Hamburg. Sprecher der Schulvereinigung verweist auf Druck durch Ungleichverteilung und Lehrermangel. Was die Behörde sagt.
Die Zahlen aus dem Februar dieses Jahres offenbarten eine erhebliche Schieflage beim Vergleich der beiden weiterführenden Schulformen in Hamburg: Von den Schülerinnen und Schülern aus dem Ausland ohne ausreichende Deutschkenntnisse, die eine Internationale Vorbereitungsklasse (IVK) besucht hatten, unter ihnen viele geflüchtete Kinder aus der Ukraine, gingen im ersten Quartal dauerhaft 84 Prozent auf eine Stadtteilschule und nur 16 Prozent auf ein Gymnasium. Das ergab eine schriftliche Kleine Anfrage der Linkenfraktion. Diese forderte, Hamburgs Stadtteilschulen „kurzfristig zu entlasten“.
Wie es aktuell mit den Anteilen aussieht, lässt sich der Schulbehörde zufolge nicht sagen. Präzise Schülerzahlen würden nur einmal im Jahr mit der Schuljahresstatistik erfasst und immer im Februar veröffentlicht.
Für Thimo Witting, Sprecher der Vereinigung der Stadtteilschulen in Hamburg, ist dennoch klar: Bei der Aufnahme und Verteilung von geflüchteten Schülerinnen und Schülern seien die Stadtteilschulen seit Monaten in mehrfacher Hinsicht die tragende Säule.
Allein die „erhebliche Ungleichverteilung“ der ehemaligen IVK-Schüler mache „den Druck auf die Stadtteilschulen neben allen anderen Integrationsleistungen größer“, sagt Witting.
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Erschwerend komme hinzu: Der Lehrermangel in Hamburg treffe die Stadtteilschulen viel stärker, sagt Witting. Wie berichtet hatte eine Große Anfrage der Linkenfraktion ergeben, dass zum Start des Schuljahrs eine strukturelle Lücke von 265 Stellen für die allgemeinbildenden Schulen bestand, wobei fast 60 Prozent des Pädagogendefizits auf die 60 Stadtteilschulen entfiel und knapp 20 Prozent auf die 64 Gymnasien.
Verschärft werde die Lage für die Stadtteilschulen durch die sogenannte Abschulung vom Gymnasium, sagt Witting. Wie die Schulbehörde auf Abendblatt-Anfrage mitteilt, haben im laufenden Schuljahr 8,8 Prozent aller Sechstklässlerinnen und Sechstklässler, die im Schuljahr 2021/22 ein Gymnasium besucht hatten, an einer Stadtteilschule gelernt – damit hat sich die Quote nur leicht verringert im Vergleich zum Schuljahr (9,3 Prozent).
Hamburger Stadtteilschulen bräuchten im „Krisenmodus“ mehr Unterstützung
„Zur Entlastung der Stadtteilschulen sollten die Gymnasien ihre Haltekraft erhöhen, also geflüchtete Schülerinnen und Schüler in den IVK so vorbereiten, dass möglichst viele von ihnen anschließend am Gymnasien bleiben können“, sagt Witting. „Die vielleicht noch nicht ausreichenden Deutschkenntnisse können nicht der Grund für eine Zuweisung an die Stadtteilschule sein.“
Zudem sollten die Gymnasien anstreben, dass sich die Abschulungsquote nach Klasse 6 verringere, sagt der Sprecher der Vereinigung der Stadtteilschulen in Hamburg.
Um weiterhin gut arbeiten zu können, bräuchten die Stadtteilschulen im gegenwärtigen „Krisenmodus“ viel mehr Unterstützung. „Wir wünschen uns von der Schulbehörde, dass sie etwas gegen die Ungleichverteilung und die personelle Schieflage unternimmt und alles dafür tut, dass die Klassenfrequenzen an den Stadtteilschulen nicht überschritten werden“, sagt Witting.
Etliche Klassen werden im neuen Schuljahr größer als erlaubt
Wie berichtet werden in diesem Jahr etwa 5000 Kinder und Jugendliche, die aus der Ukraine geflüchtet sind, in die Regelklassen der Schulen wechseln. Dass es zu einer Überschreitung der im Schulgesetz vorgegebenen Obergrenze von 19 bzw. 23 Kindern in der Grundschule und 23, 25 oder 28 Jungen und Mädchen in den Klassen sechs bis zehn komme, könne in den Jahrgangsstufen eins, fünf und sieben durch eine Zusammenstellung der Schülerinnen und Schüler in neuen Schulklassen „weitgehend vermieden werden“, erklärt die Schulbehörde auf Abendblatt-Anfrage.
In den Klassenstufen sechs, acht, neun und zehn hingegen richteten die Schulleitungen in der Regel keine zusätzlichen Klassen ein, weil sie ein Auseinanderreißen und eine Neuaufteilung gewachsener Klassenverbände vermeiden wollten. „Hier kann es regional je nach Klassengrößen der Einzelschulen dazu kommen, dass ein bis zwei zusätzliche Schülerinnen oder Schüler in eine Klasse aufgenommen werden müssen und damit die Sollgröße der Klassen überschritten wird.“
Schulbehörde: mehr Personal für zusätzliche Schüler
Allerdings: Weil sich die Personalzuweisung und damit die Zahl der Lehrerstunden einer Schule nach der Zahl der Schülerinnen und Schüler richte, werde eine Überschreitung der an Stadtteilschulen üblichen Klassengröße von 23 Kindern in den Jahrgängen fünf und sechs sowie 25 in den übrigen Jahrgängen „immer mit zusätzlichem Personal begleitet, sodass in wichtigen Schulfächern die Klasse in zwei kleine Gruppen geteilt und damit in sehr kleinen Gruppen unterrichtet werden kann“, so die Schulbehörde.
