Joachim Löw hat die Qual der Wahl: Am 8. Mai will er seinen WM-Kader bekanntgeben. Wer ist in Form, wer nicht? Das Abendblatt testet den erweiterten Kader der DFB-Elf – mit überraschenden Ergebnissen.
Hamburg. 100 Tage vor der 20. Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien ist unsicherer denn je, welche Mannschaft Favorit auf den Titel ist und wer überhaupt im deutschen Kader von Bundestrainer Joachim Löw sein wird. Das hat zu tun mit Formkrisen und einer Fülle von Verletzungen bei Spielern, die schon weit vor dem Turnier als gesetzt und Säulen ihrer Mannschaften gehandelt wurden. Und es hat zu tun mit den Meisterschaften und europäischen Wettbewerben wie der Champions League.
Hier spielen die Stars, die bei der WM eine herausragende Rolle einnehmen sollen: Lionel Messi, Neymar, Cristiano Ronaldo, Xavi und Andres Iniesta in Spanien, in Deutschland etwa Philipp Lahm, Manuel Neuer, Franck Ribery, Javi Martinez, Arjen Robben, Mario Götze, Bastian Schweinsteiger. Aber je länger die Champions League Saison für sie dauert, desto größer das Verletzungsrisiko. Das hat man etwa an den Dortmunder Borussen Ilkay Gündogan, Mats Hummels und Marco Reus gesehen.
Zwei Fragen drängen sich auf: Werden sie nachhaltig fit für das kräftezehrende Turnier bei tropischen Temperaturen? Haben sie im Sommer ausreichend Spielpraxis?
Denn eines vergisst man immer, wenn man Löws Truppe, die Brasilianer oder die Argentinier als WM-Favoriten bezeichnet: Bei den letzten großen drei Turnieren waren es immer die Spanier, die auf den Punkt fit waren. Die beispielsweise die EM 2012 müde gegen Italien begannen und das Turnier mit einem grandiosen Triumph über eben diese Italiener abschlossen.
Die Spanier, obwohl mit ihrem Tiki-Taka in die Jahre gekommen, können schaffen, was als Wortschöpfung in die Fußballgescichte eingehen kann: das Quadruple. Vier große Titel hintereinander nach EM 2008, WM 2010 und EM 2012 auch den Sieg in Brasilien.
Da werden vor allem die Gastgeber etwas dagegen haben, die nicht überzeugend, aber mit der Brechstange den Confederations Cup 2013 gewannen. Und vor allem Löws deutsche Mannschaft wird sich nicht mehr von den Spaniern an die Wand spielen lassen. In ihren Vereinen haben die Bayern und die Dortmunder bewiesen, wie man gegen den FC Barcelona, Herzstück der spanischen Truppe, und gegen Real Madrid auftreten kann. Das spielt im Hinterkopf mit, sollte es in Brasilien zum Aufeinandertreffen der beiden Teams kommen.
Bis dahin ist es aber noch ein langer Weg. Denn die Vorrundengegner Portugal, Ghana und USA haben so ihre speziellen Erfahrungen mit der DFB-Elf gemacht. Im USA-Spiel kommt es zum Aufeinandertreffen von Jürgen Kinsmann und Joachim Löw, Pilot und Co-Pilot des Sommermärchens 2006. Die Ghanaer haben bei der WM 2010 gezeigt, wozu sie mit Kevin-Prince Boateng fähig sind. Und die Portugiesen sind so etwas wie der kleine Gastgeber in Brasilien.
Anders als in früheren Turnieren muss die deutsche Mannschaft diesmal recht spät zum ersten Spiel antreten. Während die WM am 12. Juni beginnt, ist das Spiel gegen Portugal erst am 16. Juni. Dann verstreichen fünf und noch einmal fünf weitere Tage, bis die beiden anderen Vorrundenspiele angepfiffen werden. Möglicherweise gibt das den Verletzten und nicht Eingespielten mehr Zeit, um auf WM-Niveau zu kommen.
Knapp vier Wochen vor dem Abflug nach Brasilien (7. Juni) kommt es in Hamburg zum Freundschaftsspiel gegen Polen. Am 13. Mai können sich die Hamburger schon einmal einen Eindruck vom Zustand der deutschen Nationalmannschaft machen. Mit etwas Glück und Geschick sind dann auch einige HSVer im Team.
