Geesthacht. Der Fraktionschef der Grünen ist mit der Verdienstnadel des Landes Schleswig-Holstein geehrt worden. Das ist seine bewegende Geschichte.
- Ali Demirhan kam vor 50 Jahren als Gastarbeiterkind nach Deutschland
- Hauptschulabschluss, Ausbildung, Studium und heute ein ausgezeichneter Politiker
- Welche Rolle ein Sportverein bei seinem Werdegang spielte
Als Ali Demirhan 1975 im Alter von neun Jahren nach Deutschland kam, verstand er kein einziges Wort Deutsch. So wurde der Sohn einer türkischen Gastarbeiterfamilie aus Nigde in Kappadokien in der vierten Klasse an der Buntenskampschule in Geesthacht eingeschult und nach einem Jahr auf die Hauptschule versetzt. Doch Demirhan hat sich hochgearbeitet und ist heute ein Paradebeispiel für gelungene Integration.
Für Geesthachter mit türkischem Migrationshintergrund ist er auch heute noch der „Sekretär“, wegen seiner Hilfe beim Übersetzen und Ausfüllen von amtlichen Dokumenten. Für seine Verdienste in der deutschen Kommunalpolitik erhielt der 59-Jährige Mitte November vom schleswig-holsteinischen Innenministerium nun sogar die Freiherr-vom-Stein-Verdienstnadel.
Der Geesthachter Ali Demirhan ist ein Vorbild für Migranten
Bei der Ehrung in Kiel, bei der auch Dassendorfs Bürgermeisterin Martina Falkenberg ausgezeichnet wurde, war Demirhan der einzige Politiker mit Migrationshintergrund. „Ich hoffe, dass ich mit meinem Werdegang auch als Vorbild für den einen oder anderen Migranten dienen kann“, sagt der Geesthachter. Und das, obwohl er aus einem bildungsfernen Elternhaus stammte und ab seinem 16. Lebensjahr ohne Vater aufwuchs.
Vater Derviş Demirhan hatte in der Türkei nur die Grundschule besucht, Mutter Penpe war Analphabetin. „Vom deutschen Bildungssystem hatten sie keine Ahnung“, sagt Ali Demirhan. Der Vater, seit 1969 in Norddeutschland und Arbeiter bei der früheren Teppichfabrik und im Straßenbau, holte die Familie – Ali Demirhan hat fünf Geschwister – zwischen 1973 und 1975 nach.
Erst Hauptschüler, jetzt stellvertretender Haspa-Betriebsratsvorsitzender
Doch bereits 1981 starb der Vater mit nur 47 Jahren bei einem Arbeitsunfall. Ali Demirhan hatte da gerade einen Monat zuvor seine Ausbildung bei der Geesthachter Firma Schmidt zum Gas- und Wasserinstallateur begonnen. „Nachdem ich für mein gutes Hauptschulzeugnis eine Auszeichnung vom damaligen Bürgermeister Karsten Ebel bekommen hatte“, wie er bemerkt.
Während des Aufenthalts in der Türkei anlässlich der Beerdigung wurde Ali Demirhan 16 Jahre alt und plötzlich ein Opfer der Bürokratie. Deutschland hatte damals die Einreisebestimmungen geändert, sodass ihm am Flughafen die Rückkehr verweigert wurde. Hintergrund: Ab 16 Jahren bestand jetzt eine Visa-Pflicht, während Jüngere weiter ohne Beschränkungen einreisen konnten.
Ausbilder Walter Köchel wurde eine Art Ersatzvater
„Sechs Wochen war ich alleine in der Türkei und musste auf das Visum für ein Land warten, in dem ich sechs Jahre gelebt hatte“, betont Demirhan. Doch sein Ausbildungsbetrieb ließ ihn nicht fallen. Mehr noch: Sein Ausbilder Walter Köchel wurde so etwas wie ein Ersatzvater. „Von ihm habe ich eine ganze Menge gelernt, seine Sicht auf Menschen und seine Toleranz“, lobt er den im Geesthachter Raum bekannten, langjährigen Fußballtrainer, der am 17. Mai dieses Jahres verstorben ist.