Auch für geflüchtete Kinder gelte: Um nach ihrem Besuch einer Vorbereitungsklasse am Gymnasium bleiben zu können, müssten sie die „erforderlichen Leistungen“ erbringen. Wer dieses Niveau nicht erfülle, müsse „wie in allen anderen Bundesländern auch“ das Gymnasium verlassen und an eine Stadtteilschule wechseln.
Behörde: Gymnasien richten vereinzelt besondere „Abschlussklassen“ für Geflüchtete ein
Um das zu vermeiden, richteten Gymnasien „in Einzelfällen“ zusätzlich besondere „Abschlussklassen“ für Geflüchtete ein, auch wenn diese nicht die gymnasialen Leistungsanforderungen erfüllten. Dabei handele es sich um Regelklassen, die das letzte Jahr vor dem Schulabschluss umfassten und direkt zum Schulabschluss führten.
Dort, wo an Stadtteilschulen zusätzliche Klassen für ehemalige IVK-Schüler eingerichtet werden müssten, werden der Schulbehörde zufolge „neue IVK verstärkt an Gymnasien eingerichtet, um die Stadtteilschulen im Einzelfall entlasten zu können“.
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Thimo Witting sagt, dass es für zusätzliche Schüler mehr Mittel gebe, sei zwar grundsätzlich erfreulich, es helfe gegenwärtig aber nur bedingt, weil zusätzliches Personal schwer zu bekommen sei. Auch wenn die Obergrenzen von Klassenfrequenzen nicht überschritten würden, indem zusätzliche Klassen geschaffen würden, wachse eine Stadtteilschule – womöglich über ihre Kapazitätsgrenzen hinaus.
Dass Gymnasien in Einzelfällen besondere „Abschlussklassen“ für ehemalige IVK-Schüler einrichteten, sei erfreulich – er wünsche sich allerdings mehr von solchen „guten Beispielen“.
Christian Gefert: Gymnasien haben weniger Mittel für individuelle Förderung
Die Gymnasien hätten „große Anstrengungen unternommen“, um Internationale Vorbereitungsklassen einzurichten und Schüler nach dem einjährigen Unterricht in diesen Klassen in ihren Regelklassen zu halten, sagt Christian Gefert, Vorsitzender der Vereinigung der Leitungen Hamburger Gymnasien (VLHGS).
Aber: Angesichts großer sprachlicher und teilweise auch fachlicher Herausforderungen, vor denen Schülerinnen und Schüler der Vorbereitungsklassen oft stünden, sei ein Übergang in Regelklassen an Gymnasien „in vielen Fällen nicht sinnvoll, weil er die Kinder und Jugendlichen überfordern würde“, sagt Gefert.
„Die Gymnasien verfügen aufgrund ihrer leistungshomogeneren Schülerschaft auch nicht annähernd über die gleichen personellen und räumlichen Ressourcen für individualisierte Förderung wie die Stadtteilschulen. Insofern müssten zunächst die Gymnasien entsprechend ausgestattet werden, bevor man überhaupt über eine Erhöhung von Haltekräften sprechen kann“, sagt Gefert.
Das gelte auch für die „etwaige Einrichtung“ sogenannter IVK-ESA- oder IVK-MSA-Klassen an Gymnasien, in denen geflüchtete Schülerinnen den ersten oder zweiten Schulabschluss erwerben können, ebenso wie für eine Verringerung der Abschulungsquote.
Linken-Abgeordnete: Schulbehörde sieht offenbar Handlungsbedarf
Apropos Verringerung: Die Schulbehörde kündigt auf Abendblatt-Anfrage an, einen „möglicherweise im dritten Quartal beginnenden ersten Abbau“ von Internationalen Vorbereitungsklassen an den Stadtteilschulen durchzuführen, weil sich der Zuzug nach Hamburg abgeschwächt habe.
Derzeit werden der Behörde zufolge in Stadtteilschulen 2100 Mädchen und Jungen in 140 Vorbereitungsklassen unterrichtet, was einem Anteil von 38 Prozent an allen IVK-Schülern entspreche. Die Gymnasien hingegen betreuen 1667 Mädchen und Jungen in 117 Vorbereitungsklassen – das entspreche 30,7 Prozent.
Wie geht es weiter? Ein Bürgerschaftsantrag der Linkenfraktion mit der Forderung, die Lage der Stadtteilschulen zu verbessern, wurde in den Schulausschuss überwiesen. Dort soll er nach der Sommerpause aufgerufen werden. Linkenfraktionschefin Sabine Boeddinghaus sagt: „Ich werte die Überweisung als Zeichen, dass auch die Schulbehörde Handlungsbedarf sieht.“