgeschichte. Geboren und aufgewachsen in der Hansestadt, spielte Liedtke von Kindesbeinen an, übernahm schon mit 15 Jahren erste Traineraufgaben, vom SC Sperber wechselte er als Co-Trainer zur U 10 des FC St. Pauli.
FC St. Pauli startet "Rebellution"
Parallel dazu wollte er Lehrer für Sport und Erdkunde werden, hatte das abgeschlossene Studium schon in der Tasche – und wurde: Fußballlehrer. Denn der Kiezclub war so zufrieden mit der Arbeit Liedtkes, dass er ihn nach dem Abgang von Roger Stilz Anfang 2021 zum Nachwuchschef beförderte.
Und in dieser Funktion startete Liedtke gemeinsam mit seinem Kollegen Fabian Seeger direkt eine Revolution, pardon, „Rebellution“, wie es der FC St. Pauli nennt. „Wir wollen zurück zu den Ursprüngen, unsere Jugendspieler vor allem individualtechnisch und -taktisch schulen, anstatt sie mit Mannschaftstaktiken und festen Spielprinzipien zu beschränken“, sagt Liedtke. Dazu zählen vor allem unterschiedliche Spielformate, die die Zahl der Ballkontakte und Gelegenheiten erhöhen, Handlungsoptionen zu erlernen und anzuwenden.
Futsal und kleinere Spielformate
„Drei-gegen-drei, Vier-gegen-vier, viel Futsal, unterschiedliche Tore“, so Liedtke, seien hervorragend dafür geeignet, individuelle Fähigkeiten zu trainieren. Das Beispiel Elias Saad, der zwar kein Nachwuchsleistungszentrum besuchte, aber jahrelang Futsal spielte, spreche Bände.
Und ja, auch über den Einsatz „kleinerer und unterschiedlicher Bälle“ solle man sich Gedanken machen – allerdings weniger über eckige. In Dortmund dürfte ein Aufatmen zu vernehmen sein.
Weswegen Resultate abgeschafft werden
Weswegen die Ausbildung im Fußball so grundlegend auf den Kopf gestellt wird, auch Resultate zweitrangig seien, erläutert Liedtke plausibel. „Wir Erwachsene steuern den Umgang mit Ergebnissen, die zu häufig als Macht- und Druckmittel verwendet werden. Wenn jemand sagt, ein Kind müsse das Verlieren lernen, um später damit zurechtzukommen, finde ich das Quatsch“, sagt der erfahrene Trainer.
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Im Kinderbereich gehe es um Spaß am Fußball, nicht um Frust. Dieser entstehe ebenfalls in größeren Spielformen, bei denen weniger Ballkontakte erzielt werden. „Wenn ich im Spiel nur dreimal gegen den Ball trete, ist es wahrscheinlicher, dass ich mit dem Fußballspielen aufhöre“, sagt Liedtke.
St. Pauli arbeitet nicht mehr mit Beratern zusammen
Aufgehört hat beim FC St. Pauli im Nachwuchsbereich kürzlich noch etwas anderes: die Zusammenarbeit mit Beratern, wie der Verein vergangene Woche verkündete. Ein tief gehender Eingriff in das bestehende System.
Zudem sind Individualtrainer, mit denen die Jugendspieler in ihrer Freizeit zusätzlich schuften, unerwünscht. Die Scoutingabteilung bei den Junioren wird abgeschafft.
Kiezclub setzt künftig auf lokale Talente
„Wir wollen als Stadtteilclub künftig nur noch auf Talente aus dem Hamburger Raum setzen“, sagt Liedtke. Dazu benötige man Berater, mit denen es in diesem Bereich ohnehin wenige Berührungspunkte gebe, nicht. „Ich will aber klarstellen, dass nicht alle Berater schlecht sind, sondern wir uns lediglich anders positionieren“, sagt er.
Dass diese Positionierung zum Nachteil für St. Pauli werden könne, weil Talente sich stattdessen für andere Clubs entscheiden oder früher wechseln, glauben die Verantwortlichen nicht. „Studien haben nachgewiesen, dass viele Vereinswechsel in den Jugendjahren leistungsmindernd im Profibereich wirken. Und in Deutschland ist die Anzahl dieser Wechsel von allen europäischen Topnationen am höchsten“, sagt Liedtke. Zusätzliches Individualtraining sei abträglich, „weil es zu einer Überlastung führen kann, und man die Karrieretreppe nicht abkürzen kann“.
Corona-Zeit schadet Jugendlichen
Diese rebellischen Ideen sollen auch dazu führen, dass künftig mehr Spieler aus dem eigenen Nachwuchs im Profiteam ankommen, was derzeit äußerst selten der Fall ist. „Die Schere ist weiter auseinandergegangen, weil unseren Jungs ein Jahr Training aus der Corona-Zeit fehlt“, meint Liedtke.
An seinen Plänen werden er und der FC St. Pauli sich künftig messen lassen. Ohne eckige Bälle, aber stets bereit anzuecken.
Der FC St. Pauli hat eine Homepage in Leichter Sprache für Menschen mit eingeschränkter Lesekompetenz, Lesefähigkeit oder begrenzten Deutschkenntnissen veröffentlicht: www.leichtesprache.fcstpauli.com