Ahrensburg. An vielen Bildungseinrichtungen im Kreisgebiet fehlen Räume und Lehrkräfte. Droht bald die totale Überforderung?
Zu wenige Räume, fehlendes Personal und extrem unterschiedliche Lernstände: Mit diesen Herausforderungen sind Stormarns Schulen angesichts der enorm gestiegenen Zahlen an geflüchteten Kindern und Jugendlichen konfrontiert. Die Lehrerinnen und Lehrer arbeiten am Limit. Das berichten Schulen und Schulamt des Kreises auf Nachfrage unserer Redaktion. „Seit Kriegsbeginn hat Stormarn 600 Kinder und Jugendliche aus der Ukraine aufgenommen“, sagt Schulrat Michael Rebling. Dazu kommen weitere aus anderen Herkunftsländern.
Um der Lage Herr zu werden, werden in Stormarn laufend weitere DaZ-Zentren und -Klassen eingerichtet, „zuletzt an der Gemeinschaftsschule Hahnheide-Schule und dem Gymnasium in Trittau“, so Rebling. DaZ steht für Deutsch als Zweitsprache. Das Bildungsangebot soll Kinder und Jugendliche fördern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. In der Regel besuchen geflüchtete Schüler ein Jahr lang die sogenannte Basisstufe, werden fünf Tage die Woche ausschließlich im DaZ-Zentrum unterrichtet. Dort lernen sie mehrere Stunden am Tag Deutsch. Nach der Basisstufe folgt die Aufbaustufe. Dann wechseln die Schüler in eine Regelklasse und nehmen außerhalb des Regelunterrichts weiter an Kursen im DaZ-Zentrum teil.
Immer mehr Flüchtlinge: Schulen in Stormarn sind am Limit
„Aktuell gibt es in Stormarn 3398 Schülerinnen und Schüler mit DaZ-Bedarf“, sagt Rebling. Darunter gezählt werden auch Kinder und Jugendliche, die bereits länger in Deutschland sind und die Aufbaustufe besuchen. „In der Basisstufe zählen wir an den allgemeinbildenden Schulen für die Grundschule aktuell 270 und für die Sekundarstufe I 320 Schüler“, sagt Rebling. Für die Beruflichen Schulen und die Sekundarstufe II nannte der Schulrat keine Zahlen. Insgesamt gibt es in Stormarn etwa 25.000 Schülerinnen und Schüler, 10.000 davon an Grundschulen.
Mittlerweile wurden im Kreis an acht Grundschulen und an sechs weiterführenden Schulen DaZ-Zentren eingerichtet. Rebling besucht aktuell alle – und berichtet von herausfordernden Umständen. „Die Schüler in den DaZ-Zentren sind extrem heterogen“, sagt der Schulrat. Kinder mit jahrelanger Schulerfahrung, die „nur“ Deutsch lernen müssten, sitzen zusammen mit solchen, die noch nie eine Schule besucht haben. Rebling: „Manche Kinder können lesen und schreiben, andere sind überhaupt nicht alphabetisiert.“ Viele kennen das arabische oder kyrillische Alphabet und müssen das lateinische neu lernen.
In den Stormarner Schulen fehlt es an Lehrkräften und Räumen
Die extrem unterschiedlichen Lernstände seien aber nicht das einzige Problem. „Auch vor dem Krieg gegen die Ukraine waren die DaZ-Kurse nicht leer“, sagt Rebling. Seitdem seien sie aber geradezu überfüllt. „Dadurch ergeben sich zwei Probleme: Es fehlt einerseits an Räumen und andererseits an Lehrkräften.“ Reblings Einschätzung zufolge ist es in Stormarn besonders schwierig, Lehrer zu finden, „weil wir im direkten Hamburger Umland sind“. Auch Universitätsstädte wie Kiel und Flensburg, in denen Lehrer direkt vor Ort ausgebildet werden, hätten es laut Rebling leichter, Fachpersonal zu finden.
Trotz allem: „Dass Lehrkräfte oder Schulleitungen sich melden und sagen, dass sie das nicht schaffen, habe ich noch nicht erlebt“, sagt der Schulrat. „Dass sie von extrem schwierigen Situationen berichten, kommt vor. Aber mein Eindruck ist, dass sie immer nach Lösungsmöglichkeiten suchen. In den DaZ-Zentren treffe ich auf unglaublich engagierte Leute, die mit wahnsinnig viel Herzblut ihren Job machen, das muss ich wirklich sagen.“ Nicht nur der Umgang mit den Schülern, sondern auch die Elternarbeit erfordere viel Fingerspitzengefühl.
Weltpolitische Lage hat zu enorm gestiegenen Schülerzahlen geführt
Das bestätigt im Gespräch mit unserer Redaktion auch Martin Nirsberger, Leiter der Theodor-Storm-Schule in Bad Oldesloe. Vor über zehn Jahren wurde an der Gemeinschaftsschule ein DaZ-Zentrum eingerichtet. „Gerade in der letzten Zeit haben wir viele ukrainische Geflüchtete dazubekommen“, so der Schulleiter. Auch durch die Krise in Afghanistan seien die Flüchtlingszahlen spürbar angestiegen. In der Basisstufe betreut das DaZ-Zentrum aktuell 40 Schüler, 15 davon sind 2023 dazugekommen. „In der Aufbaustufe sind aktuell 68 Schüler“, sagt Nirsberger. Die Fluktuation sei hoch. „Das alles stellt uns vor Herausforderungen“, sagt der Schulleiter.
