Schwacher Auftritt der Nationalmannschaft gegen starke Chilenen, der auch Bundestrainer Löw in Rage brachte. Gellendes Pfeifkonzert mit dem Schlusspfiff. Auch Özil bei seiner Auswechslung ausgepfiffen.

Stuttgart. Schwacher Auftritt vor eigenem Publikum: Die deutsche Nationalmannschaft ist mit einem glücklichen Sieg ins WM-Jahr gestartet und von Titelreife noch weit entfernt. Mario Götze sicherte Joachim Löw am Mittwoch den 70. Sieg als Bundestrainer. Beim 1:0 (1:0) gegen Chile in Stuttgart profitierte sein Team allerdings entscheidend von der Abschlussschwäche der spielstarken und überlegenen Südamerikaner.

103 Tage vor dem ersten WM-Ernstfall gegen Portugal bestätigte das DFB-Team die Warnungen des besorgten Bundestrainers: Weder offensiv noch defensiv konnten Philipp Lahm und Co. ihre Ambitionen auf den großen Coup im Sommer in Brasilien untermauern. Denn vor 54.449 Zuschauern hatte die deutsche Mannschaft nach dem siebten Länderspieltor von Götze in der 16. Minute nicht mehr viel zu bieten.

„Wir haben gesehen, wie stark Chile spielen kann. Wir hatten wahnsinnig viel Mühe, Zugriff auf das Spiel zu finden“, analysierte Löw den holprigen Start ins WM-Jahr. Hauptsache gewonnen, lautete auch die Devise bei den Spielern. „Dass wir noch viel Arbeit vor uns haben bis zur WM, das wissen wir“, betonte Kapitän Philipp Lahm. „Wir haben schon noch ein paar Fehler gemacht“, räumte Bastian Schweinsteiger, der sichtlich angefressen beim Interview war, ein. Abwehrchef Per Mertesacker sprach gar von einer „guten Lehrstunde, für die Mentalität nicht schlecht“.

Zwar blieb die deutsche Elf auch im achten Länderspiel der WM-Saison unbesiegt, insgesamt fehlte ihr aber alles, um bei der Weltmeisterschaft als einer der Favoriten zu gelten. Beim letzten WM-Casting vor der Nominierung des Aufgebots für Brasilien am 8. Mai sammelte noch am ehesten Götze Pluspunkte. Der Münchner war auffälligster Akteur eines deutschen Teams, dem die Partie im zweiten Durchgang immer mehr entglitt. Götze schloss gleich den ersten guten Angriff mit einem Schlenzer in den rechten Torwinkel ab. Mesut Özil gelangen bis auf die Torvorlage nur wenige gute Aktionen, er tauchte immer wieder ab. Bei seiner Auswechslung in der 89. Minute wurde er gnadenlos ausgepfiffen.

Besonders enttäuschend war auch der Auftritt von Toni Kroos, der nicht an seine starken Leistungen aus den Vorwochen mit den Bayern anknüpfen konnte.

Miroslav Klose konnte nicht nachweisen, dass er für die WM der Stürmer Nummer eins ist. Der 35-Jährige, der mit einer Beckenblessur angereist war, fand keine Bindung zum Spiel und muss weiter auf sein 69. Tor im DFB-Trikot warten. Nach der Pause wurde der Wahl-Römer von Andre Schürrle abgelöst. Eine Minute vor Schluss kam der Freiburger Matthias Ginter als 59. Neuling unter Löw aufs Feld. Die anderen zwei potentiellen Debütanten, Shkodran Mustafi und André Hahn, müssen - ebenso wie der wegen einer Muskelverhärtung kurzfristig ausgefallene HSV-Stürmer Pierre-Michel Lasogga - weiterhin auf ihr erstes Länderspiel warten.

Der Hintermannschaft fehlte oft die Kompaktheit. Kevin Großkreutz ließ bei seinem Comeback im DFB-Trikot nach drei Jahren Pause auf der rechten Seite nicht viel zu, war gegen die Südamerikaner aber fast ausschließlich nach hinten gefordert. Die neue Doppel-Sechs mit Lahm und Bastian Schweinsteiger hatte oft Probleme, gegen die flink rochierenden Chilenen die Räume vor der Abwehr dicht zu machen.

