Aumühle. Projekt zur Klinischen Waldtherapie in Kooperation mit Berliner Charité läuft im Sachsenwald. Stormarner können noch mitmachen.
Ich stehe im Wald und umarme einen Baum. Meine Arme sind fest um den Stamm geschlungen. Ich spüre die raue Rinde an meiner Wange. Etwas kitzelt auf meinem Handrücken. Als ich nachgucke, sehe ich zwei Spinnen über meine Haut laufen. Ich blicke nach oben in die Baumkrone, in die grünen Blätter, die den Himmel sprenkeln. Es regnet an diesem frischen Vormittag im Sachsenwald, doch zwischen den Schauern blickt immer wieder die Sonne hervor. Als ich mit der Gruppe im Schneckentempo, fast in Zeitlupe, durch den Wald gehe, streichle ich das feuchte Moos auf den Baumstämmen, sehe die Regentropfen von den Blättern herunterlaufen und Nacktschnecken sich ihren Weg durch das Laub bahnen.
Doch was hier gerade passiert, ist kein normaler Waldspaziergang. Der Sachsenwald ist einer von vier Standorten in Deutschland, an dem zurzeit ein Forschungsprojekt zur Klinischen Waldtherapie läuft. Das Pilotprojekt wird vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft sowie dem Bundesumweltministerium über den Waldklimafonds gefördert und von INFTA (International Nature and Forest Therapy Alliance) Germany unter Projektleiter Dr. Dieter Kotte in Zusammenarbeit mit der Charité Berlin durchgeführt. INFTA ist der internationale Dachverband, der die Ausbildung von zertifizierten Klinischen Waldtherapeuten organisiert und kontrolliert. INFTA Germany wurde im März 2021 in Hamburg gegründet.
Projekt soll die Anerkennung als Naturheilverfahren unterstützen
Eines der Gründungsmitglieder ist Dr. Hannelore Zapp-Kroll, die ebenfalls am Forschungsprojekt beteiligt ist. Die Hamburgerin war mehr als 40 Jahre als Psychiaterin tätig. Durch einen Bericht aus dem Hamburger Abendblatt hatte die Ärztin von der Waldtherapie erfahren – und entschieden, sich zur Klinischen Waldtherapeutin ausbilden zu lassen.
2020 war sie Teil der ersten Gruppe in Deutschland. Seitdem führt sie regelmäßig andere durch den Wald. „Ich habe die Natur schon immer geliebt, war als Ärztin aber stets in geschlossenen Räumen. Als ich von der Waldtherapie gelesen habe, hat es Klick gemacht. Ich dachte: Endlich kannst du raus in den Wald“, sagt sie. Dass sie etwas Sinnvolles für die Menschen, die Natur und sich selbst tut, ist ihr Antrieb. Denn dass Klinische Waldtherapie die Gesundheit nachhaltig verbessern kann, zeigen internationale Forschungsergebnisse.
Wald soll bei Depressionen, ADHS und Krebs helfen können
In Ostasien ist das Gesundheitskonzept schon lange etabliert. Das aktuelle Forschungsprojekt soll einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die Klinische Waldtherapie als wissenschaftlich anerkanntes Naturheilverfahren auch in Deutschland als integralen Bestandteil der Leistungen des Sozialgesetzbuches zu etablieren. Die Vision der Beteiligten lautet: Ärzte sollen die Waldtherapie als Kassenleistung verschreiben können.
„Die positiven mentalen und körperlichen Effekte sind zahlreich, wie internationale Forschungen zeigen“, sagt Zapp-Kroll. „Blutdruck und Puls werden normalisiert, der Stresspegel sinkt, die Produktion von tumorfressenden Zellen wird gesteigert, die Stimmung und das Energielevel steigen, Schlaf und Konzentration verbessern sich“, so die Ärztin. Insofern könne Waldtherapie zum Beispiel bei Depressionen, ADHS und sogar in der Krebstherapie eingesetzt werden und dazu führen, dass weniger Medikamente mit schweren Nebenwirkungen eingenommen werden müssten.
Auch das Verhältnis zur Natur wird verbessert
Doch nicht nur für Erkrankte, sondern auch für gesunde Menschen aller Altersgruppen könne Waldtherapie wohltuend wirken. Und: Nicht nur auf die menschliche Gesundheit, sondern auch in Sachen Naturschutz könne Waldtherapie Positives bewirken, so Zapp-Kroll: „Wenn man merkt, was einem die Natur geben kann, geht man auch anders mit ihr um.“
Zapp-Kroll leitet auch an diesem Tag gemeinsam mit ihrer Kollegin Manuela Fischer eine der Gruppen. Nicht ohne Skepsis mache ich die Übungen mit. Dass der Wald ein schöner Ort zum Runterkommen ist, sehe ich auch so. Auch, dass die Farben Grün und Blau eine beruhigende Wirkung haben sollen, habe ich schon einmal gehört. Doch was soll die Waldtherapie von einem achtsamen Spaziergang auf eigene Faust unterscheiden? Einiges, stelle ich kurz darauf fest.
Vor und nach den Übungen füllen die Teilnehmer Fragebögen aus
Die sensorischen und mentalen Übungen schulen die Achtsamkeit und lassen mich den Wald mit allen Sinnen erfahren. Ich denke nicht an den Artikel, den ich später noch schreiben muss, nicht an den Geburtstag, für den ich noch ein Geschenk besorgen muss, oder die Nachrichten von Freunden, die auf eine Antwort warten. Jetzt gerade gibt es nur mich und die Natur. Ich höre das Rauschen der Blätter im Wind und rieche den harzigen Duft der Nadelbäume. Nach nur einer Stunde im Wald spüre ich einen Effekt: Meine Stimmung hat sich wesentlich aufgehellt.
Wie genau sich die mentalen und sensorischen Übungen auf die Probanden auswirken, ist Gegenstand des Forschungsprojekts. Vor und nach den Übungen füllen die Teilnehmer Fragebögen aus. „Es geht auch um die Frage, wie sich die Intensität der Sitzungen auf physische und psychische Parameter auswirkt“, sagt Meline Meinkohn, Doktorandin bei der Charité. Deshalb kommen einige der Probanden an zwei und andere an drei Tagen.
Untersuchung läuft noch bis zum 4. Juni
Eine der Teilnehmerinnen ist Mareike Emde aus Hamburg-Eimsbüttel. „Es war herrlich“, sagt sie nach der Rückkehr aus dem Wald. „Ich gehe sowieso gern in die Natur und habe über eine Bekannte aus Aumühle, die selbst Waldtherapeutin ist, von der Studie erfahren.“ Die 35-Jährige praktiziert seit Jahren Achtsamkeitstechniken.
„Ich gehe ohnehin bewusst durch die Natur, aber das hier ist trotzdem noch einmal ein anderer, festerer Rahmen“, sagt Emde. Die bewussten Übungen haben ihr viel gegeben. Und: „Es ist mir wichtig, die wissenschaftliche Forschung zu unterstützen.“ Wer das ebenfalls tun möchte, hat im Sachsenwald die Chance dazu. Bis 4. Juni laufen dort die Untersuchungen. Interessierte können sich unter infta.org/home/research/national/sachsenwald/ für die Studie anmelden.