Der glückliche Sieg gegen Chile diente als Lehrstunde für die DFB-Elf. 103 Tage vor dem ersten Auftritt in Brasilien muss Joachim Löw die bittere Erkenntnis feststellen, dass Deutschland noch nicht in WM-Form ist.
Stuttgart/Hamburg. Die wütenden Pfiffe der Fans waren gerade erst verklungen, da hatte sich Joachim Löw nach dem gruseligen Auftritt seiner Stars schon wieder einigermaßen im Griff. Nur die Stimme war noch hörbar in Mitleidenschaft gezogen, nachdem der Bundestrainer während des äußerst glücklichen 1:0 (1:0) gegen Chile einen Tobsuchtsanfall nach dem anderen bekommen hatte. Immer wieder war Löw wutentbrannt von seiner Bank aufgesprungen und hatte wild gestikulierend am Spielfeldrand gestanden. Geholfen hat es: nichts.
103 Tage vor dem ersten WM-Auftritt in Brasilien war die deutsche Nationalmannschaft meilenweit von der gewünschten Titelform entfernt. Vielmehr sah sich Löw, der schon am Montag mit einem öffentlichen Weckruf für Aufsehen gesorgt hatte, in seiner Einschätzung bestätigt: Um den großen Traum vom vierten WM-Triumph realisieren zu können, gilt es noch einen Berg von Problemen zu lösen.
Ganz unrecht dürfte dem 54-Jährigen deshalb die blutleere Darbietung seiner hoch gehandelten Profis nicht gekommen sein. „Man hat gesehen, dass wir in der Lage sein müssen, uns zu verbessern. Die Spieler, die das betrifft, sind informiert. Es wird wichtig sein, dass sie die Situation nach diesem Spiel erkennen und richtig einschätzen: Ich muss noch ein bisschen was drauflegen“, sagte Löw.
Es müsse ihm „niemand sagen, dass es vielleicht nur in Deutschland die besten Fußballer der Welt gibt. Wir haben zwar sehr gute Fußballer, wenn alle fit sind. Aber andere Nationen schlafen auch nicht, gerade die Südamerikaner spielen einen Klasse-Fußball auf ganz hohem Niveau“, betonte der Bundestrainer. Umso mehr dürfte Löw vor der Nominierung seiner WM-Kaders am 8. Mai auf Rückkehrer wie Sami Khedira, Ilkay Gündogan oder auch Thomas Müller hoffen. Die durften sich durchaus als Gewinner fühlen.
Immerhin gab es am späten Mittwochabend kaum einen, der das Spiel schönreden wollte. „Das war eine gute Lehrstunde“, räumte der schwache Abwehrchef Per Mertesacker ein. Kapitän Philipp Lahm sprach von einer „sehr schlechten Leistung“. ARD-Experte Mehmet Scholl fand es gar „erschreckend, wie Chile uns körperlich abgekocht hat“.
In der Tat waren die Südamerikaner um den bärenstarken Barcelona-Star Alexis Sanchez dem müde wirkenden DFB-Team in vielen Belangen überlegen. Für Löw „einfach“ zu erklären: „Was uns gegen Italien und England ausgezeichnet hat, ein extrem sicheres Passspiel, hat uns gefehlt. Wir hatten viele Ballverluste.“
Nur einmal deutete das hoch gelobte Mittelfeld seine Klasse an, als Mesut Özil beim Tor des Tages (16.) Mario Götze bediente. Ansonsten war von Özil, Götze, dem zuletzt bei Bayern überragenden Toni Kroos, aber auch von Bastian Schweinsteiger, der nach langer Pause (noch) nicht der erhoffte Chef war, wenig bis nichts zu sehen. Selbst Lahm, einer von sechs Profis aus dem diesmal ineffektiven Block des FC Bayern, unterliefen ungewohnte Flüchtigkeitsfehler.
„Habe kein Verständnis für die Pfiffe“
Er mache sich aber „hinsichtlich der WM keine Sorgen, weil ich weiß, dass wir uns wieder sehr gut auf das Turnier vorbereiten werden und in Bestform mit einer starken Mannschaft nach Brasilien reisen“, unterstrich Lahm. Auch Mertesacker zeigte sich gelassen: „Wir standen schon vor ganz anderen Aufgaben. Wir haben zu dieser Zeit schon Spiele ganz anders absolviert und verloren. Wir werden nicht verzagen.“
Dennoch: Auf Löw wartet in der Vorbereitung, die am 13. Mai mit dem Länderspiel gegen Polen startet und im Trainingslager in Südtirol in die heiße Phase geht, jede Menge Arbeit, die körperlichen, mentalen und taktischen Defizite aufzuarbeiten. Die größte Baustelle gibt es derzeit auf den Außenpositionen in der Viererkette. Durch die Verschiebung von Lahm ins Mittelfeld genügten gegen Chile gleich beide Seiten nicht den hohen internationalen Ansprüchen.
Marcell Jansen war bis zu seinem verletzungsbedingten Aus in der 24. Minute (Außenbandriss im Knöchel) ein Ausfall. Sein Ersatz Marcel Schmelzer wirkte im DFB-Trikot einmal mehr gehemmt. Und auch Kevin Großkreutz konnte als Rechtsverteidiger nicht nachhaltig auf sich aufmerksam machen. Das Problem: Alternativen wie Benedikt Höwedes oder Lars Bender sind auch nicht der Weisheit letzter Schluss.
Doch damit wollte sich Teammanager Oliver Bierhoff erst einmal nicht beschäftigen. Vielmehr beschwerte er sich wie Jerome Boateng („Eine Frechheit“) über die Fans in Stuttgart: „Ich habe überhaupt kein Verständnis für die Pfiffe gegen Mesut und unsere Mannschaft. Vor allem, dass schon so früh unserer Mannschaft die Unterstützung versagt wurde, kann ich nicht verstehen.“