Boizenburg. Der Start nach der Wiedervereinigung war holprig. Gründe waren vielfältig, beförderten Animositäten und das Gefühl der Benachteiligung.

Mit der Wiedervereinigung im Sommer 1990 hatte in Deutschland eine Wanderungsbewegung in Gegenrichtung begonnen. Während viele Menschen aus der früheren DDR bereits 1989 aufgebrochen waren, um im Westen ihr Glück oder mit zunehmender Zeit einen neuen Arbeitsplatz zu suchen, machten sich Wessis Richtung Osten auf, um zu helfen. Und um Karriere zu machen.

Sie gingen davon aus, dass ihr Know-how ihnen dort große Chancen eröffnen könnte. Ob in Ministerien oder Landesbehörden, in Kreisverwaltungen, Städten und Gemeinden, bei Staatsanwaltschaften oder Gerichten, an Universitäten, in der Wirtschaft oder bei der Treuhandanstalt. Doch nicht alle Blütenträume reifen.

Frust der Ossis gegenüber neuen westlichen Vorgesetzten

Viele Wessis mussten lernen, dass sich der Westen nicht eins zu eins übertragen ließ. Und Juristen etwa, die in Kreisen, Städten und Gemeinden für die rasche Durchsetzung neuer Gesetze sorgen sollten, erfuhren hautnah, dass zwischen Regeln einerseits und deren Umsetzung andererseits Welten liegen können.

Das galt auch ganz praktisch für Planungen und die Vergabe von öffentlichen Aufträgen. Straßen und Telefonnetze, Gas- und Stromleitungen, Frischwasserversorgung und Abwasserentsorgung – kaum eine öffentliche Infrastruktur war erkennbar in einem so akzeptablen Zustand, dass sie nicht angefasst werden musste. Dies zu klären, bedarf es großer Expertise. Fachleute, ob aus den neuen Bundesländern oder Wessis, sahen sich jedoch ein ums andere Mal mit Vorgesetzten konfrontiert, die nicht vom Fach waren.

Küchenchefs scheitern an B-Plänen, Ingenieure an Gemeindefinanzen

Da konnte es passieren, dass im jeweiligen Rathaus oder Amt der frühere Leiter einer VEB-Großküche oder ein Maschinenbau-Ingenieur plötzlich für Meldeangelegenheiten, die Bauleitplanung oder die Gemeindefinanzen verantwortlich zeichnete. Wer schon in der DDR gut vernetzt war, hatte große Chancen, vor anderen zu erfahren, wenn es um die eigene berufliche Zukunft schlecht stand. Es damit Zeit war, sich umzuorientieren, etwa die Elbe-Werft, die Boizenburger Fliesenwerke oder die eigene LPG zu verlassen.

Ein junger Stadtplaner, der Anfang der 1990er-Jahre aus dem Herzogtum Lauenburg in den Kreis Hagenow aufgebrochen war, ahnte schon nach wenigen Wochen, dass dieses Wagnis „nervenaufreibend“ wird, wie er gegenüber unserer Zeitung äußerte.

Mammutaufgaben selbst für Multitalente

Aus seinem Vorstellungsgespräch hatte er geschlossen, dass sein Aufgabengebiet sich zwischen Stadt- und Flächenplanung, über das Einwerben von Fördermitteln bis zur Klärung mit den politisch Handelnden reichen solle.

Tatsächlich sei es das „Gesamtpaket“, bedauerte der Ingenieur. „Aber woher sollen Führungskräfte im Bauamt, die in der DDR mit Personalführung oder Planerfüllung befasst waren, denn auch wissen, was alles bei öffentlichen Ausschreibungen beachtet werden muss, wie eine Auftragsvergabe juristisch rechtssicher läuft und welche Planungsschritte wann zu erledigen sind?“

Seite an Seite: Ein Ostberliner Polizist (l.) in der Uniform der DDR-Volkspolizei und ein Westberliner Polizist mit einer umgehängten Maschinenpistole am 3. Oktober 1990, dem Tag der Deutschen Einheit.
Seite an Seite: Ein Ostberliner Polizist (l.) in der Uniform der DDR-Volkspolizei und ein Westberliner Polizist mit einer umgehängten Maschinenpistole am 3. Oktober 1990, dem Tag der Deutschen Einheit. © picture-alliance/ ZB | dpa Picture-Alliance / Günter Gueffroy

Neubundesbürger beklagen Benachteiligung

Für Unmut der Kollegen aus den neuen Bundesländern sorgte wiederum, wenn Besserwessis anklingen ließen, dass sie noch reichlich Nachholbedarf hätten auf dem Weg zu einem Mitarbeiter auf Westniveau. Dazu kam die finanzielle Ungleichbehandlung: In Mecklenburg-Vorpommern wurden öffentliche Bedienstete in der Regel eine Gehalts-/Besoldungsstufe schlechter eingestuft als Kollegen aus dem Westen, die die gleiche Arbeit erledigen sollten

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Als „Missachtung ihrer über Jahrzehnte geleisteten Arbeit und ihrer Erfahrung“, kritisierten Boizenburger Polizisten diese Praxis in der ersten Hälfe der 1990er-Jahre in einem Hintergrundgespräch. Wer es in der Volkspolizei bis zum Hauptmann gebracht hatte, war über Nacht zum Oberkommissar herabgestuft worden, Gehaltseinbußen inklusive.

Weniger Einkommen und Wessis als neue Vorgesetzte

Und die Vielzahl neu eingesetzter Führungskräfte aus dem Westen wurde vielerorts als Bevormundung interpretiert. Erklärungen wie die, damit sollten alte SED-Seilschaften oder Stasi-Verbindungen in der Polizeiführung gekappt werden, stießen auf Vorbehalte: „Tatsache ist, mit der Bevorzugung von Wessis werden vielen von uns die Aufstiegsmöglichkeiten verbaut.“