Barsbüttel. Die Prognosen waren schlecht, als Stella Paulina Tsagkalidis nach der Geburt irreparable Schäden erleidet. Doch sie ist eine Kämpferin.
Auf ihrem Schreibtisch steht eine Schüssel mit Süßigkeiten, daneben liegen noch Packungen mit Schokolade. Es sind Mitbringsel für die Kollegen. Stella Paulina Tsagkalidis hat Geburtstag. Sie ist jetzt 26 Jahre alt. Viele nutzen so einen Anlass, um dienstfrei zu machen. Die Barsbüttelerin hat daran keinen Gedanken verschwendet und bereits um 7.30 Uhr das Schwarzenbeker Rathaus betreten. „Ich bin einfach gern hier“, sagt die junge Frau, die sich noch in der Ausbildung zur Verwaltungsfachangestellten befindet. Dass sie diesen Weg eingeschlagen hat, ist keine Selbstverständlichkeit. Kurz nach der Geburt erleidet Tsagkalidis einen Schlaganfall, der irreparable Schäden verursacht. Die rechte Körperhälfte ist gelähmt. Hinzu kommt eine Epilepsie, die inzwischen im Griff ist und keine Rolle mehr im Alltag spielt.
Über ihr Schicksal, das sie weiterhin mit Bravour meistert, berichtete diese Redaktion erstmals im Juli 2019. Damals präsentiert Tsagkalidis stolz ihr Abi-Zeugnis. Das Zertifikat erwirbt sie an der Erich-Kästner-Gemeinschaftsschule in ihrer Heimatgemeinde. Der Notendurchschnitt von 3,2 ist dabei nebensächlich. Denn im Kindesalter wurde ihr prognostiziert, keinen Schulabschluss zu schaffen. Mithilfe der Familie und einem unbändigen Willen steckt Tsagkalidis auch Rückschläge weg wie das zweimalige Wiederholen der zehnten Klasse und erfüllt sich einen Traum.
Praktikum in Barsbütteler Verwaltung machte Appetit auf mehr
Was aber nach der Schule? Tsagkalidis denkt auch an ein Studium, allerdings sind da diese Selbstzweifel. „Ich habe nach wie vor im Hinterkopf, dass ich gewisse Sachen nicht kann. Das wurde früher von Personen aus dem schulischen Umfeld suggeriert und hat sich bei mir fest verankert.“ Das Thema Universität ist schließlich nach einem Praktikum in der Barsbütteler Gemeindeverwaltung mit Station bei der Volkshochschule vom Tisch. „Ich habe Hefte für das Herbstsemester erstellt, das hat viel Spaß gemacht.“ Auch in andere Bereiche schnuppert sie rein. Bürgermeister Thomas Schreitmüller ist von ihren Fähigkeiten überzeugt. Er ermöglicht der Frau mit einer 50-Grad-Behinderung im Anschluss eine sogenannte Einstiegsqualifizierung, die Vorstufe einer Ausbildung mit Schulbesuch in Bad Oldesloe und Praxistagen im Rathaus. Acht Monate dauert das.
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Eine Bewerbung zwecks Lehre schickt die Barsbüttelerin trotzdem nicht an Schreitmüller. Ein Grund: Ihre Mutter ist in der Kommunalpolitik aktiv und hat dadurch viel mit der Verwaltung zu tun. Stattdessen sendet Tsagkalidis ihre Unterlagen unter anderem an den Kreis Stormarn, nach Glinde, Wentorf und Schwarzenbek. Dort ist sie nach dem Vorstellungsgespräch samt vorherigem Persönlichkeitstest begeistert: „Ich habe mich sehr wertgeschätzt gefühlt.“ Tsagkalidis wird angenommen, sagt daraufhin andere Kennenlernrunden ab. Beginn der Ausbildung ist im August 2021.
