Boizenburg. Im Schatten der innerdeutschen Grenze bleibt das Misstrauen nach der Wiedervereinigung weiter groß. Boizenburgs Rathauschef fliegt auf.
Über Jahrzehnte antrainiert? Oder das logische Ergebnis eines Lebens hinter dem „antifaschistischen Schutzwall“? Wer als Wessi nach dem Mauerfall 1989 die vormalige innerdeutsche Grenze querte, konnte den Eindruck gewinnen, dass der zweite deutsche Staat in gleich mehrere zerfiel.
Abgesehen davon, dass eine Mehrheit der DDR-Bürger die Entwicklung bejubelt hatte, viele die neue Freiheit genossen, gab es diejenigen, die der DDR nachtrauerten. Und die, die der neuen Freiheit nicht so recht trauten: Zieht Moskau nicht doch noch die Notbremse, anstatt die Rote Armee abzuziehen, um ein wieder geeintes Deutschland zu verhindern?
150 Jahre bz: Stasivergangenheit und Demokratie nach der Wende
Sehr viel länger Bestand hatte ein Misstrauen, das im früheren Sperrgebiet entlang der DDR-Westgrenze besonders ausgeprägt war. Wer dort Jahrzehnte gelebt hatte oder unter den strengen Regeln des DDR-Grenzregimes groß geworden war, zeigte auch Jahre nach dem Mauerfall eine besondere Vorsicht.
War der Nachbar zur DDR-Zeit ein Stasispitzel gewesen, der ein besonders Auge auf seine Mitbürger gehabt hatte? Hatte die örtliche Postbotin Listen über verdächtige Besuche im Sperrgebiet geführt und weiter gereicht? Und wo war überhaupt der nervige Unteroffizier der Grenztruppen geblieben, der einen täglich beim Betreten des Sperrgebietes kontrollierte, obwohl er genau wusste, dass man dort seit 20 Jahren wohnt und einen entsprechenden Passierschein besitzt?
In Boizenburg und umliegenden Orten schienen solche Gedanken mit Händen greifbar. Gelegentlich richteten sie sich gegen Personen allein wegen deren Beschäftigung. Ein Ordnungsamtsleiter, der schon in der DDR als Jäger nahe der Grenze unterwegs war, musste der nicht ein besonderes Vertrauensverhältnis des Arbeiter- und Bauernstaates genossen haben? Und wie steht es um das Demokratieverständnis der Gemeindejugendpflegerin, die sich in der DDR als Sekretärin der Freien Deutschen Jugend (FDJ) engagiert hatte?
Boizenburgs Stadtoberhaupt fliegt auf
Nicht immer stimmt der Grundsatz, wo Rauch ist, da ist auch Feuer. Im Falle zweier Bürgermeister aus der Region allerdings schon. So wollten Gerüchte nicht verstummen, dass Uwe Wieben, früherer Chef des Heimatmuseums und dann Boizenburgs erster Nachwende-Bürgermeister, eine Stasivergangenheit hatte. Ja die Unschuldsvermutung bis zum Beweis des Gegenteils gehört zu unseren demokratischen Grundsätzen. Und ja, zuerst waren trotz immer neuer Anläufe keine belastenden Unterlagen zu finden.
Hätten nicht ortsansässige Journalisten über mehrere Jahre gegen manche Widerstände recherchiert und immer weiter gebohrt, wäre es wohl auch dabei geblieben. Als sich schließlich doch noch belastendes Material fand, erklärte Wieben seinen Abschied und verschwand in der Versenkung. Ein FDP-Mann, der mit dem SPD-Landtagsabgeordneten und späteren langjährigen Landwirtschaftsminister Till Backhaus und weiteren Mitstreitern noch 1995 öffentlichkeitswirksam in einen „Hungerstreik“ getreten war, um für Boizenburg das versprochene neue Krankenhaus durchzusetzen.
Als der Bürgermeister mit dem Trabi flüchtete
Ein Bürgermeister in einem Boizenburger Nachbardorf handelte noch 1993, als sei er nichts und niemandem verantwortlich, auf jeden Fall nicht demokratisch legitimierten Institutionen: Er verweigerte gewählten Gemeindevertretern die Einsicht in Papiere, die er teils seit vielen Jahren in einem Tresor weggeschlossen hatte. Wachsenden Druck der Kommunalaufsicht versuchte er auszusitzen.
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Als deren Chef aus der damaligen Kreisstadt Hagenow zu einer Versammlung anreiste, um die Herausgabe zu erzwingen, eskalierte die Situation. Nach heftigen verbalen Auseinandersetzungen flüchtete der Bürgermeister aus der Gemeindevertretersitzung. Verfolgt von Rufen, ihn zu stoppen: „Lasst ihn nicht weg, der hat doch den Tresorschlüssel noch immer bei sich!“
Gewehr aus heimischem Waffenschrank geholt
Doch der Mann erreichte seinen Trabi, startete, um davonzurasen. Zwei Journalisten, ein Boizenburger und ein Wessi, konnten sich vor seinem heranrasenden „Plastebomber“ nur durch einen beherzten Sprung zur Seite in Sicherheit bringen.
Polizisten verfolgten den Flüchtenden. Die Beamten hatten den richtigen Riecher. Sie konnte ihn festnehmen. Bevor er ein aus dem heimischen Schrank geholtes Gewehr in Anschlag bringen konnte.