Boizenburg. Lauenburg und die Partnerstadt Boizenburg lassen ihre Städtepartnerschaft wieder aufleben. Ein Blick 30 Jahre zurück.

Die jungen Bürgermeister von Lauenburg und Boizenburg lassen gerade die zuletzt eingeschlafene Partnerschaft zwischen beiden Elbstädten wieder aufleben. Boizenburg hat sich gemacht in den letzten drei Jahrzehnten. Direkt nach der Wende war die Stimmung düster. Ein Blick zurück.

Als ich 1992 von Bergedorf in die Außenredaktion Boizenburg der Bergedorfer Zeitung gewechselt bin, war es ein Sprung ins kalte Wasser. Kein Vergleich zu dem, was die wiedervereinigten Mecklenburger erlebten und auch durchlitten. Aber schon ein „Erlebnis“, das mich, einen damals 32 Jahre alten Journalisten, persönlich für die Zukunft prägen sollte.

Boizenburg – von Besser-Wessis und dem Versagen der Treuhand

André_Herbst auf einem Foto älteren Datums.
André_Herbst auf einem Foto älteren Datums. © BGZ | BGZ

Der Begriff Besser-Wessi griff in allen neuen Bundesländern um sich. Und wer sich als vor Ort tätiger Journalist den Blick nicht verstellen ließ, erkannte rasch, wie berechtigt er vielfach war. Ganz allgemein, mit Blick auf das Versagen der Treuhand – insbesondere aber aus dem Blickwinkel der vormaligen DDR-Bürger.

Ob in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, in Windeseile sollte sich „der Osten“ anpassen. Manch Rat kam enorm schulmeisternd daher: „Viele Wessis treten bei uns auf, als müssten sie uns erst einmal das Denken und Laufen beibringen“, ärgerte sich bei einem abendlichen Bier ein leitender Beamter aus der damaligen Kreisverwaltung Hagenow.

Mit schier atemberaubendem Tempo wurde angegangen, was eigentlich für die von Helmut Kohl angekündigten „blühenden Landschaften“ sorgen sollte: Die just geschaffene Treuhand entsandte angebliche Experten aus dem Westen, von denen viele erst kürzlich die Unis verlassen hatten.

„Vereinigungskriminalität“ erzürnt viele

Das Ergebnis ist bekannt: Viele vormalige volkseigene Unternehmen überlebten die verordnete Kur nicht. Darunter waren diverse, die nach Wegfall der Kundschaft in den früheren sozialistischen Bruderländern im Kapitalismus Schiffbruch erlitten. Manche waren tatsächlich hochgradig marode. Aber es gingen auch viele zugrunde, die durchaus eine Zukunft hätten haben können. Der Begriff „Vereinigungskriminalität“ machte auch in Boizenburg die Runde.

In der 12.000-Einwohner-Stadt Boizenburg arbeiteten in Fliesenwerken und Elbe-Werft zusammen rund 4000 Menschen. In Unternehmen, die als volkseigene Betriebe erhebliches Renommee genossen hatten. Hochwertige Produkte der Fliesenwerke waren schon lang vor der Wiedervereinigung im Westen abgesetzt worden.

Für den Westen produziert, dann arbeitslos

„Damals war manches in der DDR nicht zu haben, wurde in den Westen verkauft, doch heute reicht die Qualität angeblich nicht mehr“, ereiferten sich nach der Wiedervereinigung Fliesenwerker. Nach dem Verkauf an einen italienischen Investor war das Schicksal der Fliesenwerke besiegelt. Das Unternehmen nahm die Kunden – und ließ die Arbeitslosen in Boizenburg zurück.

Die hochmoderne Elbe-Werft verfügte Anfang der 90er-Jahre über einen Maschinenpark, der manchen Werftarbeiter im Westen staunen ließ. Unliebsame Konkurrenz wurde zunächst durch einen Trick verhindert. Die Boizenburger Elbe-Werft sollte künftig nur seegängige Schiffe produzieren. Dabei hatten sich die Schiffbauer über Jahrzehnte vor allem mit anspruchsvollen Binnenschiffen einen Namen gemacht, viele Passagierschiffe für Flüsse produziert.

Elbe-Werft als unliebsame Konkurrenz ausgebremst

Auf der gut 200 Jahre alten Werft waren allein nach 1945 rund 600 Schiffe vom Stapel gelaufen. Ende 1998 war endgültig Schluss, nachdem ein Jahr zuvor der letzte westdeutsche Investor in Konkurs gegangen war.

Der Abschied von der Industrie und natürlich Arbeitslosigkeit schmerzte viele Menschen. Die Ansiedlung neuer Unternehmen aus dem Westen konnte zunächst wenig trösten. Obwohl manches durchaus Beachtung fand. Etwa die Eröffnung der Gummi Bear Factory. Mit Blick auf die Produkte befand der damalige Hagenower Landrat, „Weingummi-Dinos sind heute voll angesagt“.

Plötzlich Staatsbedienstete zweiter Klasse

Viele fühlten sich als Verlierer, dazu zählten neben der wachsenden Zahl an Arbeitslosen auch viele Staatsbedienstete. So etwa bei der Polizei: „Wieso ist meine Arbeit jetzt weniger Wert?“, beschwerten sich etwa Ordnungshüter, die nach der Wiedervereinigung in der Regel um einen Dienstgrad zurückgesetzt wurden.

Manche früheren leitenden Mitarbeiter aus VEB fanden neue Stellen in der öffentlichen Verwaltung. Der Umgang mit frei gewählten Kommunalpolitikern und der Presse wie auch die Ausschreibung öffentlicher Aufträge, vieles musste erst neu erarbeitet werden. Manches ging dabei gründlich schief.

Als der Bürgermeister mit dem Trabi flüchtete

Ein Bürgermeister in einem Boizenburger Nachbardorf handelte noch 1993, als sei er niemandem verantwortlich, verweigerte Politikern die Einsicht in Papiere, die er in einem Tresor weggeschlossen hatte. Als der Chef der Kommunalaufsicht zu einer Versammlung anrückte, um die Herausgabe zu erzwingen, flüchte der Bürgermeister. Ein Boizenburger Journalist und ich konnten uns vor dem heranrasenden Trabi nur durch einen beherzten Sprung zur Seite in Sicherheit bringen.

Die Polizei verfolgte den Flüchtenden, konnte ihn festnehmen. Bevor der das aus dem heimischen Schrank geholte Gewehr in Anschlag bringen konnte.

Neue Aufgaben, alte Seilschaften und Stasi-Vergangenheit

Viele Menschen haben sich den vielfältigen neuen Aufgaben mit großem Engagement gestellt, der Umbruch hat vielen vieles abverlangt. Etwa einer vormaligen FdJ-Sekretärin, die sich plötzlich als Boizenburgs Stadtjugendpflegerin bewähren musste.

Doch auch manche alte Seilschaft und Verstrickung wurde aufgedeckt. Dass Uwe Wieben, Boizenburgs früherer Museumschef und damaliger Bürgermeister, sehr wohl eine Stasi-Vergangenheit hatte, wäre aber lange Zeit verborgen geblieben. Hätten nicht ortsansässige Journalisten über mehrere Jahre gegen manche Widerstände recherchiert und immer weiter gebohrt.