Hamburg/Kiel. Bundestag beschließt Freigabe. Hamburgs Ärztekammer sowie Innenpolitiker, Suchtexperten, Juristen und Polizisten im Norden üben Kritik.
Alle Warnungen von Innenpolitikern und Suchtmedizinern, Juristen und Polizisten im Norden sind letztlich verhallt: Der Bundestag hat am Freitag die Freigabe von Cannabis beschlossen. Die Hamburger Ärztekammer hatte noch am Vormittag scharfe Kritik geübt. „Aus medizinischer Sicht ist völlig klar, dass Cannabis-Konsum insbesondere bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen negative Folgen für Gedächtnis- und Lernleistungen hat“, sagte Kammerpräsident Pedram Emami. „Mir ist daher unerklärlich, warum der Gesetzgeber hier keine strengeren Vorschriften vorsieht.“
Das Gesetz, das der Bundestag mit der Mehrheit der Ampel-Fraktionen am Freitag beschloss, reiche in puncto Jugendschutz nicht aus. Zudem sei es fatal, in erster Linie auf eine digitale Aufklärungsplattform zu setzen und die lokale Präventionsarbeit zu schwächen.
Cannabis-Legalisierung: Das kommt ab April auf Hamburg und den Norden zu
„Das ist zu wenig, um Jugendliche und junge Erwachsene wirklich zu erreichen“, warnte Emami. Zudem seien regionale Konsumverbote rund um Schulen und Jugendeinrichtungen in der Praxis – gerade in einer Stadt wie Hamburg – schwer umsetzbar. „Es ist auch ein Irrglaube anzunehmen, dass eine Legalisierung von Cannabis zu weniger Konsum und größerem Risikobewusstsein bei Jugendlichen führt.“
Das Gegenteil sei der Fall, wie beispielsweise der Suchtstoffkontrollrat der Vereinten Nationen in seinem Jahresbericht 2022 unterstreiche. Das Gesundheitssystem werde schon heute stark durch die Folgen des Konsums von Alkohol und Nikotin belastet. „Die vergleichenden Studien zeigen, dass in Ländern, in denen bereits legalisiert wurde, der Konsum insgesamt weiter angestiegen ist und die erhofften Auswirkungen auf die Organisierte Kriminalität so nicht eingetreten sind“, ergänzte Birgit Wulff, Vizepräsidentin der Kammer.
Cannabis-Freigabe: Deutlich mehr Unfälle unter Drogeneinfluss in Hamburg erwartet
Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) rechnet mit einem deutlichen Anstieg der Verkehrsunfälle unter Drogeneinfluss, wie er bei der Vorstellung der Verkehrsunfallstatistik in dieser Woche sagte. Die Hamburger Polizei will gezielte Kontrollen durchführen. Dafür sieht man sich gut aufgestellt. Mehr als 600 Beamte sind speziell geschult, um Anzeichen für Drogenkonsum zu erkennen. Zu ihnen zählen auch die mit dem sogenannten standardisierten Fahrtüchtigkeitstest (SFT) besonders qualifizierten Polizistinnen und Polizisten.
Grote kritisierte, dass im Gesetzentwurf der Ampel-Koalition ein Grenzwert für den Cannabis-Wirkstoff THC fehlt. Nur in der Rechtsprechung gebe es eine Festlegung von 0,1 Nanogramm auf einen Milliliter Blut. „Insofern werden wir da schon ein bisschen gefordert sein“, sagte der Senator mit Blick auf die Kontrolltätigkeit.
Neues Gesetz: Erwachsene dürfen 50 Gramm Cannabis zu Hause haben
Besonders deutliche Worte fand auch eine andere SPD-Politikerin. So hatte die niedersächsische Innenministerin Daniela Behrens das, was die SPD-geführte Bundesregierung zur Cannabis-Legalisierung nun beschloss, „Murks“, einen „schlechten Kompromiss“ und „nicht praxistauglich“ genannt. Der Bundestag hatte die Freigabe eines Brandbriefes der Länderinnenminister in einer namentlichen Abstimmung beschlossen.
Das Gesetz sieht vor, dass vom 1. April an Erwachsene ab 18 Jahren bis zu 25 Gramm Cannabis zum eigenen Verbrauch bei sich haben dürfen. Zu Hause dürfen insgesamt bis zu 50 Gramm aufbewahrt werden, sofern sie aus dem Eigenanbau von bis zu drei Pflanzen oder von Cannabis-Klubs stammen. Für Jugendliche unter 18 Jahren bleibt Cannabis verboten. Werden sie erwischt, geht künftig Aufklärung vor Strafe.
Cannabis-Legalisierung – großer Widerstand im Norden, Kritik von allen Seiten
Die Pläne der Bundesregierung gehen den Innenministern der Bundesländer – auch den SPD-regierten wie Andy Grote – viel zu weit. In einem gemeinsamen Schreiben hatten sie parteiübergreifend vor „gravierend negativen Auswirkungen auf die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität, den Kinder- und Jugendschutz sowie den Gesundheitsschutz“ gewarnt.
