Den deutschen Hadballern droht erstmals das Aus in einer EM-Vorrunde. Keine guten Aussichten für die Nachfolger der “goldenen Generation“.
Innsbruck. Die Ruhmeshalle des deutschen Handballs ist an diesem Donnerstagmorgen im Hotel „Grauer Bär“ in Innsbruck zu besichtigen. Stefan Kretzschmar, Daniel Stephan und Christian Schwarzer stehen gemeinsam in der Ecke des Seminarraums 1. Sie, drei herausragende Vertreter der viel gepriesenen goldenen Generation, sind als Beobachter zur Europameisterschaft nach Österreich gekommen. Sie stellen ihr Fachwissen den Medien zur Verfügung. Aber derzeit eint sie auch das Gefühl, dass ihre Hilfe gebraucht wird, dringender denn je.
Ihre Nachfolger stehen auf der anderen Seite des Raumes und geben Interviews, aber aus ihren Gesichtern spricht Ratlosigkeit. Sie sind mit einer Niederlage (gegen Polen) und einem Unentschieden (gegen Slowenien) in das Turnier gestartet und müssen im letzten Gruppenspiel gegen Schweden heute (18.15 Uhr/ARD) wenigstens einen Punkt ergattern, andernfalls wäre Deutschland erstmals bei einer EM in der Vorrunde gescheitert. „Wir werden uns steigern müssen“, hat Bundestrainer Heiner Brand gesagt. Es ist der Satz, der sich wie ein roter Faden durch die Vorbereitung und das Turnier zieht.
Hoffnung verteilt sich auf vier Schultern
Mit „Wir“ meint Brand seinen Rückraum, die Problemzone dieser Mannschaft. Kapitän Michael Kraus fehlt derzeit die Führungskraft. „Aber nicht nur der Spielmacher, alle Rückraumspieler sind für unser Angriffsspiel in der Verantwortung“, stellt Brand klar. „Und da hatte ich mir schon mehr Konsequenz und Disziplin erhofft.“
Diese Hoffnung ruht auf einem Paar breiter und einem Paar schmaler Schultern. Die breiten gehören Lars Kaufmann. Der Göppinger ist seit Langem bekannt für seine harten Würfe und neuerdings auch dafür, dass sie platziert sind. So ist es jedenfalls in der Bundesliga. Dort führt Kaufmann mit 124 Toren die Liste der besten Schützen an. Er hatte wesentlichen Anteil am Aufstieg der Göppinger auf Platz drei. Kaufmann (27) sagt, es läge daran, dass er von Vereinstrainer Velimir Petkovic das Vertrauen geschenkt bekomme, das bei seiner früheren Station in Lemgo gefehlt hatte: „Dadurch habe ich mein Selbstbewusstsein zurückgewonnen.“
Bei der EM muss er den Hamburger Pascal Hens ersetzen, den vielleicht letzten großen Star, der dem deutschen Handball geblieben ist. Früher beschränkten sich seine Einsätze meist auf wenige Minuten. „Ich hatte nicht das Standing, mir mal zwei oder drei Fehlwürfe leisten zu können“, sagt Kaufmann. Nun darf er es wieder und wieder versuchen, denn eine echte Alternative hat Brand nicht. 13 Tore hat Kaufmann bei der EM gemacht, kein Spieler hat an den ersten beiden Spieltagen aus dem Feld öfter getroffen. Doch er hat dafür sagenhafte 29 Würfe benötigt. Manchmal wäre es wohl besser gewesen, den Ball nach außen weiterzuleiten. „Unsere Außen sind auf die Unterstützung aus dem Rückraum angewiesen“, mahnt Stephan. Aber Kaufmann ist das, was man im Handball einen Shooter nennt.
Es fehlt das große Ganze
Das verbindet ihn mit Holger Glandorf, dem Schmalschultrigen. Auch er war 2007 Weltmeister, aber anders als Kaufmann füllte der Linkshänder schon damals eine tragende Rolle im rechten Rückraum aus. Es gab Zeiten, da traf Glandorf, wie er wollte. In denen niemand die Frage gestellt hat, die Kretzschmar nach dem Slowenien-Spiel stellte: „Warum machen denn bei den anderen Nationen die Außen die meisten Tore und bei uns die wenigsten?“ Glandorf war nie einer, der sich darauf verstand, seine Nebenleute in Szene zu setzen. Dieses Dilemma tritt nun zutage, da ihm wie so vielen Lemgoer Spielern die einstige Sicherheit abhandengekommen ist. Er sagt: „Ich bin auch keine Maschine.“
Es ist nicht abzusehen, ob Kaufmann und Glandorf, die beiden Halben im Rückraum, bei dieser EM mit Kraus oder dem zweiten Mittelmann Michael Haaß noch zu einem Ganzen zusammenwachsen. Im Spiel gegen Slowenien waren zumindest Ansätze zu erkennen. Brand sagt: „Wenn es ein Lernprozess ist, kann ich damit leben, dann werden wir bei künftigen Turnieren noch Freude haben an dieser Mannschaft.“
Als keine Fragen mehr offen sind, zieht Schwarzer Kaufmann beiseite und redet beschwörend auf ihn ein: „Junge, sieh zu, dass du den Außen im Blick hast, wenn du aufs Tor gehst!“ Dann gibt er ihm einen freundschaftlichen Klaps, und Kaufmann nickt. Ob er verstanden hat, wird man heute Abend sehen.