Die DFB-Auswahl im Abendblatt-Check
Neuer: Er setzt die Tradition deutscher Nationaltorhüter fort, er ist als Welt-Torwart die absolute Nummer eins, an ihm wird nicht einer „klingeln“ können, egal wie auch immer er heißen mag. Manuel Neuer ist der Überflieger zwischen den deutschen Pfosten – und nicht der Hamburger Adler. Tendenz: deutscher Stamm-Towart.
Weidenfeller: Er dürfte auf seine „alten Tage“ froh sein, dass ihm ein solcher Brasilien-„Urlaub“ vom DFB gespendet wird, eine reelle Chance, dass er tatsächlich ein WM-Spiel bestreiten wird, hat er nicht. Dabeisein ist alles, das wäre ohnehin schon das größte Glück des Dortmunders, dem die jungen Leute wie Leno, ter Stegen, Baumann, Fährmann und Trapp schon im Nacken sitzen. Tendenz: das wird nichts mit Brasilien.
Adler: Er wird sich enorm steigern müssen, wenn er im Sommer mit einer Rückennummer durch Brasilien fliegen will. Die Ausbootung für das Chile-Länderspiel war ein erster Schuss vor den Bug, der BTT (Bundes-Torwart-Trainer) Andreas Köpke räumt dem Hamburger Schlussmann zwar weiterhin gute Chancen auf ein WM-Ticket ein, aber jetzt schon steht fest, dass sich Adler kein neuerliches „Braunschweig-Desaster“ wird erlauben können – ansonsten Urlaub in der Karibik. Tendenz: Wenn es ein WM-Ticket geben sollte, dann eines ohne Spielberechtigung.
Zieler: Ist so etwas wie die „graue Maus“ der deutschen Torhüter, seine Leistungen stagnieren, Hannover 96 ist kein Verein, mit dem sich ein Keeper ganz nach vorne spielen kann. Zieler wird um Brasilien „herumkommen“ und kann sich nach entspannter Sommerpause richtig gut auf die neue Bundesliga-Saison vorbereiten. Tendenz: keine WM-Teilnahme.
ter Stegen: Könnte der lachende Dritte werden, seine Chancen stehen schon deswegen nicht so schlecht, weil er ja gedenkt, künftig für den FC Barcelona Tore zu verhindern. Und welcher (Bundes-)Trainer wird es sich erlauben dürfen, unter einigen gleich guten Keepern den Schlussmann des FC Barcelona daheim zu lassen? Allerdings: Er patzte bislang immer, wenn er für Nationalmannschaft spielte (26.5.2012: 3:5 in der Schweiz; 15.8.2012: 1:3 gegen Argentinien in Frankfurt; 2.6.2013: 3:4 in den USA – Eigentor von ter Stegen). Tendenz: In Brasilien dabei, aber nur als Ersatzmann.
Boateng: Er hat sich zum besten deutschen Innenverteidiger gemausert, auch wenn er seinen Hang zur Lässigkeit und zur Nachlässigkeit noch etwas härter bekämpfen sollte. Tendenz: Einsatz in Brasilien.
Lahm: Der Kapitän fliegt natürlich zur WM, es ist nur noch nicht geklärt, auf welcher Position er zum Einsatz kommen wird. Rechter Verteidiger, linker Verteidiger, Sechser? Da er alles kann, ist es unerheblich, er wird eine Stütze des DFB-Teams sein. Er forderte rasche Klarheit von Löw, wo er spielt. Doch angesichts der Verletztenmisere kann es sein, dass Löw das lange offen hält. Tendenz: Stammspieler bei Jogi Löw.
Hummels: Sollte seine Fitness so schnell wie möglich auf 100 Prozent bringen, und wenn ihm das gelingen sollte, dann fliegt er mit über den großen Teich. Aber dann. Dass aus ihm ein Stammspieler wird, scheint im Moment mehr als fraglich, weil zwei Spieler der Marke „Bruder Leichtfuß“ (neben Boateng) kaum zu verkraften sind. Tendenz: Dabei, aber nur auf der Bank.
Mertesacker: Spielt in London eine gute Saison, ist bei Arsenal gesetzt, das dürfte ihm helfen, auch bei Löw eine „kleine Nummer“ zu werden – die Rückennummer fünf. Tendenz: WM-Stammspieler.
Höwedes: Hat zu kämpfen, denn gut sah das, was der Schalker zuletzt spielte, gewiss nicht aus. Für ihn spricht allerdings, dass er vielseitig einsetzbar ist, als Verteidiger, Innenverteidiger und sogar im defensiven Mittelfeld. Tendenz: Wenn er dabei ist, dann aber von vielen Sorgenfalten auf der Stirn des Bundestrainers begleitet.
