Ahrensburg. Als bei Malina Neumann Ataxie diagnostiziert wird, gerät ihr Leben aus dem Gleichgewicht. Aber aufzugeben ist keine Option für sie.
Es ist im Sommer 2022, als Malina Neumann merkt, dass etwas mit ihr ganz und gar nicht stimmt. Damals ist die Ahrensburgerin mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern im Urlaub in Dänemark, genießt das sonnige Wetter am Strand. Doch dann das: „Ich wollte ins Wasser gehen und habe gemerkt, dass ich es nicht konnte“, sagt die 30-Jährige. Ihr Gleichgewichtssinn spielt verrückt. Wäre sie weitergelaufen, wäre sie umgefallen.
So weit, so beunruhigend. Doch dabei soll es nicht bleiben. „Einige Tage später im selben Urlaub wollte ich im Ferienhaus um den Couchtisch herumgehen“, sagt Neumann. Wieder kann sie das Gleichgewicht nicht halten. Dieses Mal stürzt sie – und zwar mit dem Rücken in den Fernseher. Der geht kaputt, ebenso wie weiteres Mobiliar, ein Fall für die Haftpflichtversicherung. Dass sie an einer seltenen, unheilbaren Krankheit leidet, weiß sie damals noch nicht.
Ataxie: Junge Mutter leidet an seltener Krankheit – und hat nur einen Wunsch
Zurück in Deutschland, geht sie zum Neurologen, dann ins Universitätsklinikum nach Lübeck. Die niederschmetternde Diagnose lautet: Ataxie. Als sogenannte Ataxien bezeichnet man eine Reihe von seltenen Erkrankungen des Gehirns und Rückenmarks, bei denen das Zusammenspiel verschiedener Muskelgruppen gestört ist. Unter anderem das Gleichgewicht und die Koordination funktionieren nicht mehr richtig. Die Krankheit ist nicht heilbar, die Lebenserwartung deutlich reduziert.
So schwierig diese Nachricht für Malina Neumann auch ist – überraschend kommt sie nicht. „Die Krankheit ist erblich. Schon meine Mutter und mein Opa litten daran. Meine Mutter ist 2016 daran gestorben“, sagt die 30-Jährige. Die Chance, dass sie ebenfalls erkranken würde, lag ungefähr bei 50 Prozent. Immerhin: Sie leidet an sogenannter Spinocerebelläre Ataxie Typ 3, kurz SCA3, das ist die häufigste auftretende Form. Trotzdem leiden in der Gesamtbevölkerung weniger als einer von 20.000 Menschen an der Krankheit.
Seltene Krankheit Ataxie: Junge Mutter spürt jeden Tag, dass ihr Leben aus dem Gleichgewicht geraten ist
Dass es bei ihr SCA3 ist, war lange nicht klar. Erst vor gut einer Woche hat sie die Nachricht bekommen. „Davor war ich ziemlich bedrückt, weil ich nicht wusste, was es genau ist“, sagt die Ahrensburgerin. Um besser mit der Situation umgehen zu können, begann sie eine Therapie. „Ich habe mir große Sorgen gemacht, dass es ein sehr seltener Typ ist, an dem weltweit nur drei Menschen leiden.“ Dadurch, dass SCA3 die häufigste Ataxieform ist, werde daran auch am meisten geforscht. Das gibt Malina Neumann Hoffnung.
Trotzdem spürt die junge Mutter jeden Tag, dass ihr Leben im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Gleichgewicht geraten ist. „Es gibt gute und schlechte Tage“, sagt sie. An schlechten Tagen könne sie kaum laufen, ohne sich irgendwo festzuhalten. „Ich habe Gangschwierigkeiten und sehe doppelt.“ Alltägliche Aktivitäten wie Küchenarbeit, Aufräumen oder Spazieren werden so zur Herausforderung. Auch Fernsehen ist durch die Beeinträchtigung beim Sehen nicht mehr ohne Weiteres möglich, dafür braucht sie eine spezielle Brille.
Ataxie: Noch ist die seltene Krankheit bei Malina Neumann im Anfangsstadium
Noch ist die Krankheit bei Malina Neumann im Anfangsstadium. Da Ataxie aber nicht heilbar ist, steht jetzt schon fest, dass sie fortschreiten wird. Ärzte können nur versuchen, den Prozess zu verlangsamen. Wie es einem Menschen geht, der an fortgeschrittener Ataxie leidet, hat die 30-Jährige aus nächster Nähe bei ihrer Mutter erlebt. „Sie hatte Schluckbeschwerden, sah Doppelbilder, hatte einen schwankenden Gang, konnte irgendwann gar nicht mehr laufen und musste gepflegt werden.“
Die Symptome von SCA3 können sehr unterschiedlich sein. Viele Betroffene sind früher oder später auf einen Rollstuhl angewiesen. Muskelschwund, Muskelkrämpfe, Gefühlsstörungen oder Missempfindungen können auftreten, ebenso wie Spastiken, Doppelbilder, Schluckstörungen, Schlafstörungen und ein sogenanntes Restless-Legs-Syndrom, also Unruhe in den Beinen. Ein Teil der Betroffenen entwickelt parkinsonähnliche Symptome.