Kritik am Gesetzentwurf kam von allen Seiten. Die Polizei nennt die Kontrollvorschriften „völlig praxisfremd“ und befürchtet noch mehr Drogen im Straßenverkehr. Suchtmediziner warnen, Cannabis werde trotz drohender Schäden bei der Hirnentwicklung verharmlost. Und aus der Justiz gibt es großen Widerstand, unter anderem gegen eine rückwirkende Straffreiheit für Cannabis-Besitz.
Grote: Booster für den Schwarzmarkt und die Organisierte Drogenkriminalität
Hamburgs Innensenator Andy Grote warnte: „Unabhängig von der Frage, wie man zur Cannabis-Legalisierung grundsätzlich steht, sind mit diesem Gesetzentwurf erhebliche Risiken verbunden. Mit Inkrafttreten des Cannabis-Gesetzes zum 1. April gibt es keine ausreichenden Aufklärungs- und Präventionsmaßnahmen, keine Umsetzungsstrukturen in den Ländern und vor allem keine legalen Bezugsmöglichkeiten. Es gibt am 1. April nur die reine Freigabe von Kauf und Konsum. Das Gesetz ist damit erst mal ein Booster für den Schwarzmarkt und die Organisierte Drogenkriminalität, die die dann erwartbar steigende Nachfrage als einziger Anbieter bedient. Der Konsum kann sich zu Beginn ausschließlich aus dem Schwarzmarkt speisen, der massiv profitiert.“ Polizei und Innenpolitik befürchten, dass sich so die bereits sehr starken – international operierenden – kriminellen Strukturen verfestigen könnten.
Legal hergestelltes Cannabis dürfte nach Einschätzung der Experten aufgrund der detaillierten Vorgaben absehbar teurer sein als illegales. Die Sicherheitsbehörden befürchten deshalb, dass der illegale Handel weiterhin sehr attraktiv bleibt und eher noch zunehmen wird. Denn illegale Händler könnten sich in einem legalen Umfeld viel leichter bewegen als zuvor.
Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher zur Freigabe: „Ich bin sehr skeptisch“
Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher hatte bereits 2021 im „Bericht aus Berlin“ der ARD vor der Liberalisierung gewarnt. „Ich bin Mediziner, und ich bin sehr skeptisch. Cannabis ist eine Droge, die durchaus dramatische Folgen haben kann. (…) Ich bin sehr zurückhaltend bei Freigaben, weil die jungen Leute, die in diese Welt hineingehen, oft nicht den Erfahrungshintergrund haben, damit von vornherein gut umzugehen“, gibt er zu bedenken.
Schleswig-Holsteins Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) nannte eine Freigabe ein „falsches Signal. Damit wird vermittelt, dass die Droge ungefährlich ist. Dies könnte bei Kindern und Jugendlichen die Hemmschwelle senken, die Droge zu testen“, sagt die Kieler Innenministerin. Schleswig-Holsteins Gesundheits- und Justizministerin Kerstin von der Decken (CDU) lehnt die Cannabis-Freigabe genauso entschieden ab. Cannabis sei eine Droge, deren Konsum schwere körperliche und seelische Erkrankungen zur Folge haben könne. So gehen spätere Erkrankungen zum Beispiel an paranoiden Schizophrenien häufig auf frühen und regelmäßigen Cannabiskonsum zurück, haben Wissenschaftler herausgefunden.
Cannabis baut sich viel langsamer ab
Für die Chefin des Justizressorts gibt es „keine belastbaren Belege, dass eine Legalisierung tatsächlich die schwere Organisierte Kriminalität reduzieren wird“. Das genau versprechen (sich) die Ampel-Parteien in Berlin. Das Kieler Justizministerium warnt zudem, dass Cannabis schon heute zu den am häufigsten verbreiteten Drogen im Straßenverkehr gehöre. Das nächste Problem: Cannabis baut sich im Blut viel langsamer ab als Alkohol. So berichten schleswig-holsteinische Polizisten von Kontrollen junger Autofahrer, die montagmorgens noch unter dem Einfluss von Drogen standen. „Die gucken dann meist irritiert und erzählen von einem Joint am Freitag oder Sonnabend“, sagte eine Kieler Polizistin.
Im Bundesrat hatte die Kieler Innenministerin Sütterlin-Waack schon im September klar gesagt, was sie vom Gesetzentwurf der Ampel-Fraktionen hält: nichts! Die Cannabis-Legalisierung und die entsprechenden Gesetzesänderungen führten zu „weniger Jugendschutz und mehr Organisierter Kriminalität. Mit diesem Gesetz wird eine stärkere Verbreitung von Cannabis wahrscheinlich“, warnte Sütterlin-Waack in der Länderkammer.
