Hamburg. Am Wochenende startet die Segel-Bundesliga: Mit dabei ist ein inklusives Team aus Hamburg. Warum sie bloß keine Extrawurst wollen.
Dies könnte ein ganz „normale“ Geschichte werden: Eine Geschichte über ein Hamburger Segelteam, das es in diesem Jahr zum ersten Mal in die 2. Bundesliga geschafft hat und am Wochenende in die Saison startet. Eine Geschichte über die berauschende Energie der sympathischen Crew, über ihre sportlichen Erfolge und Ziele in der Liga. Doch noch ist diese Geschichte keine ganz „normale“. Denn noch wird dieses Team nicht als ganz „normal“ angesehen, sondern als etwas Besonderes.
In ein paar Jahren vielleicht, da wird es nicht mehr der Rede wert sein, dass der Vorschoter – also der zuständige Segler auf dem vorderen Teil des Schiffes – blind ist. Es wird vielleicht nicht mehr der Rede wert sein, wenn Gehörlose oder Menschen im Rollstuhl Teil eines Segelteams sind. Vielleicht wird es irgendwann kein Aufsehen mehr erregen. Vielleicht wird Inklusion in Zukunft kein Aushängeschild, Barrierefreiheit kein hübscher Lorbeerschmuck mehr sein : sondern eine Selbstverständlichkeit. Vielleicht wird bei Menschen mit Behinderungen nicht mehr der Fokus auf vermeintliche Schwächen gelegt – sondern einfach nur auf ihre Person. Mit ihren individuellen Stärken und Schwächen, so wie jeder Mensch sie hat.
Inklusion im Segelsport: „Wir sind Wir“-Verein ist Vorreiter
Doch: in einer solchen Welt leben wir noch nicht. Wenn überhaupt wird es noch lange dauern, bis Inklusion vollständig gelebt und gedacht wird: in den Köpfen der Menschen, in der Infrastruktur, in der Arbeitswelt – und im Sport. Das „Bat Sailing Team“, ein gemeinsames Projekt des Norddeutschen Regatta Vereins (NRV) und des Vereins „Wir sind Wir Inclusion in Sailing e.V.“, setzt sich für das Ziel der gelebten Teilhabe ein – und zwar mit voller Windkraft voraus.
„Wir sind das erste Team, das sich als inklusive Crew aus eigener Kraft qualifiziert hat und die Saison komplett mitfährt“, sagt Marvin Hamm stolz. Der 32-Jährige wird als Steuermann mit an Board sein. Im vergangenen Jahr verpasste das Team die Qualifikation für die 2. Bundesliga knapp – doch da eine Mannschaft ausstieg, rückten sie nach.
Steuermann Hamm: „Wir wollen keine Extrawurst“
Am Wochenende ist der Startschuss in Berlin: Antreten wird das Team auf ihrem Boot der Klasse J/70 unter dem Namen des Vereins „Wir sind Wir Inclusion in Sailing e.V/Sachsen“ – und nicht wie bei sonstigen Regatten als „Bat Sailing Team“ des NRV. Der Heimathafen des Teams ist und bleibt zwar der NRV - doch da der Verein nur ein Team in der Bundesliga stellen darf und diese bereits in der höchsten Liga vertreten ist, hat die inklusive Crew den Fledermaus-Namen für diese Liga abgelegt. Die Crew, das sind neben Marvin Hamm und David Koch (35) die Taktikerin Mieke Klein ( 37) und Trimmer Jan Mense (28). Karen Suthmann (41) ist Ersatzseglerin. Sie ist gehörlos.
„Wir wollen keine Extrawurst, kein Sonderreglung oder Freitickets. Wir wollen am ganz normalen Wettkampf teilnehmen – und da auch nichts geschenkt bekommen“, erzählt Hamm. Während das „Bat Sailing“ Gesamtteam aus Dutzenden Menschen mit und ohne Behinderung besteht, die alle der Spaß am Segeln vereint, wollen sie in der Bundesliga auf Leistung gehen. Herausfinden, was möglich ist, sagt Hamm. Und das, obwohl David Koch mit einer Sehkraft von unter fünf Prozent hochgradig sehbehindert ist. Eine Einschränkung nicht nur für Davids Alltag, sondern auch für das Team: könnte man denken.
David kann zwar nicht sehen: aber dafür umso besser hören und fühlen
Könnte – sollte man aber nicht, wie Koch aufklärt: „Wir wollen Zweiflern die Augen öffnen, die begrenzte Sicht auf Menschen mit Handicaps haben. Ein Sehbehinderter, Gehörloser oder Rollstuhlfahrer ist genauso qualifiziert wie Menschen ohne Handicap.“ Oder sogar besser, wirft Marvin ein. Denn die größte Hürde für Inklusion, das seien nicht die Behinderungen der Betroffenen – sondern die Vorstellungskraft der Menschen, die wenig oder gar nicht mit diesen in Berührung kommen.
Das, was Kochs Gehirn an visuellen Reizen nicht verarbeiten könne, werde demnach auf das Gehör und den Tastsinn ausgekoppelt: Das helfe ihm nicht nur beim Segeln, sondern auch in seinem Job als Physiotherapeut. „Dinge funktionieren – man müsse es einfach machen, sich trauen“, erklärt er. Und das Wichtigste: Inklusion sei kein barmherziger Akt, keine Samariter-Aktion – sondern etwas, von dem alle profitieren.