Denn in den Klassen der Basisstufe seien alle Jahrgänge und Lernstände vertreten. Fünftklässler und Neuntklässler müssen ebenso gemeinsam unterrichtet werden wie Schüler, die überhaupt nicht alphabetisiert sind. „Es gibt Schüler, die nicht einmal in ihrer eigenen Landessprache lesen oder schreiben können“, so Nirsberger. Angesichts dieser Voraussetzungen und der steigenden Flüchtlingszahlen sei die Schule mit viel zu wenig Personal ausgestattet. „Wir haben Unterstützungskräfte, aber das sind keine ausgebildeten Lehrkräfte, sondern zum Beispiel Lehramtsstudenten, Erzieher oder Menschen aus anderen Berufen“, sagt Nirsberger.
Lernstände der geflüchteten Schüler sind sehr unterschiedlich
Durch den Personalmangel werde man den verschiedenen Bildungsständen der Schüler nicht gerecht. Dennoch: „Die Mehrheit der geflüchteten Schüler lernt in wenigen Jahren Deutsch und ist dann prüfungsfertig“, so Nirsberger. Dass Schüler überhaupt nicht zurechtkommen und die Schule ohne Schulabschluss die Schule verlassen, komme selten vor. „In den vergangenen Jahren waren das vielleicht eine Handvoll“, sagt der Schulleiter.
Wie gut die Integration der geflüchteten Schüler abseits des Unterrichts gelinge, sei unterschiedlich. „Es gibt Schüler, die sofort im Sportverein aktiv sind und dadurch schnell Kontakte knüpfen, es gibt aber auch solche, die eher unter sich bleiben“, so Nirsberger. Gegenwind von deutschen Schülern oder Eltern, die sich angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen um die Unterrichtsqualität sorgen, gebe es glücklicherweise nicht – Rückmeldungen von überforderten Lehrkräften aber schon.
Verwaltungsarbeit hat für Lehrer enorm zugenommen
„Gerade die Verwaltungsarbeit hat enorm zugenommen.“ Eigentlich, so der Schulleiter weiter, bräuchte jede Lehrkraft einen eigenen Sekretär oder eine eigene Sekretärin. Für den Umgang mit den geflüchteten Schülern wünscht der Schulleiter sich mehr Lehrstellen, obgleich absehbar sei, dass man in den kommenden Jahren nicht gerade mit unzähligen Nachwuchslehrern gesegnet sein werde. Aber auch Personal aus anderen Bereichen solle laut Nirsberger an die Schulen geholt werden: „Die Flüchtlingshilfe, die Diakonie, das Arbeitsamt“, so der Schulleiter.
Außerdem wünsche er sich, dass Geflüchtete innerhalb von wenigen Monaten oder spätestens ein bis zwei Jahren Deutschkenntnisse nachweisen müssen. Denn das sei der Schlüssel zur Integration. Dass der Kreis Stormarn weiterhin mit vielen Flüchtlingen rechnet, bereitet dem Schulleiter große Sorge: „Wir kommen jetzt schon ins Schleudern, sowohl wegen der Raum- als auch wegen der Betreuungssituation. Als Chef würde ich eigentlich sagen: So machen wir es nicht mehr. Wir kriegen das nur hin, weil wir immer irgendwie zaubern.“
Auch Schulbusverkehr ist durch die gestiegenen Schülerzahlen belastet
Explodierende Zahlen auch an der Beruflichen Schule Ahrensburg: „Ursprünglich sind wir im Schuljahr 2015/16 mit einer DaZ-Klasse gestartet, damals vor allem mit geflüchteten Schülerinnen und Schülern aus Syrien und Afghanistan“, sagt Barbara Präger, Abteilungsleiterin Berufliches Gymnasium und auch für den DaZ-Bereich zuständig. Gerade hat die Schule die zehnte DaZ-Klasse eröffnet. „Gestartet sind wir zu Beginn des Schuljahres mit sieben Klassen.“
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Aktuell besuchen 167 DaZ-Schüler die Schule, davon 45 aus der Ukraine. Sie wohnen hauptsächlich in Ahrensburg, Glinde und Reinbek. Auch der Schulbusverkehr sei durch die gestiegenen Schülerzahlen belastet. Dankenswerterweise habe der Kreis die Kapazitäten zu Beginn des Schuljahres aufgestockt. Präger: „Im September 2021 hatten wir 57 Schülerinnen und Schüler und vier Klassen. Seit dem Nato-Truppenabzug aus Afghanistan im Oktober 2021 und dem Kriegsausbruch in der Ukraine im Februar 2022 hat sich die Zahl der Schülerinnen und Schüler im DaZ-Bereich nahezu verdreifacht.“
Um die Situation zu bewältigen, sei ein hohes Maß an Kreativität gefragt. Durch die Zusammenlegung von Klassen konnte die Schule zu Beginn dieses Schulhalbjahres neue Räume generieren und so eine neue DaZ-Klasse eröffnen. Auch Präger berichtet vom sehr hohen Einsatzwillen der Lehrerinnen und Lehrer: „Die mehrheitlich befristet beschäftigten Lehrkräfte im DaZ-Bereich unterrichten mit großem Engagement die Schülerinnen und Schüler nicht nur in der deutschen Sprache, sondern bereiten sie auch auf die B1-Prüfung des Deutschen Sprachdiploms vor, den ersten allgemeinbildenden Schulabschluss, kümmern sich um die Anerkennung von Abschlüssen und unterstützen bei Ausbildungsplatzsuche“, so Präger. All das seien wichtige Eckpfeiler für die Integration der jugendlichen Geflüchteten.