Schmelzer: Er ist, falls Lahm nicht nach links rutschen wird, wohl die erste Wahl auf dieser Position – aber gewiss nicht die beste. Hinten links könnte sich für die deutsche Mannschaft zur Achillesferse entwickeln, Schmelzer hält internationalen Kriterien kaum stand. Tendenz: Dabei, aber nur deswegen, weil es kaum Alternativen gibt.
Jansen: Könnte sich mit seiner Erfahrung in die Mannschaft spielen, beim HSV hat er in dieser Spielzeit als einer der wenigen Hamburger Profis fast immer überzeugt. Da auch der DFB (und Jogi Löw) auf den langen Blonden mit dem linken Fuß steht (stehen), könnte Jansen die Gunst der Stunde (kaum Linksverteidiger in Deutschland) nutzen. Tendenz: Dabei, und zwar als Mann für hinten links.
Westermann: Gilt als Allrounder, wurde vom Bundestrainer immer dann geholt, wenn Not am Mann war – aber in diesem Sommer wird es keine Not-Situation geben, denn alle wollen mit, und deswegen bleibt der Hamburger unberücksichtigt. Tendenz: Urlaub auf Mallorca.
Großkreutz: Überzeugt in dieser Saison auf ungewohnter Position als Rechtsverteidiger und spielt auch international mit Dortmund auf hohem Niveau. Viel hängt davon ab, auf welcher Position Löw mit Lahm plant. Sein großer Pluspunkt ist, dass er flexibel einsetzbar ist. Für Dortmund hat er schon auf fast jeder Position gespielt, sogar im Tor. Nur im Sturm war Großkreutz noch nicht zu finden. Tendenz: Mit Chancen auf ein Ticket.
Lars Bender: Er spielt eher wie „Schmidtchen Schleicher“, stets unauffällig, aber stets im Dienste der Mannschaft, das macht ihn so wertvoll. Tendenz: WM-Fahrer.
Sven Bender: Ist nicht nur der andere Bender-Zwilling, sondern auch eine fußballerische Kopie des Bruders. Solide, zuverlässig, unauffällig – und das immer zu 100 Prozent. Tendenz: Könnte im Zweikampf mit seinem Bruder den Kürzeren ziehen.
Gündogan: Er sollte irgendwann einmal wieder mit Fußball beginnen, sonst könnte es eng werden, denn er müsste ja auch eine gewisse (WM-)Form vorweisen können – und nicht nur mitlaufen. Ist er fit und in Form, wird er eine Stütze sein (können). Tendenz: Der Noch-Dortmunder ist dabei.
Khedira: Müht sich nach seinem Kreuzbandriss um den Anschluss an die Kollegen. Die Zeit sollte trotz aller (unerwarteten) Fortschritte reichen, um wieder topfit zu sein. Doch bei einer WM braucht jeder Teilnehmer vor allem eines: Spielpraxis. Tendenz: Der „Spanier“ fährt mit unter die brasilianische Sonne.
Kroos: Ein Mann mit einem riesigen Selbstvertrauen, wenn es nach ihm geht, würden wahrscheinlich von hinten bis vorne nur Kroos und Kroos und Kroos spielen. Bei Bayern haben sie es erkannt und ihn schnell mal draußen gelassen, was er überhaupt nicht „verknusen“ kann – mal sehen, wie Jogi Löw diesen Fall angeht. Kroos könnte ein kleiner „Pflegefall“ werden, wenn er draußen sitzt und meckert. Tendenz: Dabei, aber er wird über die Bank kommen müssen.
Özil: Er ist einer der besten deutschen Spieler dieser Zeit, daran ändert auch seine „schlimme“ Vorstellung gegen Dortmund nichts. Mit seinem linken Fuß wird der Arsenal-Profi Deutschland nach vorne treiben – und nebenbei die ganze Welt verzaubern. Tendenz: WM-Stammspieler.
Götze: Er wird beim FC Bayern immer besser, spielt auch in München schon eine tragende Rolle, er ist immer noch ein riesiges Juwel und dadurch einer der beste deutschen Techniker. Tendenz: In Brasilien dabei, wenn auch nicht unbedingt immer von Beginn an im Team, da es – zum Glück für Deutschland – ein Überangebot an guten Offensiv-Spielern, die aus dem Mittelfeld kommen, gibt.
