Barsbüttel. Stella Paulina Tsagkalidis zeigt ihr Abitur-Zeugnis. Die 21-Jährige hatte eine Prognose, keinen Schulabschluss zu schaffen.
Erst 14 Tage Dubai, Hongkong und Bangkok, dann zwei Wochen Urlaub bei den Großeltern in Griechenland: Stella Paulina Tsagkalidis stehen spannende und erlebnisreiche Urlaubstage bevor – und die hat sie sich auch verdient nach dem bestandenen Abitur. Mit diesem Zertifikat sticht die 21-Jährige zwar nicht heraus, allerdings ist ihr Weg dahin einzigartig.
Denn die Barsbüttelerin hatte am Tag nach ihrer Geburt einen Schlaganfall und leidet seitdem unter einer spastischen Lähmung, weitere Folgeerscheinungen erschwerten das Lernen. Trotz der Prognose, keinen Schulabschluss zu schaffen, gab sie nicht auf und erfüllte sich nun einen Traum.
Schlaganfall kurz nach der Geburt
„Das war für mich vor Jahren noch unerreichbar. Ich bin einfach nur glücklich. Jetzt ist erstmal Zeit für Entspannung nach dem Stress“, sagt die in Kempten im Allgäu geborene junge Frau. Erinnern kann sie sich an die Zeit als Baby natürlich nicht mehr. Dafür aber ihre Mutter Angela. Sie berichtet von einem Zugang, der in der Klinik gelegt wurde, „um das Gehirn mit Medikamenten herunterzufahren“. Wenige Stunden, nachdem ihre Tochter das Licht der Welt erblickt hatte. Zwei Wochen später beginnen sie mit Krankengymnastik bei einem Spezialisten, doch die Schäden sind irreparabel. Stella Paulinas rechte Körperhälfte ist stark in Mitleidenschaft gezogen. Der rechte Arm ist gelähmt, das Handgelenk abgeknickt – und auch heute zieht sie das rechte Bein nach und humpelt. Die Stormarnerin ist gezwungenermaßen Linkshänderin.
Erst im Alter von drei Jahren spricht sie erste Worte, bekommt einen Kindergartenplatz in Reinbek in einer Einrichtung mit dem Schwerpunkt Inklusion. Als sogenanntes I-Kind mit Förderbedarf geht es danach an die Grundschule im Barsbütteler Ortsteil Willinghusen. „Meine Eltern mussten mich immer fahren, ich war sehr schüchtern aufgrund meiner Behinderung, habe mir nichts zugetraut“, sagt Stella Paulina.
An der Bildungseinrichtung wissen die Pädagogen um die Probleme, die Angela Tsagkalidis so beschreibt: „Die Verarbeitungsgeschwindigkeit ist langsam. Bei Transferaufgaben benötigt sie auch heute noch viel Zeit. Das wird das ganze Leben auch so bleiben.“ Erschwerend kommt hinzu, dass sich bei dem Kind auch noch eine Epilepsie entwickelt. Immer wieder hat das Mädchen Anfälle, muss von der Schule abgeholt werden. Den Stoff lernt Stella Paulina trotzdem, die Noten sind zufriedenstellend.
Schulwechsel sorgt zunächst für Tiefpunkt
Vieles ändert sich mit dem Wechsel an die Erich-Kästner-Gemeinschaftsschule am Soltausredder. Dort sind Fachkräfte des Glinder Förderzentrums für das Mädchen zuständig. Sie beobachten es über Wochen und „stellten dann die Prognose, dass ich die Schulzeit nach neun Jahren ohne Abschluss beenden werde“, sagt Stella Paulina. Das sei der Tiefpunkt gewesen. „Ich habe mich gefragt, ob es überhaupt noch Sinn ergibt weiterzumachen.“
Doch sie kämpft, schafft den Übergang in die zehnte Klasse. Zuvor hatte sie einen Intelligenztest gemacht und wurde als normal eingestuft. Ihre Mutter hat inzwischen die Leitung einer Schlaganfallselbsthilfegruppe für den norddeutschen Raum übernommen und sagt: „Ich war überzeugt, dass meine Tochter nicht minder intelligent ist als der Durchschnitt.“ Um ihre Annahme zu bestätigen, lässt sie ihre Tochter, die Mathe in der Fördergruppe lernt, auch eine Arbeit aus dem Regelunterricht schreiben. Eine Lehrkraft korrigiert diese. „Mit dem Ergebnis, dass meine Tochter das alles konnte.“ Vom Sportunterricht ist die Barsbüttelerin befreit, sie lernt aber Schwimmen und geht kurzzeitig ins Fitnessstudio. Doch das ist nicht ihr Ding, deswegen orientiert sie sich um und macht Yoga.
