Reinbek. Geflüchtete Frauen haben nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine in Reinbek Zuflucht gefunden. Doch nicht alle wollen bleiben.
Gehen oder bleiben? Mehr als zwei Jahre nach Kriegsausbruch wird die Frage für die Flüchtlinge aus der Ukraine immer drängender. Aktuell sind 153 ukrainische Familien – darunter viele Frauen und Kinder – in Reinbek untergebracht. Sie alle haben von einem Tag auf den anderen alles zurückgelassen, was ihr Leben ausmachte – ihr Zuhause, ihre Arbeit und die Frauen ihre Männer, die Väter ihrer Kinder.
Wie geht es ihnen heute? Sind sie in Reinbek angekommen? Werden sie für immer bleiben? Wir haben drei junge ukrainische Frauen befragt, die ganz unterschiedliche Antworten für sich gefunden haben.
Flüchtlinge: Zurück ins Kriegsgebiet? So entscheiden sich Ukrainerinnen
Es braucht etwas Überredungskunst für das Interview mit Veronika Sovichevskaya. Aber nicht, weil die 33-Jährige nicht will, sondern weil sie lernen muss. Am nächsten Tag muss sie zum B1-Deutsch-Sprachtest. Und den nimmt die hübsche Frau mit den langen schwarzen Locken sehr ernst. Dann aber kommt sie doch und es sprudelt nur so aus ihr heraus. Wenn ihr die deutschen Worte fehlen, wechselt sie ins Englische. Die Architektin und Interior-Designerin hat eine Zeitlang in London gelebt und studiert.
An die ersten anderthalb Jahre in Reinbek denkt sie nicht gern zurück: „Das war eine sehr schwarze, angstvolle Zeit“, sagt Veronika Sovichevskaya. In der Zeit sei sie krank geworden, konnte plötzlich nicht mehr laufen und fand es als sehr belastend, sich beim Arzt kaum verständigen zu können. „Mich gut auszudrücken, war mir immer sehr wichtig.“
Flüchtlinge aus der Ukraine: In Deutschland stand sie vor dem Nichts
In Deutschland stand sie plötzlich vor dem Nichts – sprachlich und beruflich. In Odessa hatte sie sich schon etwas aufgebaut. Sie war eine erfolgreiche Architektin und Unternehmerin, die Häuser entwarf und einzugsfertig baute – samt dem Mobiliar, das in ihrer Manufaktur gefertigt wurde.
Dass nun alles anders war, nicht zu wissen, was kommt, wie es weitergeht, das musste sie erst einmal für sich verarbeiten und hätte sich dabei psychologische Hilfe gewünscht. Zugleich betont sie, dass sie den Reinbekern und Deutschen für ihre Unterstützung sehr dankbar ist. Vor allem ohne den Reinbeker Werner Schenk hätte sie die Zeit kaum überstanden. Der 77-Jährige sei wie ein Vater, habe sich rührend um sie und ihre Mutter gekümmert, fast jeden Wunsch erfüllt und sie bis zu dreimal in der Woche zum Sprachkursus der VHS nach Aumühle gefahren.
Flüchtlinge aus der Ukraine: Zukunft als Unternehmerin
Seit ein paar Monaten ist ihr Selbstvertrauen zurück, seitdem sie berufliche Pläne für die Zukunft schmiedet: „Ich gründe zusammen mit einer Geschäftspartnerin mein eigenes Unternehmen“, sagt sie und will damit an ihre bisherige Arbeit anknüpfen. „Wir helfen Menschen, ihren Wohnraum schöner zu gestalten, bieten optimierte Ordnungssysteme an und helfen beim Einrichten“, erklärt die Architektin die Geschäftsidee. Regale, Schränke, Küchen würde sie nach Wunsch und Maß entwerfen, in der Manufaktur in der Ukraine fertigen und nach Deutschland bringen lassen.
Gerade seien sie dabei, einen Namen zu finden und eine Website zu erstellen. Zudem lässt sie ihre Abschlüsse anerkennen. Bald wieder auf eigenen Füßen zu sein, sich eine Karriere aufzubauen, das gibt ihr Kraft. „Ich möchte gern in Deutschland bleiben“, sagt Sovichevskaya.