Das erste Duell gegen Chile seit 32 Jahren stand von Beginn an im Zeichen der Südamerikaner, die sich von Anfang an als der erwartet unbequeme und spielstarke Gegner erwiesen. In der 9. Minute verhinderte Lahm den drohenden frühen Rückstand, als er beim Kopfball des früheren Bundesliga-Profis Arturo Vidal auf der Linie klärte.

Erst nach gut einer Viertelstunde setzte auch die erstmals mit den neuen rot-schwarz-gestreiften WM-Trikots angetretene DFB-Elf in der Offensive erste Akzente. Eine gelungene Ballstafette über Schweinsteiger und Özil brachte Götze in Schussposition, der Chiles Ersatzkeeper Johnny Herrera mit einem platzierten Schlenzer aus acht Metern keine Chance ließ.

Eine Verletzung von Marcell Jansen zwang Löw schon Mitte der ersten Halbzeit dazu, in der Defensive umzustellen. Nach einem Tritt auf den Knöchel musste der Hamburger, der bis dahin große Probleme mit seinem Widersacher Alexis Sanchez hatte, seinen Platz auf der linken Abwehrseite für Marcel Schmelzer räumen. Nach dem Spiel wurde die Diagnose bekannt. Jansen fällt vorerst wegen eines Außenbandrisses aus und kann dem HSV am Sonnabend im Abstiegskampf gegen Eintracht Frankfurt (15.30 Uhr im Liveticker bei abendblatt.de) und auch in den darauffolgenden Partien nicht helfen.

Der Linksverteidiger fällt vorerst wochenlang aus. Seine schwere Verletzung wurde direkt in der Kabine von Nationalmannschaftsarzt Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt diagnostiziert. Ob und wann Jansen in dieser Saison noch einmal auf dem Platz stehen kann, ist fraglich. Teammanger Oliver Bierhoff telefonierte zur Halbzeit mit HSV-Sportchef Oliver Kreuzer, der geschockt reagiert. „Es tut mir leid für den HSV“, sagte Bierhoff dem Abendblatt.

Die kurzzeitige Unordnung in der Hintermannschaft hätten die Gäste um ein Haar zum Ausgleich genutzt, doch der völlig frei stehende Ex-Leverkusener Vidal schoss Manuel Neuer den Ball aus kurzer Entfernung in die Arme (26.). Die große Chance zum 2:0 bot sich wiederum Götze, der von Per Mertesacker im Strafraum freigesperrt wurde, aber knapp am langen Eck vorbeizielte (34.).

In der Schlussphase der ersten Spielhälfte waren wieder die Chilenen am Zug: Schweinsteiger musste mit letztem Einsatz und viel Risiko gegen den starken Gutierrez klären (41.), dann wurde ein Schuss von Charles Aranguiz von Großkreutz noch abgeblockt (44.). Auch nach dem Seitenwechsel sorgte die Elf von Jorge Sampaoli für Unruhe im und um den deutschen Strafraum. Das ließ auch dem Bundestrainer keine Ruhe. Immer wieder tauchte Löw gestikulierend am Spielfeldrand auf. Beim Schuss von Eduardo Vargas an die Unterkante der Latte (61.) stand den Hausherren auch noch das Glück zur Seite. Bis auf eine Möglichkeit für Götze, dem sich Herrera vor die Füße warf (71.), kam der dreimalige Weltmeister kaum noch in die Nähe des Gäste-Tores.

Der Schlusspfiff wurde mit einem gellenden Pfeifkonzert des Stuttgarter Publikums quittiert.

Die Statistik zum Spiel:

Deutschland: Deutschland: 1 Neuer – 2 Großkreutz, 20 Boateng, 17 Mertesacker, 6 Jansen (24. Schmelzer) – 16 Lahm, 7 Schweinsteiger – 19 Götze (83. Podolski), 18 Kroos, 8 Özil (89. Ginter) – 11 Klose (46. Schürrle). – Trainer: Löw

Chile: 23 Herrera – 16 Gutierrez, 18 Jara, 4 Isla, 17 Medel – 8 Vidal (90. Fernandez), 11 Vargas (86. Pinilla) – 20 Aranguiz (80. Orellana), 5 Silva (83. Gonzalez) – 7 Sanchez, 15 Beausejour (76. Valdivia). – Trainer: Sampaoli.

Schiedsrichter: Mark Clattenburg (England)

Zuschauer: 54.000

Tor: 1:0 Götze (16.)

Gelbe Karten: – Gutierrez