Norden gegen Cannabis-Legalisierung: Deutliche Mehrarbeit für die Polizei befürchtet
Im Abendblatt-Gespräch kritisierte sie, dass die Ermittlungsbehörden durch die Teil-Legalisierung keinesfalls entlastet werden. „Ganz im Gegenteil. Die Kontrollen müssen weiterhin aufrechterhalten werden, denn es wird weiterhin einen Schwarzmarkt geben. Das zeigen die Erfahrungen in anderen Ländern. Beispielsweise im Bereich von Schulen und Jugendeinrichtungen wird die Polizei weiterhin intensiv, wenn nicht sogar noch intensiver vor Ort sein müssen“, sagte die CDU-Politikerin. „Der einzelnen Polizistin und dem einzelnen Polizisten ist es aber nicht zuzumuten, festzustellen, ob die zu kontrollierende Person das Cannabis von einem legalen Anbauverein erworben hat. Die Arbeitsbelastung der Polizei ist eh schon sehr hoch und würde damit nur noch mehr ansteigen“, sagte Sütterlin-Waack.
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Eine Befürworterin der Freigabe ist hingegen die Hamburger Grünen-Bundestagsabgeordnete Linda Heitmann, die in Berlin über das Gesetz abzustimmen hatte. Sie hält die Freigabe für überfällig und argmentiert: „Eine Kriminalisierung hält niemanden vom Konsum ab“, ist sie überzeugt. Sie sieht in der Freigabe des Besitzes von 30 Gramm Cannabis „das Signal, dass dies erlaubt ist, aber keineswegs das Signal, dass es ungefährlich sei, die Droge zu konsumieren“. Auch wüssten die Menschen bei dem in Klubs angebauten Cannabis, was tatsächlich drin sei – anders bei teils verunreinigten Drogen vom Schwarzmarkt.
Wie eine Befürworterin der Cannabis-Freigabe argumentiert
Wenn man das Haschischrauchen nicht verheimlichen müsse, schafften Staat und Beratungsstellen es besser, die Menschen auch mit der Aufklärung über die Gefahren zu erreichen, so Heitmann, die im Gesundheitsausschuss des Bundestags sitzt. Sie würde sich im Übrigen wünschen, dass auch mehr über die Gefahren von Alkoholkonsum aufgeklärt würde, anstatt diesen gesellschaftlich zu verharmlosen. Er sei gerade für junge Menschen ebenso so schädlich wie Cannabis.
Aus Heitmanns Sicht wirkt sich das Gesetz mit der Mitgliedschaft in einem Cannabis-Klub vor allem auf Viel-Konsumenten, dagegen aber kaum auf Gelegenheits-Nutzer aus. Die Grünen-Politikerin verhehlt allerdings nicht, dass der jetzige Gesetzentwurf aus ihrer Sicht unvollständig sei. Sie hätte sich gewünscht, dass in ganz Deutschland Cannabis-Fachgeschäfte entstehen, die die Drogen in geringen Mengen an die Kunden verkaufen – und ihnen gleichzeitig Beratung anbieten.
Heitmann zitierte Erfahrungen aus Kanada, wo nach der Freigabe der Cannabis-Konsum unter Erwachsenen leicht zugenommen habe, „aber nicht die Zahl der Abhängigen“. Letztere in Statistiken abzubilden, ist allerdings schwer. Gezählt werden die Menschen, die sich wegen einer Abhängigkeit an Suchthilfeeinrichtungen wenden.
Cannabis-Freigabe: Was Praktiker für den Norden jetzt erwarten
Das Urteil derjenigen, die die Folgen der Cannabis-Legalisierung „ausbaden“ müssen, fällt hingegen verheerend aus. So warnte Thomas Jungfer von der Polizeigewerkschaft DPolG, dass das Gesetz das Gegenteil dessen bewirke, was sich der Gesetzgeber davon verspreche. Es soll die Polizei entlasten und den Schwarzmarkt trockenlegen. Tatsächlich gelange aber so Rauschgift vom legalen in den illegalen Handel, und die Belastung der Polizei nehme zu. „Soll die Polizei jetzt Waagen mitschleppen, um festzustellen, ob die Menge noch legal oder schon illegal ist?“, fragte Jungfer. Die Bundesregierung starte einerseits Anti-Rauch-Kampagnen und gebe andererseits Cannabis frei, das meist geraucht werde. Das passe nicht zusammen. Jungfers Fazit: „Cannabis ist nichts, was die Gesellschaft braucht.“
Auch Jan Reinecke, Landesvorsitzender vom Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK), glaubt: „Das Gesetz wird die Organisierte Kriminalität nur noch mehr stärken und der Polizei zusätzliche Arbeit machen. Die Herkunft der dann immer noch im Ausland zumeist viel günstiger und ohne Einschränkungen angebauten, illegal eingeschmuggelten Cannabis-Produkte lässt sich hervorragend über die dann hier ansässigen Anbauvereinigungen verschleiern.“ Die Polizei werde nicht feststellen können, ob das hier konsumierte Cannabis aus einer Anbauvereinigung, von der heimischen Fensterbank oder aus einem Gewächshaus der Organisierten Kriminalität in Spanien stammt. „Es ist zu erwarten, dass gerade Strukturen der Organisierten Kriminalität ein großes Interesse daran haben, Vermögen aus Straftaten in hier ansässige Anbauvereinigungen und Anbaugenossenschaften anzulegen und damit zu waschen.“