Ihr größter Wunsch: Die Familie wieder vereinen
Diese Entscheidung hat Nataliia Vanieieva noch nicht gefällt, denn als Mutter hat sie die Verantwortung für ihre dreijährige Tochter. „Wo wir zukünftig leben werden, hängt von der weiteren Entwicklung in der Ukraine ab“, sagt die 32-Jährige. Frieden – in welcher Form auch immer – das sei ihr größter Wunsch und, dass sie als Familie wieder zusammen sind.
Ihren Mann hat sie im März 2022 zurücklassen müssen, da war ihre Tochter gerade erst acht Monate alt. „Als Physiotherapeut und Osteopath wird er gerade sehr gebraucht“, sagt die junge, zurückhaltende Frau, die während des Interviews immer mal wieder ins Englisch wechselt. Ihr Deutsch sei noch nicht so gut, entschuldigt sie sich, berichtet aber stolz, dass sie mit ihrer Tochter bereits deutsche Kinderbücher liest.
Flüchtlinge aus der Ukraine: Zuerst im Kloster untergekommen
Zusammen mit ihren Eltern und ihrer Schwiegermutter ist sie vor dem Krieg geflohen. Dass sie in Reinbek gelandet sind, ist den Reinbeker Dörte und Bernd Gebert zu verdanken, die sie kannte und die ihr ihre Hilfe angeboten haben.
Die ersten Wochen ist sie mit ihrer Familie im Kloster des St.-Adolf-Stifts untergekommen. Weil die Zimmer dort sehr eng sind, hat ein Arzt des Krankenhauses sein Bergedorfer Haus für Monate für sie geöffnet und sie bei sich aufgenommen. Der Arzt hat ihnen auch die Reinbeker Wohnung nahe dem Krankenhaus vermittelt, in der sie nun zu dritt leben.
Flüchtlinge aus der Ukraine: Ein Fest der Dankbarkeit organisiert
„Ich bin den Deutschen für ihre Unterstützung und Gastfreundschaft so dankbar“, sagt Vanieieva. Deswegen hat sie bereits im Herbst 2022 einen „Abend der Dankbarkeit“ mit ukrainischem Tanz, Musik, Modenschau, Theater und Essen für fast 100 Personen organisiert. „Ich habe den Wunsch, weitere solcher Veranstaltungen zu organisieren und die deutsch-ukrainische Kultur zu verbinden.“
Mit jedem Tag fühle sie sich hier mehr zu Hause, sagt sie. Ganz im Gegensatz zu ihren Eltern, die Ende 2022 wieder in die Ukraine zurückgekehrt sind. „Meine Mutter ist Modedesignerin. Mit Kindern und Jugendlichen entwirft sie in Projekten Kollektionen, die nicht zum Verkauf stehen“, erzählt die Ukrainerin stolz. Ihre Mutter habe mehr denn je zu tun, denn kreative Ablenkung vom Kriegsgeschehen ist das, was die Kinder und Jugendlichen jetzt am meisten brauchen.
Zentrum für persönliche Entwicklung aufbauen
Die Angst um ihre Familie in Kiew aber bleibt. Yoga und Meditation helfen ihr dabei, damit besser umzugehen. Eine Erfahrung, die sie gern weitergeben wollte. In Reinbek hat sie eine Gruppe ins Leben gerufen, in der sie alle – Ukrainer und Deutsche, Frauen und Männer – zum Mitmachen einlädt. Anfangs hat die Gruppe ihre Matten im Schlosspark ausgerollt, jetzt trifft sie sich regelmäßig bei der TSV Reinbek.