Auch färbte Köchels Liebe zum Fußball auf Demirhan ab. Er wurde Schiedsrichter bis zur höchsten Hamburger Spielklasse und 2. Vorsitzender beim FC Geesthacht, einem von Menschen mit türkischen Wurzeln gegründeten Fußballklub (heute FSV Geesthacht). Über den Sport fand er den Weg in die Politik.
Seit 1997 Mitglied bei den Grünen
Nach dem Brandanschlag von Solingen, bei dem im Mai 1993 fünf türkisch-stämmige Menschen ermordet wurden, organisierte Demirhan eine Demo mit dem FC Geesthacht gegen Fremdenfeindlichkeit. „Vor Zigarren Fries habe ich dann auf einem Findling stehend meine erste Rede gehalten“, erinnert er sich.
1997 trat er schließlich den Grünen bei. „Weil sie sich aus meiner Sicht am meisten für Integration und soziale Belange kümmern“, so Demirhan. Schon ein Jahr darauf engagierte er sich als bürgerliches Mitglied in der Lokalpolitik. Seit 2003 gehört er der Geesthachter Ratsversammlung an und ist inzwischen seit 16 Jahren der Fraktionsvorsitzende der Grünen in der Stadt.
Gute Sozialpolitik als Mittel gegen Populisten
In der Zeit machte er sich in diversen Ausschüssen und als Aufsichtsratsmitglied von städtischen Tochtergesellschaften verdient. Er setzte sich für die Stilllegung des Kernkraftwerks Krümmel, den Bau von Sportplätzen, den viel diskutierten Erhalt der Bäume beim Umbau der Fußgängerzone, für die Reaktivierung der Bahn oder die Einführung der 25-Prozent-Klausel an Sozialwohnungen bei Neubauprojekten ein. Die Liste ließe sich noch weiter fortsetzen.
„Wir haben den Verkauf der städtischen Wohnungen verhindert, 2013 wurde dann die WoGee zur Schaffung von bezahlbarem Wohnraum gegründet“, so Demirhan. Für ihn ein Schlüssel, damit Gräben im Land kleiner werden können. „Wir haben große soziale Ungerechtigkeiten, die Deutsche und Migranten gleichermaßen treffen. Das wird aber von Populisten ausgenutzt, die suggerieren, dass es an einer bestimmten Gruppe liegen würde. Die Probleme lassen sich nur mit einer vernünftigen Sozialpolitik lösen. Wir brauchen bezahlbaren Wohnraum und eine andere Verteilung von Vermögen“, ist er überzeugt.
Demirhan: „Ich lasse mich nicht deportieren“
„Dafür setze ich mich ein und lasse mich auch nicht irgendwo hin deportieren (Anspielung auf eine AfD-Forderung, die Red.). Ich gehöre hierher. Geesthacht ist meine Stadt und Deutschland mein Land“, sagt Demirhan.
Beruflich war der Gesellenbrief als Gas- und Wasserinstallateur nicht das Ende: Mittlere Reife, Fachabitur, die Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann über eine Abendschule während der Arbeit bei Glunz in Bergedorf und ein BWL-Studium. 2001 dann der Wechsel zur Haspa, inzwischen ist der Finanz- und Vermögensberater seit 2022 für die Arbeit als stellvertretender Haspa-Betriebsratsvorsitzender freigestellt. In der Geesthachter Politik will er mindestens bis zur Kommunalwahl 2028 aktiv bleiben.
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Tochter Sina Koriath vertritt die Grünen ind er Hamburger Bürgerschaft
Glückwünsche zur Verleihung der Freiherr-vom-Stein-Verdienstnadel kommen auch vom politischen Gegner. „Ich freue mich sehr, dass ein streitbarer Kommunalpolitiker mit türkischen Wurzeln ausgezeichnet wird. Es ist nicht einfach, sich als Politiker mit Migrationshintergrund durchzusetzen. Ali kann auf diese Auszeichnung stolz sein, ebenso unsere Gesellschaft und Demokratie“, sagte Petra Burmeister (SPD). „Ich beglückwünsche Ali für seine ehrenamtliche und politische Arbeit“, ergänzte Bürgervorsteher Arne Ertelt (CDU).
Der Apfel in der Familie Demirhan fällt übrigens nicht weit vom Stamm. Tochter Sina Koriath war 2013 jüngste Abgeordnete im Ratzeburger Kreistag. Seit 2020 vertritt sie die Grünen in der Hamburger Bürgerschaft.