Reinbek. Gesellschafter der Gemeinschaftspraxis fordern Systemwechsel: Bürokratie und Dokumentationszwänge gingen zulasten der Patienten.
Ein knallrotes Plakat hängt im Wartezimmer der Gemeinschaftspraxis am Rosenplatz. „Diese Praxis ist bedroht“, steht in weißen Lettern darauf. Neue Patienten könnten die Hausärzte nicht mehr annehmen, ist in im Flur zu lesen, die Kapazitätsgrenze sei überschritten. Nur die Kardiologin an Bord kann noch Neupatienten behandeln. Die Warteschlange der Patienten reicht oft bis ins Treppenhaus hinunter. Die Ärztinnen und Ärzte aber machen Überstunden. Dr. Kai Kompisch unterschreibt auch um 20 Uhr noch schnell im Stehen einen Stapel Krankmeldungen.
Auf einem anderen Zettel wird unter dem Titel „#Praxenkollaps“ der ganze Ärger der deutschen Mediziner zusammengefasst: Ärztliche Behandlungen, die nicht mehr in voller Höhe bezahlt werdn, Personalmangel, zunehmende Bürokratie und immer weniger Hausarztpraxen, weil ältere Allgemeinmediziner keine Nachfolger finden – all dies führe dazu, dass den Kassenärzten immer weniger Zeit für ihre Patientinnen und Patienten bleibe. Dr. Jens Christiansen und Dr. Kai Kompisch, zwei der Gesellschafter der Gemeinschaftspraxis in Reinbek, schlagen jetzt Alarm: „Der Fehler liegt im System“, sagt Kompisch.
Hausärzte: Aufnahmestopp in Gemeinschaftspraxis am Rosenplatz
„Den Aufnahmestopp haben wir nicht aus böser Absicht verhängt“, sagt der 43 Jahre alte Hausarzt. „Wenn wir nicht noch diese Grundfreude an unserem Beruf hätten, würden wir sagen: Ihr könnt uns alle mal an unseren Füßen packen, macht euren Kram doch alleine!“ Die Bürokratie und die Dokumentationszwänge hätten derartig zugenommen, dass sie Stunden um Stunden bräuchten, um dies zu erledigen. Zeit, die die Ärzte gern für ihre Patienten hätten.
Die Praxis ist die größte hausärztliche Praxis in Reinbek mit insgesamt 28 Mitarbeitenden, darunter sind sieben Ärzte, drei von ihnen arbeiten Vollzeit. „Allein am vergangenen Dienstag hatten wir 500 Patientenkontakte – inklusive Medikamentenanforderungen aus Altenheimen und ähnliches“, berichtet Jens Christiansen, der 1997 in die vor 30 Jahren gegründete Praxis eingestiegen ist. Eine Hausarztpraxis sei ein mittelständisches Unternehmen mit steigenden Ausgaben und hohen Investitionen für medizinischen Geräte, das, wenn es ums Geldverdienen geht, strengen Regeln unterworfen sei.
