Reinbek/Odessa. Junge Ukrainerin berichtet über ihre Odyssee von Odessa nach Reinbek – mit Mutter und Nacktkatze. Wie sie ihre Zukunft sieht.

In den ersten Tagen nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine konnte Veronika Sovichevska überhaupt nicht realisieren, was passiert war. „Ich steckte bis zum Hals in Arbeit und feierte sogar noch mit einem Freund meinen Geburtstag“, berichtet die 31-Jährige. „Bei uns in Odessa war alles ruhig, es gab keine Soldaten und auch keine Bombardierung. Die ersten Sirenen nahm ich nicht richtig wahr.“

Die Innenarchitektin und Möbeldesignerin spricht Englisch, zwischendurch nutzt sie eine Übersetzungs-App auf ihrem Smartphone. Gemeinsam mit ihrer Mutter Victoria Osadcha und Nacktkatze Biser sitzt sie in der Wohnküche der Reinbeker Familie Beckmann, die sie aufgenommen hat. Durch das Fenster blickt man in den Garten. Wenn sie in Odessa aus dem Fenster ihrer Wohnung schaute in diesen Tagen, nahm sie immer mehr Menschen mit Gepäck wahr, und die geparkten Autos wurden in der Millionen-Stadt immer weniger. „Ständig chattete ich mit Freunden, um zu beratschlagen, was zu tun war“, berichtet die 31-Jährige. „Viele entschieden von einer Minute auf die andere, zu gehen.“ Als sie mit einem Freund unterwegs in die Werkstatt war, wo sie gemeinsam Möbel reparierten, ertönte wieder der Luftalarm. Ihre Mutter Victoria Osadcha rief an, drängte sie, in die Tiefgarage zu gehen. „Aber wir wollten ruhig bleiben und fuhren mit dem Aufzug hinauf“, erinnert sie sich. „Während wir hörten, wie immer mehr Menschen in diesem Gebäude mit 24 Stockwerken nach unten drängten, saßen wir dort, rauchten, blickten auf einen superschönen Sonnenuntergang und rätselten, was zu tun sei. Da habe ich zum ersten Mal Angst bekommen.“

Der Plan: mit einer Freundin nach Polen reisen

Sie entscheidet, eine Freundin nach Polen zu begleiten, die mit ihrer Firma nach Polen ausweichen will. „Ich fuhr zu meinen Eltern“, erzählt Veronika Sovichevska. „Mein Vater wollte das Haus nicht verlassen, seine Frau und seine Heimat verteidigen. Wir beratschlagen, was ich mitnehmen sollte. Ich habe die ganze Nacht gepackt. Wie soll man wissen, was man braucht, wenn man nicht weiß, ob man zurückkehrt?“

Die Fahrt mit ihrer Freundin und deren Mann an den nächsten Grenzübergang nach Moldawien, Palanca, gerät zur Odyssee. Noch auf dem Weg zur Stadtgrenze ertönen wieder die Sirenen, auf der Landstraße staut sich der Verkehr stadtauswärts auf drei statt auf sonst einer Spur. Dort sieht sie die ersten Panzersperren, mit der heute die gesamte Stadt gespickt ist. Die Zeit dehnt sich endlos.

An der Grenze geht das Auto kaputt

„Wir hatten einen acht Kilometer langen Stau vor uns, und die Sperrstunde saß uns im Nacken“, berichtet sie und zeigt Fotos auf ihrem Handy. „Viele Menschen ließen ihr Auto am Straßenrand stehen und gingen bei eisiger Kälte mit Gepäck, Kindern, Hunden oder Katzen auf dem Arm zu Fuß weiter zur Grenze.“ Denn um 20 Uhr wird der Übergang für Autos geschlossen.

Um 18 Uhr beginnt es plötzlich, unter der Motorhaube zu qualmen: Das Auto bricht zusammen. Sie müssen den Wagen schieben, ziehen alles an, was sie haben. Die Fliehenden wissen aber auch, dass die Straße kurz vor der Grenze ansteigt, bitten daher andere um Hilfe. Über Freunde versuchen sie parallel, einen Abschleppdienst aus Moldawien zu finden.

