Bad Oldesloe. Schminktipps auf Instagram schaden Gleichberechtigung, sagt Gleichstellungsbeauftragte Marion Gurlit. Wissenschaft sieht Rückschritte.

Als Marion Gurlit vor 30 Jahren die Stelle der Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Bad Oldesloe antrat, war die Welt noch eine andere. Am 1. Februar 1994 war das. Wenige Jahre zuvor hatte der Mauerfall viele Veränderungen mit sich gebracht. Schon damals hatte sich in Sachen Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau im Vergleich zu vorherigen Jahrzehnten und Jahrhunderten viel getan.

Im selben Jahr wurde das Gleichberechtigungsgebot im Grundgesetz ergänzt um dem Satz: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Von Debatten um Gendersternchen, Homeoffice-Zwang durch eine globale Pandemie und soziale Netzwerken wie Instagram wussten Gurlit und der Rest der Gesellschaft indes damals noch nichts. Doch, da ist sich die Gleichstellungsbeauftragte sicher: All das hat die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau geprägt – und zwar nicht nur im Positiven.

Marion Gurlit sieht Rückschritte in der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau

Ende Mai wird die 65-Jährige nach mehr als 30 Jahren als Gleichstellungsbeauftragte in den Ruhestand gehen. Zeit, auf die vergangenen Jahrzehnte zurückzublicken und zu fragen: Was hat sich seitdem getan? Dass Marion Gurlit sich fast ihr gesamtes Berufsleben für die Emanzipation der Frau einsetzte, ist keineswegs Zufall, die Gleichberechtigung der Geschlechter vielmehr so etwas wie das Thema ihres Lebens.

Schon in der Schule gründete sie, aus einem inneren Bedürfnis heraus, eine Frauengruppe. Nach ihrem Studium der Politikwissenschaft an der Universität Hamburg arbeitete sie von 1988 bis 1992 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Bundeswehruniversität – und war als Frau ganz schön allein auf weiter Flur. „Es gab nur eine einzige Professorin“ sagt Gurlit. Gerade Bundeswehrsoldaten hätten damals häufig ein besonders konservatives Rollenverständnis gehabt. „Ich hatte Schwierigkeiten, von den Studenten als weibliche Dozentin ernst genommen zu werden. Nicht wenige Männer waren der Meinung, dass Frauen eher für Zuarbeit zuständig sind.“

Seit Gurlits Amtsantritt haben sich viele rechtliche Rahmenbedingungen geändert

Immerhin: Eine Frauenbeauftragte hatte die Bundeswehr auch damals schon. Deren Besuch inspirierte Marion Gurlit. Als ihr Zeitarbeitsvertrag an der Uni auslief, bewarb sie sich auf die Stelle der Gleichstellungsbeauftragten in Glinde, übte das Amt eineinhalb Jahre aus, bevor sie in die Kreisstadt wechselte. „Seitdem haben sich viele rechtliche Rahmenbedingungen geändert, zum Beispiel, was die Vereinbarkeit von Beruf und Familie angeht“, sagt Gurlit. Seit 1996 gilt ein Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz. Seit 1997 ist Vergewaltigung in der Ehe strafbar. 2001 wurde das Recht auf Teilzeitarbeit eingeführt.

Klingt nach einer guten Entwicklung. Oder? Sind Männer und Frauen heute nicht gleichberechtigter denn je? Bei allen Fortschritten: Baustellen gebe es noch immer, sagt Marion Gurlit: „In Partnerschaften ist es auch heute noch oft so, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind, solange keine Kinder da sind.“ Aber selbst, wenn Männer theoretisch noch so viel von Emanzipation und Feminismus halten: „Im Familiengefüge passiert es oft, dass Haushalt, Kinderbetreuung und die Pflege von Angehörigen an der Frau hängen bleiben“, so Gurlit.

Frauen sind auch heute noch oft für Haushalt und Kinder verantwortlich

Dass das klassische Familienmodell der 50er-Jahre – Mann geht arbeiten, Frau bleibt zu Hause – heute seltener vorkommt, mache das Ganze nicht besser. Oft sei eher das Gegenteil der Fall. „Viele Familien können es sich heute ökonomisch nicht mehr leisten, dass die Frau zu Hause bleibt“, sagt Gurlit. Problem an der Sache: Wenn Mann und Frau beide Vollzeit arbeiten und Kochen, Abwasch und Care-Arbeit trotzdem Sache der Frau bleiben, macht das ihre Situation noch prekärer. Die Folge ist oft eine enorme Belastung. Die Wissenschaft nennt das Phänomen Gender-Stress-Gap.

Und: Gerade seit Beginn der Corona-Pandemie beobachtet Marion Gurlit, dass die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau sogar Rückschritte macht. Mit dieser Auffassung ist sie nicht allein. Auch die Europäische Union hat diese Entwicklung verzeichnet. Das geht aus dem Gleichstellungsindex des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen hervor, Direktorin Carlien Scheele sprach von einer beunruhigenden Entwicklung.