Wie segelt man blind? Die Boote können optimiert werden
Alles schön und gut. Doch die omnipräsente Frage drängt sich auf: wie zum Kuckuck segelt man blind? Kommunikation, Erfahrung und Teamplay: Das stehe beim Segeln im Vordergrund, und nicht etwa die Physis, erklärt Koch. Zudem könne man die verschiedenen Boote so optimieren, dass es für das jeweilige Handicap passt. David zum Beispiel helfen haptische Markierungen an den Leinen, um zu wissen, wie viele Meter er noch hat. Und da er nicht schwarzblind ist, und somit Kontraste erkennen kann, hilft es ihm, dass die Leinen unterschiedliche Farben haben.
„Wenn man Ordnung auf dem Boot hält, ist es für mich als Sehbehinderter einfach zu wissen, wo ich hingreifen muss und welche Leinen was bedienen“, sagt David Koch. Wenn alles seinen regulierten Platz hat, sei es für ihn „mega einfach“. Dennoch muss sich das inklusive Team speziell vorbereiten: „Wir müssen viel mehr verbalisieren, über Abläufe sprechen und festlegen, welche Schlagworte für welche Handgriffe gelten“, verrät der selbstständige Teamcoach Marvin Hamm.
Jürgensen über Kontakt mit behinderten Menschen: „Hat mein Leben verändert“
Das habe sie zwar am Anfang viel Zeit gekostet, aber dafür ist ihre Kommunikation nun ausgefeilt, und sie haben selten Missverständnisse. „Ich, als Sehender, habe viel Kommunikation durch dich gelernt“, gibt Hamm zu und schaut dabei David an. Während die beiden Crewmitglieder erzählen, sitzt noch ein Mann im Raum. Er ist derjenige, der die Strippen im Hintergrund zieht – aber nicht auf eine gruselige, fragwürdige Art, sondern im Gegenteil: Auf eine unterstützende und fördernde.
Der Name des Mannes ist Sven Jürgensen, er ist 2. Vorsitzender des Vereins „Wir sind Wir Inclusion in Sailing“. Wenn er über das Team und Inklusion als gesellschaftliches Ziel spricht, ist man überwältigt von der authentischen Leidenschaft und der überschwappenden Überzeugung. In der Zusammenarbeit mit behinderten Menschen habe Jürgensen in den vergangenen Jahren viel gelernt. Und nicht nur das: „Es hat mein Leben verändert“, sagt er.
Inklusives Segelteam sucht weiterhin nach Sponsoren
Doch auch er weiß: Eine Vision und ein guter Wille reichen nicht aus. Ohne Geld geht nichts – und davon benötigt das Team aktuell eine Menge: allein die Startgebühren für die 2. Bundesliga liegen bei 10.000 Euro. „Die ganze Saison mit allem drum und dran kostet voraussichtlich 25.000 bis 30.000 – und das ist noch niedriges Kostenniveau“, sagt Jürgensen.
Durch Sponsoren und Stiftungen konnte ein Großteil der Ausgaben bereits gedeckt werden: so seien die Startgebühren, das Boot und die Segelbekleidung bereits bezahlt. Dennoch sind das Team und der Verein weiterhin auf der Suche nach Förderern – nicht nur etwa für Reisekosten der diesjährigen Saison, sondern auch für die unterschiedlichsten Projekte und Regatten des „Bat Sailing Teams“.
Inklusives Team in der 2. Bundesliga will zeigen, dass es möglich ist
Während das Team bisher auch niedrigschwellige Regatten gesegelt ist, wie zum Beispiel auf der Kieler Woche, heißt es nun also Bundesliga. Aufregung? Nein, eher Vorfreude, wie David Koch sagt: „Wir wollen das Beste herausholen: Wir feiern jeden Erfolg und jedes Boot, das wir hinter uns lassen.“ Ein Ziel wäre, dass sie in der Liga bleiben. Und vor allem: dass sie Spaß haben.
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Neben ihren individuellen Bestrebungen wollen sie jedoch auch ein Zeichen für Inklusion setzen. „Wir sehen es als unsere Pflicht, als Leuchtturm voranzugehen und zu zeigen, was machbar ist“, sagt Hamm. Für behinderte Menschen sei es oft schwierig, in Sport einzusteigen: Weil Angebote fehlen oder gedankliche Hürden zu groß sind. Zudem sieht David ein weiteres in übervorsichtigen Eltern – die wahrscheinlich nur das Beste wollen, aber das Gegenteil erreichen.
Crewmitglied Koch: „Viele Eltern haben Angst um ihre behinderten Kinder“
„Vielen Eltern haben Angst um ihre behinderten Kinder, wollen sie beschützen und muten ihnen nicht viel zu. Damit nehmen sie dem Kind die Chance, sich auszuprobieren“, findet David Koch. Er möchte mit seinem Team zeigen, es möglich ist – und betroffenen Eltern die Angst nehmen.
Mutig sein, die eigenen Gedankenmuster hinterfragen, Inklusion fördern – und gleichzeitig nicht alles zu ernst nehmen. Die Sache auch mal mit Humor nehmen: So wie David Koch selbst, der gerne einmal Witze über seine Behinderung macht. Wie er das Boot seines Teams getauft hat? „Blindfisch“. Tja, ein Blindfisch in der 2. Bundesliga.