Kassenärztliche Sitze werden zum Ladenhüter
Er hat Verständnis dafür, dass junge Kollegen keine eigene Praxis mehr eröffnen wollen: „Schon gar nicht in einer kleinen Praxis. Denn als Einzelkämpfer ist das alles kaum noch zu bewältigen und zu finanzieren“, sagt der 66-Jährige. Daher werde man kassenärztliche Sitze zurzeit kaum los. Er freut sich jedoch besonders darüber, dass er eine junge Ärztin für die Praxis gewinnen konnte. „Sie hätte gern schon im August bei uns begonnen, aber wie es zurzeit so ist, gibt ihr aktueller Arbeitgeber sie noch nicht frei. Deshalb fängt sie erst im Januar 2024 bei uns an.“
Aber auch die Anstellung einer Ärztin oder eines Arztes, sei nicht leicht. „Denn die Kassenärztliche Vereinigung bestimmt auch, wie viel sie arbeiten dürfen“, sagt Christiansen: „Wenn wir einen halben Kassensitz kaufen, darf die Angestellte 15 Stunden dafür arbeiten. Ein Kassensitz entspricht 30 Arbeitsstunden in der Woche, die wir abrechnen dürfen. Eine ehemalige selbstständige Kollegin aber hat 60 Stunden gearbeitet.“ Der Steuerberater lobe die Praxis, weil sie einen Gewinnanteil von 45,8 Prozent abwerfe. „Als wir noch zu zweit gearbeitet haben vor 20 Jahren, hat er uns für einen 60-Prozent-Gewinnanteil gelobt“, erinnert sich Christiansen. „Die Ausgaben sind überproportional gestiegen. Ohne Privatpatienten würden wir heute überhaupt nicht mehr zurechtkommen.“
Ein Arztgespräch am Telefon ist der KV nichts wert
Denn die Behandlung privater Patientinnen und Patienten ist nicht budgetiert. Für die medizinischen Leistungen gesetzlich Versicherter aber gibt es nur eine Summe X, die pro Kalenderjahr ausgegeben werden darf. Diese Geldmenge wird auf alle erbrachten medizinischen Behandlungen verteilt und durch die Krankenkassenbeiträge finanziert. Daher legt die Kassenärztliche Vereinigung im Vorwege fest, wie viel ein Arzt verdienen kann. Behandelt er mehr Patienten als sein Budget vorsieht, arbeitet er ohne Honorar. Das passiert Hausärzten zum Ende des Quartals regelmäßig.
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Hinzu komme die Intransparenz der Vergütung der ärztlichen Leistungen durch die Krankenkassen. „Was glauben Sie, was wir bekommen, wenn wir beispielsweise 20 Telefonate hintereinander führen, um etwa das Ergebnis einer Darmspiegelung oder eine neue Medikation zu besprechen?“, fragt Jens Christiansen. „Null Euro! Dabei nimmt das durchaus Zeit in Anspruch und wird verständlicherweise auch von uns erwartet.“
13 Minuten dürfen sich Ärzte bei einem Hausbesuch aufhalten
Denn jede medizinische Leistung sei durch die Krankenkassen einerseits durch ein Punktesystem hinterlegt, andererseits sei der zeitliche Rahmen eng festgelegt. Jedes Quartal bekommt eine Praxis seitenweise Listen der medizinischen Leistungen mit den Punkten, die dort hinterlegt sind. „Und dann steht dort immer ‚unter Vorbehalt‘“, erklärt Kai Kompisch. „Wir erfahren erst sechs Monate später, wie viel wir tatsächlich verdient haben.“
„Ein Ultraschall des Bauches etwa soll sieben Minuten dauern“, erläutert der 43 Jahre alte Mediziner. „Schalle ich in fünf Minuten – das ist durchaus möglich –, damit ich mehr Patienten behandeln kann, bekomme ich die Ultraschalluntersuchungen nicht alle bezahlt.“ Für einen Hausbesuch sind 13 Minuten kalkuliert. „Das ist nichts für einen alten Menschen, der vielleicht schlecht hört und auf seinen Arzt wartet“, stellt Kai Kompisch fest. „All das ist Ausdruck dessen, dass unser Gesundheitssystem so nicht mehr funktioniert. Die Krankenkassen haben eklatant aufgerüstet, um Geld zu sparen. Wir sollen das ausbaden. Und das kostet unsere Zeit und unser Geld.“
Gesetzgeber sei gefordert, die Misere im Gesundheitssystem zu heilen
Er und seine Kollegen wünschen sich von der Politik endlich eine ehrliche Analyse der Probleme: „Andere Länder machen es uns doch vor: Warum gibt es denn in Österreich nur zwei Krankenkassen? Oder in Dänemark: Warum ist dort alles vernetzt und digitalisiert?“, fragt Kai Kompisch. „Die Politik kneift vor jeder Landtags- oder Kreiswahl und versäumt es, die Probleme anzugehen.“ Jens Christiansen berichtet: „Wir müssen immer noch mit Fax-Geräten arbeiten und unglaubliche Mengen an Papier archivieren.“