Ahrensburg. In unserer Serie stellen wir Stormarner auf ihrer Lieblingsbank vor. Heute: Die scheidende Ahrensburger Geistliche Angelika Weißmann.

Als sie Ende 1999 gemeinsam mit ihrer Kollegin Britta Sandler die Nachfolge von Pastor Gert Dietrich Kohl in Ahrensburg antrat, ahnte sie nicht, dass sie jenen Geistlichen ablöste, der gut zehn Jahre später für den größten Missbrauchsskandal der evangelischen Kirche sorgen würde, weil eines seiner Opfer sich an die damalige Bischöfin Maria Jepsen gewandt hatte. „Aber mir wurde 2010 endlich klar, warum uns die Gemeindemitglieder zunächst sehr distanziert begegnet sind“, sagt Angelika Weißmann, deren passive Altersteilzeit diesen Monat beginnt.

Der Missbrauchsskandal hinterließ tiefe Spuren

Als im Mai 2010 bekannt wird, dass ihr Vorgänger jahrzehntelang minderjährige Jungen und Mädchen sexuell missbraucht hatte, sei der Schock groß gewesen. Auch darüber, wie die Kirche als Arbeitgeber und Gemeindemitglieder mit ihr und ihren Kollegen umgegangen seien. „Es gab Anfeindungen von allen Seiten“, sagt die 63-Jährige. „Keiner konnte sich vorstellen, dass wir von den Übergriffen nichts gewusst haben.“

Der Ruhestandsgeistliche Friedrich Hasselmann räumte als früherer direkter Kollege von Kohl ein, vom Fehlverhalten gewusst, aber nicht gehandelt zu haben. Es war eine Zäsur für sie, als Pastorin und Privatperson. „Wir haben alle nicht auf Missbrauch gelernt. Und wir haben uns als Pastorenschaft mit der Aufarbeitung oft allein gelassen gefühlt.“ Der Skandal hinterließ tiefe Spuren in der Ahrensburger Kirchengemeinde. Kollegen wanderten ab oder wurden schwer krank, die Gemeinde spaltete sich in Befürworter und Kritiker von Friedrich Hasselmann, dessen Kollege Kohl seinen Talar nach einem öffentlichen Schuldeingeständnis Ende 2010 für immer an den Nagel hängte und sich damit einem Disziplinarverfahren entzog.

Kirchenleitung riet zum Verlassen der Gemeinde

Nach dem ersten Untersuchungsbericht einer unabhängigen Kommission habe die Kirchenleitung den verbliebenen Kollegen in Ahrensburg 2012 geraten, die Gemeinde ebenfalls zu verlassen. Doch da habe sie gedacht: „Nun erst recht! Ich konnte mir nicht vorstellen, wegzugehen.“ Sie bleibt mit ihrem Mann, und habe „in alle Richtungen gebissen“.

Der Kampf um Gerechtigkeit und Normalität fordert seinen Tribut. Ihr Mann Holger Weißmann, der mit ihr und den drei Kindern 1996 als Pastor von Plön nach Ahrensburg zog, erkrankt 2013 an Speiseröhrenkrebs. Nach seiner Operation scheint er zunächst den Kampf gegen die Krankheit zu gewinnen. Doch im Mai 2015 kehrt der Krebs unheilbar zurück – kurz nachdem Angelika Weißmann selbst krank wird. „Ich konnte mich nicht mehr bewegen“, sagt sie. Sie muss ruhen und regenerieren. Und kommt zu der Erkenntnis: „Jetzt werde ich mich nicht mehr ,verkämpfen’, sondern die Reißleine ziehen.“ Kaum erholt, muss sie sich um ihren sterbenden Mann kümmern. „Ich war rund um die Uhr beschäftigt: mit dem Tagesgeschäft, der Aufarbeitung der vergangenen Geschehnisse in der Gemeinde und der Pflege meines Mannes.“