Schweinsteiger: Er gehört natürlich zu dieser Nationalmannschaft, die Frage wird nur sein, ob der „Schweini“ auch fit sein wird im Sommer? Da sind leichte Zweifel angebracht, auch wenn das in München mit einer Handbewegung vom Tisch gefegt wird. Ist Schweinsteiger voll im Saft, dann spielt der den Sechser wie kaum ein anderer: Tendenz: Dabei, weil er auch ein absoluter Liebling von Löw ist – und natürlich einer der besten deutschen Spieler.
Müller: Müller ist ein Schlitzohr, und solche Typen werden dringend benötigt. Immer dann, wenn ein jeder denkt, dass dieser Müller auf dem Rasen eingeschlafen sein muss, schlägt er zu. Er kommt wie aus dem Nichts, das macht ihn so unberechenbar-gefährlich. Tendenz: Der WM-Torjäger von 2010 ist natürlich dabei.
Reus: Der Dortmunder kommt auf leisen Füßen, hat es aber bei seinen Dribblings faustdick hinter den Ohren. Lässt er sich von niemanden den Schneid abkaufen, dann wird auch er die Fußball-Welt in Erstaunen versetzen, denn Slalomläufe a la Reus ist wie eine blaue Mauritius – eine echte Rarität. Tendenz: Natürlich WM-Fahrer.
Draxler: Kann alles, ist schnell, dribbelstark, ideenreich, torgefährlich und noch so jung und lernfähig. Letzteres ist ein ganz wichtiger Punkt, denn der Schalker steht an einem ganz entscheidenden Punkt in seiner (vielleicht großen) Karriere. Wenn nicht jetzt, wann dann? Draxler muss erwachsen werden, die richtigen Prioritäten setzen, um seine Stärken voll ausspielen zu können, damit sollte er jetzt und sofort beginnen. Tendenz: Hat sein WM-Ticket noch nicht sicher.
Podolski: Er überzeugte immer bei den großen Turnieren, obwohl vorher immer umstritten, auch dieses Jahr. Kein Stammspieler bei Arsenal. Torgefährlich, sorgt für überraschende Momente. Tendenz: Im Kader, aber nicht erste Elf.
Schürrle: Er ist ein Konterspieler, und von dieser Stürmer-Art hat Deutschland nicht allzu viele. Leider kommt der „Pfeil“ viel zu selten beim FC Chelsea zum Einsatz, sodass er sich in dieser Saison kaum einmal in den Vordergrund spielen oder gar aufdrängen konnte. Tendenz: Wenn Brasilien, dann bekommt er eines der letzten Tickets, aber ein Muss ist das nicht.
Gomez: Sucht in Italien noch seine Form, die lange Verletzungspause hat ihn total aus dem Tritt gebracht. Es wird ein Risiko sein, Gomez aus Florenz mit zu dieser WM zu nehmen, aber Löw wird sich nicht mehr groß auf Stürmer-Suche begeben und wird es wohl eingehen. Tendenz: WM-Fahrer, aber ohne den Anspruch auf einen Stammplatz stellen zu können.
Kruse: Tauchte zuletzt in Mönchengladbach ab und „abber“, da ist nichts von WM-Form zu erkennen. Kaum Tore, keine großen Ideen (mehr), kein richtiges Tempo in seinen Läufen – er wird sich enorm steigern müssen. Tendenz: Das wird nichts mit Brasilien.
Klose: Taucht bei Lazio Rom auf und ab, so spielte er auch stets und einst in der Bundesliga. Klose weiß, wo das Tor steht, er ist in den meisten Torraumszenen kaltschnäuzig wie kaum ein anderer deutscher Stürmer, er ist ein Tor-Garant, beißt eiskalt zu wie eine Schlange. Tendenz: Natürlich im Sommer in Brasilien.
Kießling: Kann noch so viele Tore für Leverkusen schießen, für Deutschland wird das nichts mehr. Er hat es sich mit Jogi Löw verdorben, dabei bleibt es. Ende. Tendenz: Urlaub irgendwo auf der Welt, aber Brasilien wird es nicht.
Lasogga. Könnte noch als einer der letzten Spieler auf den WM-Zug aufspringen, und der Bundestrainer hätte damit auch keinen schlechten Fang gemacht, denn der „Hamburger Brecher“ könnte dann immer noch für Stimmung im deutschen Sturm sorgen, wenn zuvor nicht mehr viel ging. Tendenz: Lasogga wird ein Glückspilz – und fliegt mit zur WM.