Kristina Enghusen engagiert sich als gesetzliche Betreuerin für Melanie C., einer Frau mit Behinderung. Das Ehrenamt fordert ihre Entscheidungskompetenz und zeigt ihr, wie erfüllend es sein kann, für Andere Verantwortung zu übernehmen
Von Hanna Kastendieck
Die beiden jungen Frauen kichern wie zwei pubertierende Mädchen. Gemeinsam stehen sie im Pferdestall. Der Umgang ist vertraut. Fast wie bei Schwestern. Ziemlich beste Freunde – wie der Filmtitel der französische Komödie der Regisseure Olivier Nakache und Éric Toledano aus dem Jahr 2011 könnte die Beziehung zwischen den beiden Frauen beschrieben werden. Auf der einen Seite steht Kristina Enghusen, 30 Jahre alt, Reittherapeutin und Dozentin an der Fachschule für Heilerziehung in Alsterdorf. Ein Mensch, dem andere Menschen wichtig sind. Der sich seit dem Abitur vor elf Jahren für andere einsetzt, sich engagiert, wo Hilfe gebraucht wird. Beruflich und ehrenamtlich. Auf der anderen Seite Melanie C., 34 Jahre alt. Sie ist auf den Rollstuhl angewiesen, kognitiv beeinträchtigt und durch ihre Ataxie ist ihre Feinmotorik eingeschränkt. Ihre Bewegungen kann sie häufig nicht kontrollieren. Meistens zittern ihre Hände. Sie ist eine Frau, die trotz ihrer Beeinträchtigungen vieles alleine kann, sich anziehen, pflegen. Und die fast immer gut drauf ist, sich an den Dingen des Lebens freuen kann wie ein Kind, das viel lacht und den Augenblick lebt. Melanie C. ist ein Mensch mit Behinderung. Alleine kommt sie im Leben nicht klar. Sie braucht jemanden, der für sie Entscheidungen trifft, wenn es um das Wohnen, die Finanzen oder medizinische Eingriffe geht. Dieser jemand ist Kristina Enghusen, ihre gesetzliche Betreuerin.
Kennengelernt haben sich die beiden vor elf Jahren. Damals hat Kristina Enghusen gerade ihr Abitur gemacht. Sie will Psychologie studieren, bekommt aber nicht gleich einen Studienplatz. Um die Wartezeit zu überbrücken, beschließt sie, ein freiwilliges soziales Jahr in einer Wohngruppe für erwachsene Menschen mit Behinderung zu machen. In der Einrichtung, die sie wählt, wohnt auch Melanie C. Sie ist damals 23 Jahre alt. Zu ihren Eltern hat sie keinen Kontakt mehr. Nach ihrem freiwilligen sozialen Jahr arbeitet Kristina Enghusen weiterhin in der Wohngruppe, wird zur Bezugsbetreuerin von Melanie und kümmert sich um die junge Frau während der Arbeitszeit. 20 Stunden in der Woche verbringt sie in den Räumen des Hilde-Wulff-Hauses. Sie merkt, dass ihr die Arbeit Spaß macht, beschließt, eine berufsbegleitende Ausbildung zur Heilerzieherin zu machen. Als sie sich Anfang 2013 entscheidet, sich selbstständig zu machen, ist ihr klar: „Ich werde die Wohngruppe verlassen müssen. Aber Melanie verlasse ich nicht.“
Beim Amtsgericht beantragt sie die gesetzliche Betreuung für Melanie. Die beiden schreiben gemeinsam einen Brief an die zuständige Behörde, in dem sie begründen, warum sie diese Bindung wünschen. Am 10. September schließlich bekommt Kristina ihren Betreuerausweis. Seitdem ist sie zuständig für Gesundheits- und Vermögensfragen, darf bestimmen, wo Melanie wohnen soll und vertritt sie gegenüber Behörden, Sozialleistungsträgern und Einrichtungen der Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Die Entscheidungen trifft sie alle im Einverständnis mit Melanie. Sie fühlt sich verantwortlich für die vier Jahre ältere Frau.
„Als ich meine Tätigkeit im Hilde-Wulff-Haus gekündigt habe, habe ich zu Melanie gesagt: ‚Jetzt arbeite ich nicht mehr bei dir, jetzt können wir richtig Freundinnen sein und du kannst mich zu Hause besuchen‘“, erinnert sich Kristina Enghusen. Zum Abschied schenkt sie Melanie eine Reisetasche mit den nötigsten Dingen: Zahnbürste, Duschsachen, Hausschuhe. Es ist ein Geschenk für die Zukunft. Denn von nun an soll Melanie regelmäßig ihr Gast sein.
Jeden Freitag ist ihr gemeinsamer Tag. Dann holt Kristina Enghusen Melanie von der Arbeit in der Tagesförderstätte Roter Hahn ab und die beiden fahren zu ihr auf den Hof. Drei Pferde besitzt die Reittherapeutin. Stundenlang verbringen sie im Stall. Manchmal darf Melanie auch reiten. Anschließend gehen sie einkaufen, schreiben ein Reittagebuch und essen zusammen Abendbrot. Alle vier Wochen bleibt Melanie sogar über Nacht. Auch den anschließenden Sonnabend widmen Kristina Enghusen und ihr Lebensgefährte Nicolas Carl ihrem Gast. Sie tun das, weil sie sie gern um sich haben. „Und weil jeder Mensch einen Menschen verdient hat, auf den er sich verlassen kann“, sagt Kristina Enghusen. Sie tun das aber auch, weil sie von Melanie lernen können. Zum Beispiel, die Dinge bewusster wahrzunehmen, sich wieder für scheinbar Selbstverständliches zu begeistern, jeder Begebenheit und Unternehmung Raum zu geben, nicht zu hetzen, sondern den Moment zu leben. „Durch Melanie bin ich gezwungen, viele Dinge langsamer zu tun. Das Zusammensein mit ihr entschleunigt mich“, sagt die Betreuerin.
Sie ist sich bewusst, dass sie mit ihrer Aufgabe eine große Verantwortung für einen Mitmenschen übernommen hat. Umso wichtiger ist ihr, die Entscheidungen in Melanies Sinne zu fällen. Vor ein paar Monaten haben sie gemeinsam beschlossen, dass Melanie ihren Wohnsitz wechseln wird. Sie zieht in ein neues Wohnprojekt im Stadtteil Langenhorn. Dort wird sie zum ersten Mal eine eigene kleine Wohnung bewohnen. Fachkräfte stehen jedoch rund um die Uhr zur Verfügung.
Weil jede noch so kleine Veränderung in Melanies Leben sie viel Kraft kostet, hat Kristina Enghusen der Sache viel Zeit und Raum gegeben sich zu entwickeln. Inzwischen freut sich die 34-Jährige auf das neue Zuhause. In der kommenden Woche wollen die beiden nach einem Haustier Ausschau halten. Melanie wünscht sich zwei Hasen. Sie wird die beiden in einem Käfig in ihrer neuen Wohnung halten dürfen. Sollten die Nager mal kränkeln, wird Kristina Enghusen zur Stelle sein und die Tierchen samt Besitzerin zum Tierarzt kutschieren. Auch das gehört für sie selbstverständlich dazu.