Ab Oktober hat ihre Tochter einen Platz in einer Reinbeker Kita. Dann möchte auch sie wieder arbeiten und das Gefühl haben, „nützlich zu sein“. „Mein Traum ist so etwas wie ein Zentrum für persönliche Entwicklung in Reinbek aufzubauen“, sagt die gelernte Thermophysikerin. In der Ukraine hatten ihr Mann und sie eine eigene Massagepraxis. Massagen will sie auch hier anbieten, genauso wie Yoga- und Meditationskurse. „Ich will Menschen helfen, Stress abzubauen.“ Denn das habe sie gelernt: „Stress haben die Menschen überall.“
„Für alles braucht man ein Zertifikat“
Einzig der Weg dorthin ist nicht so einfach. Denn die bürokratischen Hürden seien in Deutschland viel höher. „Für alles braucht man ein Zertifikat.“ Ganz anders als in ihrer Heimat: „Wer in der Ukraine eine Geschäftsidee hat, kann einfach einfangen.“
Nataliia Fedorenko hat sich für die Rückkehr entschieden. Fünf Monate, von März bis August 2022, hatten die 36-Jährige und ihr nun neun Jahre alter Sohn Dania vor dem Krieg in Reinbek Zuflucht gesucht. Doch zu groß wurden Heimweh und Einsamkeit, sie sind mit dem Bus zurück nach Hause gefahren – ohne vorher jemanden etwas davon erzählt zu haben. „Das war eine große Überraschung und alle waren sehr glücklich, uns wiederzusehen“, schreibt sie per Mail aus Kiew. Es sei wunderbar gewesen, wieder im eigenen Bett schlafen zu können, in der eigenen Wohnung zu sein – mit dem schönen Blick aus dem Fenster und allem Komfort. „Zum Glück ist die Wohnung heil geblieben.“
Flüchtlinge aus der Ukraine: Wieder zu Hause in Kiew
Nun arbeitet Fedorenko wieder als Psychologin und hilft Frauen, die Gewalt erfahren haben, was sie sehr ausfüllt. Nebenbei unterrichtet sie Sprachen. Während ihrer Zeit in Reinbek hat die Frau mit zwei Hochschulabschlüssen drei Stellenangebote erhalten. „Aber in meinem deprimierten Zustand konnte ich keines annehmen. Ich brauchte meine ganze Kraft, um mein und das Leben meines Sohnes neu zu ordnen.“
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Ihr Sohn ist glücklich, wieder bei seinen beiden Katzen und in seiner alten Klasse zu sein. „Fast alle seine Freunde sind auch in der Stadt, sie spielen jeden Tag zusammen.“ Das Lernen fällt ihm jetzt wieder leicht. Das war in Reinbek anders. Die Sprachhindernisse und die Trennung von Freunden und Familie haben ihren Sohn sehr gestresst, das Deutschlernen habe ihm große Probleme bereitet.
Flüchtlinge aus der Ukraine: Ganz nahe am russischen Raketeneinschlag
Zugleich bedeutet die Rückkehr, dass sie sich an „neue Realität mit größeren Gefahren und neuen Problemen“ gewöhnen mussten. Wie groß die Gefahr ist, hat sie diese Woche beim russischen Raketenangriff auf ein Kinderkrankenhaus in Kiew erfahren müssen. „Es was wirklich schrecklich. Ich stand gerade vor unserem Haus. Es knallte heftig, obwohl ich zehn Kilometer von der Explosion entfernt war. Autoalarme gingen an. Alle waren sehr erschrocken.“
Sie hatte großes Glück, denn eine Stunde vor dem Angriff war sie in der Nähe des Krankenhauses. „Wenn es früher passiert wäre, dann hätte auch ich verletzt sein können“, sagt sie. 14 Menschen sind bei dem Angriff, bei dem nicht nur das Krankenhaus, sondern noch fünf weitere Orte, darunter ein fünfstöckiges Wohnhaus, beschossen wurden. „Das ist Wahnsinn, dass heutzutage Menschen so grausam sterben müssen.“
Flüchtlinge aus der Ukraine: Freunde sind in ganz Europa verstreut
Auch in Kiew habe sich viel verändert: „Viele Menschen sind noch nicht wieder da.“ Viele ihrer Freunde sind in ganz Europa verstreut, viele davon sind in Montenegro. Zugleich sind neue Menschen aus östlichen Regionen in die Stadt gezogen. „Weil die Männer kämpfen müssen, fahren nun Frauen Taxi und Bus oder arbeiten in Handwerksberufen.“ Der Krieg sei überall: „Es gibt viele Uniformierte auf den Straßen, ständig Luftalarm, Nächte im Bunker oder zumindest im Flur, Kinder ohne Väter, bis zu 18 Stunden am Tag kein Licht …“, um nur wenige Beispiele zu nennen.
Auch sei der Ton zwischen den Menschen aggressiver geworden durch die innere Anspannung und die ständige Angst und weil immer wieder neue Probleme auftauchen, die gelöst werden müssen. Noch aber halten sie es aus, noch sei es okay.
Voller Dankbarkeit für die Zuflucht in Reinbek
Dankbar denkt sie an die Monate in Reinbek zurück. „Ich hätte bleiben können, aber ich habe verstanden, dass es für uns wichtiger ist, mit der Familie zusammen zu sein“, schreibt Fedorenko.