Auch Malina Neumanns Kinder könnten an der erblichen Ataxie erkranken
Auch wenn diese Zukunftsaussichten nicht gerade rosig wirken und auch für ihre Kinder das Risiko besteht, an Ataxie zu erkranken – ihren Optimismus und Lebenswillen hat Malina Neumann nicht verloren. Das spürt jeder, der dieser jungen, optimistischen Frau begegnet. „Man könnte denken, dass die Diagnose schwierig für mich ist“, sagt sie. „Komischerweise bin ich aber überhaupt nicht besorgt.“
Ein Grund dafür sind sicherlich die Menschen in ihrem Leben, die sie umgeben. „Ich habe einen wunderbaren Mann und wunderbare Kinder“, sagt sie. „Wir sind ein Team.“ Ihren Mann lernt sie 2011 in einer Diskothek kennen, drei Tage später wohnen sie zusammen. „Ich habe ihm damals gesagt, was mit mir passieren kann. Er ist geblieben.“ 2016 zieht das Paar nach Ahrensburg, hat heute einen fünfjährigen Sohn und eine dreijährige Tochter.
Familie und Freunde geben der 30-Jährigen in schweren Zeiten Halt
Doch nicht nur ihre Familie gibt ihr Halt. „Ich habe auch wunderbare Freundinnen, die mich so nehmen, wie ich bin“, sagt Malina Neumann. „Wenn wir zum Beispiel im Tierpark sind und mir nach einiger Zeit das Gehen schwerfällt, nimmt meine Freundin einfach kommentarlos meinen Arm und hakt mich unter. Das ist sehr schön.“ Helfen würde auch, die Krankheit mit Humor zu nehmen. Wenn irgendetwas wegen des Gleichgewichts mal nicht so richtig gut klappe, können die Ahrensburgerin und ihr Mann meistens darüber lachen.
„Er macht auch immer Scherze und sagt, dass er mich später einfach in einer Babytrage umherträgt oder mir einen Rollstuhl mit Raketenantrieb baut“, sagt Neumann. Ihr Mann ist Mechatroniker. Sie selbst ist gelernte Staudengärtnerin, buddelt für ihr Leben gern in der Erde. Seit 2017 arbeitet sie wegen der Kinder nicht mehr. Dass sie in ihren Ausbildungsberuf zurückkehrt, wird wahrscheinlich wegen der Krankheit nicht möglich sein.
Seit ihrer Geburt leidet die Ahrensburgerin auch an einer Gerinnungsstörung
Überhaupt kommt kaum ein Beruf infrage, bei dem sie körperliche Arbeit leisten muss. Denn neben der Ataxie leidet sie auch seit ihrer Geburt an einer Blutgerinnungsstörung. Kleine Verletzungen können lebensgefährlich werden. „Das bedeutet, dass praktisch nur Jobs am Schreibtisch bleiben, aber auch das ist schwierig, weil ich mich eigentlich bewegen muss. Durch Sitzen am Computer wird die Krankheit noch schlimmer.“
Doch nicht nur Gartenarbeit ist eine Tätigkeit, die Malina Neumann seit ihrer Diagnose kaum noch ausüben kann. Auch ihr geliebtes Hobby, das Fahrradfahren, musste sie an den Nagel hängen. „Ich liebe Radfahren. Doch als ich das vor einiger Zeit versucht habe, bin ich einfach umgefallen“, sagt sie. Tragisch an der Sache: Ihre Kinder kommen gerade in ein Alter, in dem sie mit ihren Eltern Fahrradtouren unternehmen können. Das ist auch Malina Neumanns sehnlichster Wunsch.
Malina Neumann möchte mit ihrer Familie Fahrrad fahren
„Als vor etwa einem Jahr die Symptome anfingen, mich zu beeinträchtigen, hatte mein Sohn gerade Fahrrad fahren gelernt. Nun lernt mittlerweile auch meine Tochter das Laufrad fahren, und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis wir gemeinsame Ausflüge mit Fahrrad und Laufrad unternehmen möchten“, sagt sie. Das geht aber für die junge Mutter aktuell nicht.
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Die Lösung wäre ein Sesseldreirad mit elektrischem Antrieb, das allerdings 6500 Euro kostet. Der E-Antrieb ist notwendig, weil die Beinkraft der 30-Jährigen wahrscheinlich bald nachlassen wird. Um sich den Traum von gemeinsamen Familienausflügen mit dem Fahrrad erfüllen zu können, hat die junge Familie unter gf.me/v/c/mdcp/bewegung-gegen-sca3 eine Spendenaktion ins Leben gerufen. Obwohl sie erst seit ungefähr einer Woche online ist, sind schon etwa 3000 Euro von 99 Spendern zusammengekommen.
Bei Spendenaktion sind nach kurzer Zeit schon 3000 Euro zusammengekommen
„Das hätte ich überhaupt nicht gedacht und hat mich wahnsinnig berührt“, sagt Malina Neumann. „So viele Freunde und Bekannte haben uns unterstützt. Unter den Spendern war zum Beispiel ein Stammkunde aus einem E-Zigarettengeschäft, in dem ich mal gearbeitet habe. Auch Leute aus meiner Ausbildung oder Arbeitskollegen meines Mannes haben uns geholfen.“
Der Edeka Höfling an der Bahnhofstraße habe eine Aktion ins Leben gerufen, bei der Kunden ihr Flaschenpfand für die Familie spenden können. Das alles schenkt der jungen Mutter Mut. Und aufzugeben, so scheint es, passt auch nicht ins Naturell der lebenslustigen 30-Jährigen. „Ich möchte kein Mitleid“, sagt sie. „Ich könnte mich ins Bett legen und über mein Schicksal weinen, aber ich kann es ja nicht ändern. Also kann ich auch das Beste daraus machen.“