Die Familie, zu der auch Vater Wenerios und der drei Jahre jüngere Bruder Konstantin gehören, liebt das Radfahren. Bei Urlauben in Dänemark und in den Niederlanden gewinnen die Tsagkalidis’ ein bisschen Abstand vom schweren Alltag. Stella Paulina ist dann mit einem Liegerad unterwegs. Es hat drei Reifen. Somit ist gewährleistet, dass das Mädchen bei den Touren nicht hinfällt. Ihr Grad der Behinderung wird von 80 auf 50 heruntergestuft.
Das Bauen mit Legosteinen gibt der jungen Frau Kraft
Hoffnungen, dass jetzt alles besser wird, erfüllen sich nicht. Immer wieder kippt Stella Paulina in der Schule um. Es sind psychisch bedingte Anfälle. Wenn sich das Mädchen über- oder unterfordert fühlt, wird es plötzlich ohnmächtig. Deswegen lässt die Barsbüttelerin Prüfungen sausen und wiederholt die zehnte Klasse gleich zweimal. Sie denkt wieder ans Aufhören, muss zwischendurch für vier Monate zu Hause bleiben. Der Akku ist leer – eine harte Zeit für die Familie. „Ich bin dann regelmäßig nach Jenfeld spazieren gegangen und mit dem Bus zurückgefahren.“ Sie brauche feste Abläufe. Das gibt Stella Paulina Kraft. Genauso wie das Bauen mit Legosteinen – übrigens noch heute. Der Antrag ihrer Eltern auf sechs Stunden Hausunterricht pro Woche wird bewilligt. Sie büffelt, schafft den Übergang in die Oberstufe und wird wieder in die Klasse integriert. Allerdings erhält sie immer noch die Unterstützung einer Lehrkraft im Elternhaus – und findet drei Freundinnen, mit denen sie zusammen paukt.
In den Fächern Englisch und Spanisch geht es nicht ohne Nachhilfe. Stella Paulina entscheidet sich für das naturwissenschaftliche Profil, schreibt Abi-Prüfungen in Mathe, Deutsch und Bio. Mit dem Notendurchschnitt von 3,2 ist sie zufrieden. Wirtschaft und Politik habe ihr besonders Spaß gemacht. Kein Wunder, in der Familie wird viel über gesellschaftliche Themen gesprochen. Mutter Angela ist Fraktionsvorsitzende der Barsbütteler Grünen.
Sie ist stolz auf ihre Tochter, die bestimmte Leitlinien verfolgt hat, um das Abi zu schaffen. „Man sollte das Ziel klar definieren und alles dafür tun, sich aber auch Pausen zum Abschalten gönnen. Das mache ich mit Yoga“, sagt die junge Frau. Wichtig sei auch, ein Team mit der Familie und Lehrern zu bilden. Zudem halte sie Offenheit für einen guten Ratgeber. Sie habe die Klasse über ihre Krankheit informiert, das sei gut angekommen. „Und man muss sich selbst akzeptieren und nicht fragen, warum es mich erwischt hat. Denn das kostet zu viel Kraft.“
Zur beruflichen Orientierung sollen nun Praktika dienen
Und was kommt nach dem Abitur? Die Barsbüttelerin präferiert ein Studium, kann sich aber auch eine Ausbildung vorstellen. Ihr schwebt etwas Kaufmännisches mit Finanzen vor. Einen Berufswunsch hatte Stella Paulina auch als Kind nicht und begründet das mit ihrer Krankheit. Demnächst nimmt sie den Führerschein in Angriff: in einem Automatikfahrzeug. Zur Orientierung würde sie gerne parallel mehrere Kurzpraktika machen. An einigen Tagen im Herbst geht das allerdings nicht. Zum Abi hat ihr Vater Wenerios eine gemeinsame Reise nach New York geschenkt. Auch diese hat sie sich verdient.