Die Zwischenprüfung besteht Tsagkalidis mit der Note zwei
Seitdem hat die Barsbüttelerin in zahlreichen Sektionen gelernt: Bauamt, Kämmerei, Bürgerservice, Schule und Kultur. Die Zwischenprüfung in Bordesholm besteht sie mit der Note zwei. „Die Rückmeldungen aus den Abteilungen waren durchweg positiv. Der Finanzbereich liegt ihr gut“, sagt Britta Lüdtke (42), Ausbildungsleiterin im Schwarzenbeker Rathaus. Für die Verwaltung in der 17.500-Einwohner-Stadt arbeiten 170 Personen inklusive Schulsekretärinnen, Hausmeister und Bauhofkräfte. Tsagkalidis ist derzeit in der Personalabteilung. Zu Dienstbeginn gibt sie die Krankschreibungen in den Computer ein, bereitet später zum Beispiel Stellenausschreibungen vor.
Im Büro ist Platz für zwei Personen. Die Kollegin bleibt heute im Homeoffice. Sie kommt damit nicht in den Genuss der leckeren Muffins, die Lüdtke zum Ehrentag der Auszubildenden mitgebracht hat. Tsagkalidis erledigt berufliche Dinge nicht von daheim. „Ich brauche den Weg hin und zurück, um anzukommen und abzuschalten.“ Mit ihrem Elektroauto benötigt sie rund eine halbe Stunde für eine Fahrt. Den Pkw steuert die junge Frau mit einer Hand. Am Lenkrad befindet sich ein Knauf mit allen Funktionen wie Hupe, Scheibenwischer und Blinker.
Auszubildende baut in ihrer Freizeit Lego-Häuser
Wegen der Behinderung beträgt die Verweildauer im Büro 30 Stunden pro Woche. Ob sie je in Vollzeit arbeiten wird, kann Tsagkalidis nicht abschätzen. Zumindest hält sie es für möglich, wenn die Berufsschule wegfällt. Die strengt nämlich an und verlangt ihr alles ab. Die Blöcke an der Lehranstalt in Mölln dauern fünf bis zwölf Wochen. Entspannung erfährt die Auszubildende in der Freizeit bei ausgedehnten Spaziergängen vornehmlich nach Hamburg-Wandsbek sowie beim Bauen von Lego-Häusern. Kommt ein neues Modell auf den Markt, greift sie sofort zu. Die Barsbüttelerin wohnt nach wie vor bei ihren Eltern, sie brauche noch den Halt der Familie. Für den Fall des Auszugs präferiert sie den Ort: „Ich bin da fest verwurzelt.“
In Sachen Lehre befindet sich Tsagkalidis jetzt auf der Zielgeraden. Im März ist die schriftliche Prüfung, nach der praktischen ist die Ausbildung dann im Juni 2024 beendet – vorausgesetzt, sie besteht. Im Anschluss wird die Frau mit dem großen Kämpferherz für sechs Monate einen befristeten Vertrag erhalten, so viel ist sicher. Denn das geht außerhalb des Stellenplans. In diesem muss für eine Tätigkeit ohne Zeitlimit Platz geschaffen werden für die Barsbüttelerin, sei es durch Schaffung eines neuen Jobs oder Fluktuation. „Ziel ist es immer, Auszubildende längerfristig zu übernehmen. Das ist uns in den vergangenen Jahren ganz gut gelungen“, berichtet Britta Lüdtke.
Das klingt nach einer glänzenden Perspektive für Stella Paulina Tsagkalidis, die hofft, dass ihre Geschichte anderen Menschen Mut macht. Über ihre berufliche Zukunft sagt sie: „Ich bin offen für die Arbeit in allen Abteilungen. Hauptsache Schwarzenbek.“ An ihrem Ehrentag wurde sie übrigens vom Vater zur Arbeit gefahren und der Mutter abgeholt. Die Familie feierte in einem Restaurant. Der Bruder war extra aus Leipzig angereist, wo er studiert.