Nachfolgerin tritt Amt offiziell im November an

Als ihr Mann im selben Jahr stirbt, denkt Angelika Weißmann dennoch nicht ans Weggehen. „Vielleicht auch, weil ich erst im Alter von 42 Jahren in Ahrensburg so richtig durchgestartet bin“, sagt sie. Als ihr Mann, den sie während des Theologiestudiums in Hamburg kennenlernt, 1984 seine erste Stelle antritt, habe die Landeskirche nur eine Vikariatsstelle für das Ehepaar ausgeben wollen. Also widmet sie sich vorerst dem Mutterjob und bekommt drei Kinder. Als Pastorin setzt sie mit ihren Angeboten von Beginn an Schwerpunkte für Frauen. So organisiert sie jeden dritten Dienstag im Monat den Frauentreff im Kirchsaal Hagen, lädt dazu Fachreferentinnen unterschiedlichster Bereiche ein, arbeitet viel mit der Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Ahrensburg zusammen und ist Mitglied des Expertinnen-Netzwerkes-Ahrensburg. „Es ist mir ganz wichtig, Frauen zu stärken“, sagt Weißmann. „Solange Männer bei der Bewerbung nicht gefragt werden, was sie mit den Kindern während der Arbeitszeit machen, sondern nur Frauen, und ein Equal Pay Day notwendig ist, gibt es hier noch viel zu tun.“

Viel zu tun wird sie auch künftig haben, wenn auch nicht in Ahrensburg. Ihre Wohnung im Haus der Kirche im Ahrensburger Stadtteil Gartenholz hat sie bereits für ihre Nachfolgerin und Namensschwester Angelika Doege-Baden-Rühlmann geräumt, die im November offiziell ihr Amt antritt. Im August ist Angelika Weißmann nach Plön zurückgezogen. In einem Vier-Generationen-Haus lebt sie nun mit ihrer 92 Jahre alten Mutter, ihrer Tochter Veronika sowie deren Mann und Kindern unter einem Dach. „Ende September startet meine Tochter ihre Facharztausbildung im Krankenhaus. Dann kümmere ich mich um ihre 15 Monate alten Zwillinge, die halten mich bestimmt auf Trab“, sagt sie. Gelegentlich werde sie auch ihre Tochter Corinna in Bokhorst als Vertretung unterstützen, die dort als Pastorin arbeitet. Und weil etliche ihrer Tauf- und Hochzeitstermine und die diesjährigen Konfirmationen der Coronapandemie zum Opfer fielen, kehrt sie nächstes Jahr noch öfter nach Ahrensburg zurück.

Sie betreute die Klasse einer ermordeten Lehrerin

Sie hat in den 20 Jahren als Pastorin viel Bewegendes erlebt. Als im Januar 2005 die Ahrensburger Lehrerin Isolde F. von einem Schüler und seinem Bruder in ihrer Wohnung erstochen wird, ist es Angelika Weißmann, die die zehnte Klasse der ermordeten Lehrerin an der Gemeinschaftsschule Heimgarten seelsorgerisch betreut und mit mehr als 1000 Schülern, Lehrern und Bürgern bei einer Trauerfeier Abschied nimmt. „Ich bin drei Monate lang jeden Tag in der Schule gewesen, um mit den Lehrer gemeinsam zu gucken, wie wir das auffangen können.“ Es habe eine besondere Strahlkraft, sowohl in der Trauer als auch in der Fröhlichkeit, zusammenzustehen, sagt Weißmann, die ihre Kraft aus der Beziehung zu Gott, aus gemeinsamer Zeit mit Familie und Freunden, aber auch aus Kinderbibeltagen und der Arbeit mit Behinderten schöpft. „Der Konfirmandenunterricht in der Woldenhornschule war immer total beglückend, weil die Schüler viel direkter sind.“

Anfang des Jahres habe sie noch gedacht: „Jetzt mache ich den Osterfrühgottesdienst mit Frühstück oder den Pfingstgottesdienst am Rondeel zum letzten Mal.“ Doch dann kam das Virus. „Ohne es zu wissen, habe ich 2019 bereits alles zum letzten Mal gemacht.“