In der Corona-Pandemie mussten Frauen beruflich öfter zurückstecken als Männer

Woran das liegt? „In der Krise haben Frauen beruflich öfter zurückgesteckt als Männer“, so Gurlit. Zu einer Zeit, in der viele Berufstätige ins Homeoffice verbannt wurden und gleichzeitig Schulen und Kitas geschlossen waren, seien Haushalt und Kinderbetreuung wieder oft der Frau zugefallen. Das stellt auch der Verein UN Women Deutschland fest. „Durch die Corona-Pandemie wird die klassische Rollenverteilung weiter zementiert“, heißt es. Unbezahlte Care-Arbeit und ein Kürzertreten im Job führen dazu, dass Frauen öfter armutsgefährdet sind. Und auch bei gleicher Arbeit kommt es vor, dass Frauen auch heute noch weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen, Stichwort: Gender-Pay-Gap.

Marion Gurlit beobachtet aber noch mehr kritische Entwicklungen. Maßgeblich dafür verantwortlich: Soziale Netzwerke wie Instagram. „Dort wird oft ein völlig antiquiertes Frauenbild postuliert“, sagt sie. Man sieht Frauen, die sich schminken, ihre Outfits zeigen, die Küche putzen und Erziehungstipps geben. Es trendet der Hashtag #stayathomegirlfriend. Junge Frauen präsentieren sich dabei in der typischen Rolle der Hausfrau, bereiten ihrem Mann eine Brotdose für die Arbeit vor.

Soziale Netzwerke wie Instagram postulieren veraltete Rollenbilder

Das alles wirkt sich auf die Rollenbilder heranwachsender Generationen aus, zu diesem Ergebnis kommt auch die Kinderrechtsorganisation Plan International, die zu dem Thema eine Umfrage durchgeführt hat. Zum Beispiel finden 57 Prozent der Männer und 35 Prozent der Frauen, die täglich Social Media nutzen, dass Hausarbeit immer noch Frauensache ist. Schönheitsideale spielen eine große Rolle, sowohl weibliche als auch männliche. Frauen sollen schlank und schön, Männer muskulös sein.

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Auch im täglichen Leben meint Gurlit, Folgen dieser Entwicklung zu sehen: „Blau und rosa als typische Mädchen- und Jungsfarben begegnen mir heute öfter als damals, als meine Tochter geboren wurde“, sagt sie. Bei all dieser Rückwärtsgewandtheit gebe es gleichwohl auch Gegenbewegungen. Zum Beispiel in studentischen, urbanen Milieus erlebe sie gelebten Feminismus.

Marion Gurlit: „Wir sollten uns nicht in der Genderdebatte verrennen“

Die Debatte um gendergerechte Sprache verfolgt sie. „Auch Sprache trägt zu Veränderung bei“, sagt sie. Sie selbst finde Gendern richtig und wichtig, nutzt in der geschriebenen Sprache das Gendersternchen. Aber: Dass sich die öffentliche Debatte um Gleichberechtigung so sehr auf das Gendern fokussiert, findet sie übertrieben.

„Wir haben wirklich viel wichtigere Probleme: Gewalt gegen Frauen oder die Gender-Pay-Gap“, sagt Gurlit. „Darum sollten wir uns kümmern, statt uns in der Genderdebatte zu verrennen.“ Und: „Ich glaube, den Menschen, die sich vehement gegen das Gendern wehren, geht es teilweise auch darum, insgesamt das Thema Gleichberechtigung infrage zu stellen.“

Marion Gurlit wird ihrem Herzensthema auch im Ruhestand treu bleiben

Gurlit selbst wird im Sommer zwar ihr Amt als Gleichstellungsbeauftragte abgeben. Doch für die Gleichberechtigung kämpfen will sie weiterhin, so viel steht jetzt schon fest. In den vergangenen Jahrzehnten hat sie vieles erreicht, darunter die Einrichtung eines Frauenhauses, die Etablierung der Betreuten Grundschule, die Möglichkeit der Teilzeitausbildung in der Oldesloer Stadtverwaltung als erste in Stormarn, die Beratungsstelle Frau und Beruf Stormarn, die Frauenkulturtage, die Herausgabe von vier Büchern oder auch ihr Podcast „Frauen gleichberechtigt“, mit dem sie seit 2021 auch junge Zielgruppen erreicht.

Laufende Projekte wie die Frauenkulturtage wird Gurlit noch zu Ende führen, außerdem erscheint im Mai noch ein von ihr in Auftrag gegebenes Buch über Frauenstadtgeschichte im 17. bis 19. Jahrhundert von Oldesloes einstiger Stadtarchivarin Sylvina Zander. Frauengeschichte will Gurlit auch im Ruhestand in der 2021 gegründeten Frauengeschichtswerkstatt weiter verfolgen. Doch bei allen Projekten und Ehrenämtern für ihr Herzensthema soll auch Zeit für Müßiggang und Entspannung bleiben. Worauf sie sich am meisten freut? Gurlit: „Ausschlafen.“