Der Mann der Freundin verschwindet

Doch der kann sie nicht mehr rechtzeitig erreichen. Tatsächlich finden sie einen Mann, der sie abschleppt, vorbei an der jetzt nur noch einspurigen Schlange. Sie parken den Wagen nahe der Grenze, ziehen alles an, was sie haben, nehmen ihr Gepäck und machen sich auf den Weg. An der Grenze gibt es herzzerreißende Abschiedsszenen, weil die Männer nur ihre Familien über die Grenze bringen. Dann gehen sie zurück, um ihre Heimat zu verteidigen. Der Mann ihrer Freundin will seiner Frau und ihr dies ersparen, sagt, sie sollten kurz auf ihn warten – und verschwindet. Veronika Sovichevska kommen jetzt noch die Tränen, wenn sie daran denkt: „Die Grenzbeamten drängten uns zur Eile, aber wir haben immer noch gehofft, er kommt gleich, um uns verabschieden zu können“, schluchzt sie. Sie wissen nicht, ob sie ihn jemals wiedersehen.

An der Grenze ist alles gut organisiert, die Menschen sind hilfsbereit, bringen heißen Tee und Essen. Die beiden jungen Frauen sind in Sicherheit. Doch sie fühlen sich allein und landen in einer Notunterkunft. Sie schlafen zu zweit in einem Bett. Drei Tage dauert es, bis der Wagen so weit repariert ist, dass sie weiterfahren können. Sie durchqueren Moldawien, Rumänien, Österreich und landen schließlich in Budapest. Jedes Mal kaufen die Frauen eine neue Sim-Card, um den Kontakt mit den Angehörigen zu halten.

Es hätte sich wie Verrat angefühlt, den Kater zurückzulassen

„Meiner Mutter ging es sehr schlecht“, erzählt Veronika Sovichevska. „Sie hatte im vergangenen Sommer eine Operation, jetzt gab es ständig Luftalarm, und sie musste jedes Mal mit unserem Kater Biser und den Nachbarn in den Keller. Das ist ein selbst gebauter Kartoffelkeller, und es war eisig. Meine Mutter litt unter heftigen Kopfschmerzen und ständig steigendem Blutdruck. Ich war in großer Sorge.“ Als sie schließlich eine Blutdruck-Krise erleidet, kann ihre Tochter sie überzeugen, ebenfalls zu fliehen. Ihr Vater, mit 62 Jahren zu alt, um Soldat zu werden, will trotz allem bleiben.

Für Victoria Osadcha steht fest: Kater Biser muss mit. „Er ist für uns ein Familienmitglied, und es hätte sich wie Verrat angefühlt, ihn zurückzulassen“, sagt sie. Biser ist russisch und heißt übersetzt „Glasperlen“. Denn so sähen seine Augen aus, erklärt Victoria Osadcha. Biser ist eine Sphynx-Katze und anders als andere Katzenrassen sehr menschenbezogen. Seine Besitzerin verzichtet auf einen Teil ihres Gepäcks, damit sie seine Decke, seine Kratzmatte und sein Klo mitnehmen kann. Außerdem braucht sie ihre Medikamente. Ihre Tochter Veronika entdeckt eine neu eröffnete sicherere Fluchtroute und organisiert alles für ihre Mutter und den Kater. „Biser ist ein Teil unserer Heimat “, erklärt die 31-Jährige. „Wenn wir ihn streicheln, fühlt es sich ein wenig so an, als wären wir zu Hause.“

Nächster Schritt: ein Job in Deutschland – und eine Familie?

Veronika Sovichevska reist ihrer Mutter mit dem Zug entgegen, erwartet sie in Rumänien. Dort nimmt eine Frau sie auf, die sie im Hilfszentrum der Unterkunft kennengelernt hat. „Livia, ihr Bruder Laurentiu und dessen Frau Roxana sind echte Freunde geworden“, erzählt sie dankbar. „Wir sprechen oft miteinander.“ Drei Tage lebt sie bei der Familie, bis ihre Mutter endlich in Rumänien eintrifft. „Als sie da waren, hatte ich das Gefühl, jetzt kann ich alles schaffen“, erzählt die junge Frau. Ihre Freundin Livia vermittelt ihr den Kontakt zu Familie Gebert in Reinbek. Die setzt alles daran, ein Obdach für die beiden zu finden, während sie noch im Zug nach Hamburg sitzen – doch mit Katze ist das nicht einfach. „Biser verhielt sich unterwegs instinktiv richtig. Im Zug blieb er die ganze Zeit bei uns am Platz“, erinnert sich die Ukrainerin. Auf der Fahrt erhält sie das Foto der Familie Beckmann auf ihrem Handy: Sie wollten sie samt Biser aufnehmen. „Ich wusste gleich, jetzt wird alles gut“, sagt Veronika Sovichevska. „Wenn der Krieg endet, kann ich meinem Land helfen. Aber solange suche ich meine Zukunft hier und vielleicht meine zukünftige Familie, die ich hier kennenlernen werde. Jetzt sucht die 31-Jährige eine Arbeit (cream.veronika@gmail.com).