Ahrensburg. Axel Matyba spricht im Interview über die Folgen sinkender Mitgliederzahlen, Toleranz unter Religionen und moderne Gottesdienste.
Sinkende Mitgliederzahlen, kaum Pastorennachwuchs, immer weniger Kirchensteuereinnahmen – Axel Matyba übernimmt das Propstamt in herausfordernden Zeiten. Seit Juni führt der 59-Jährige die Propstei Rahlstedt-Ahrensburg, zu der auch etliche Kirchengemeinden in Mittelstormarn zählen. Im Abendblatt-Interview spricht der langjährige Islambeauftragte der Nordkirche über Zukunftsaufgaben, die Folgen des Ahrensburger Missbrauchsskandals und die Notwendigkeit, die Zahl der Kirchen zu reduzieren. Außerdem verurteilt Axel Matyba jedwede Form von Intoleranz sowie den Missbrauch des Prädikats „christlich“ durch Pegida und andere Rechtspopulisten.
Herr Matyba, die vergangenen zweieinhalb Jahre haben Sie mit Ihrer Familie in Paris gelebt, waren dort Pastor der deutschen Gemeinde. Haben Sie sich wieder in Deutschland eingelebt?
Axel Matyba Ich muss gestehen, da bin ich noch dabei. Meine Familie ist erst seit wenigen Tagen zurück in Hamburg, erst jetzt wird die Eingewöhnung richtig beginnen. Aber Hamburg ist für uns ja keine fremde Stadt. Meine Frau und ich waren vor unserer Zeit in Frankreich hier tätig, sie zuletzt beim Kirchenkreis Hamburg-Ost, ich im Zentrum für Mission und Ökumene der Nordkirche.
Welche Erfahrungen konnten sie aus Ihrer Zeit in Frankreich für Ihr neues Amt mitnehmen?
Paris ist eine Weltstadt, in der Menschen mit ganz unterschiedlichem kulturellen Hintergrund zusammenleben. Wir haben viel mit anderen Auslandsgemeinden zusammengearbeitet. Frankreich ist das Land mit der drittgrößten jüdischen Gemeinde weltweit. Ich habe mit einem Pariser Rabbiner gemeinsam Bibelarbeit gemacht und seinen Blick auf unser Altes Testament, seine Hebräische Bibel, als einzigartige Bereicherung empfunden. Grundsätzlich denke ich, ein Mensch, der eine längere Zeit im Ausland gelebt hat, kehrt mit einem anderen Blick auf die Dinge zurück.
In Ihrer bisherigen Laufbahn haben Verständigung und kultureller Austausch eine zentrale Rolle gespielt. Sie haben die deutsche Gemeinde in Kairo geleitet, waren bei der Nordkirche als Islambeauftragter tätig. Warum ist interreligiöse Verständigung so wichtig?
Ich bin davon überzeugt, dass es eine tiefe Friedensverantwortung in allen Religionen gibt. Was uns verbindet, ist der gemeinsame Glaube, dass es eine Kraft gibt, die unser Leben trägt, bereichert und immer wieder herausfordert. Auf dieser Basis können Menschen gut miteinander ins Gespräch kommen. Es ist wichtig, den Menschen zu vermitteln, dass sie das Fremde nicht als Bedrohung begreifen müssen, sondern als bereichernd und Anstoß, über den eigenen Glauben nachzudenken.
In den vergangenen Jahren scheint Intoleranz in Teilen der deutschen Gesellschaft wieder auf dem Vormarsch zu sein. Stichwort Pegida. Antisemitismus scheint wieder salonfähig zu werden, wie die Debatte um das öffentliche Tragen der Kippa und der Anschlag auf die Synagoge in Halle zeigen. Welche Rolle kann die Kirche spielen, um solchen Tendenzen entgegenzuwirken?
Wir als Kirche haben immer deutlich gemacht, dass Intoleranz nicht mit unserem Glauben vereinbar ist. Es macht mich wütend, wenn Gruppen wie Pegida sich als Verteidiger des christlichen Abendlandes stilisieren und etwas für sich kapern, das ihnen nicht gehört. Gemeinden können ein Forum für den Dialog sein. Die Kirche ist von der Großstadt bis ins Dorf überall präsent, hat dadurch gewissermaßen einen Standortvorteil, um Menschen vor Ort ins Gespräch zu bringen. Meine Hoffnung ist, dass viele die rassistischen Ansichten von Pegida und anderen nicht teilen, sondern von solchen Bewegungen nur aus Frust oder Unzufriedenheit mitgerissen werden. Wir können sie zurückgewinnen, indem wir kommunizieren, dass es legitim ist, das Handeln der Politik oder auch der Kirche infrage zu stellen, aber dass es eine Grenze an der Stelle gibt, an der andere herabgewürdigt werden.
Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015 waren Sie Islambeauftragter der Nordkirche. Wie kann die Kirche Menschen bei der Integration unterstützen?
Auch hier kommt der Kirche zugute, dass sie überall vor Ort ist und ein dichtes, gut organisiertes Netz hat. Viele Gemeinden haben damals die Situation nicht als Krise angesehen, sondern wichtige Unterstützung geleistet, indem sie Mitglieder als Paten mobilisiert haben, die den Geflüchteten dabei geholfen haben, sich in Deutschland zurechtzufinden. Besonders wichtig ist jetzt im zweiten Schritt der Austausch der Kirchen- und Moscheegemeinden, um die Distanz zwischen den Menschen zu überwinden. Kooperationen können ein wichtiges Zeichen des Miteinanders setzen, sie verändern unsere Wahrnehmung: Aus der Masse von Geflüchteten wird eine Leila oder ein Mohammed, wir begegnen ihnen anders, erkennen, dass diese Menschen ähnliche Bedürfnisse haben wie wir selbst: sich Sicherheit wünschen, einen Job, Freunde finden wollen.
Wie könnte eine Kooperation aussehen?
Ich denke da an einen Gottesdienst auf dem Kirchentag in Berlin 2017, den wir gemeinsam mit Muslimen und Juden gefeiert haben, mit Traditionen aller drei Religionen. Wir haben viel gesungen. Ich glaube, dass die Musik eine wunderbare Brücke für interreligiösen Austausch ist, ebenso der Sport. 2015 haben wir in Wilhelmsburg ein Fußballspiel organisiert, bei dem Pastoren und Imame gespielt haben, um Geld für Sportausrüstung für Flüchtlinge zu sammeln. Mich persönlich hat die Koranlektüre mit jungen Muslimen, die uns ihre heilige Schrift erklärt haben, besonders bewegt.
Die Kirche steht derzeit vor großen Herausforderungen: sinkende Mitgliederzahlen und Kirchensteuereinnahmen, mangelnder Pastorennachwuchs. Wie kann die Kirche wieder mehr Menschen erreichen?
Es ist eine Tatsache, dass diese Zahlen zurückgehen, dagegen habe auch ich kein Patentrezept. Die selbstverständliche Bindung der Menschen an die Kirche gibt es nicht mehr. Letzlich nehmen die Menschen mit einer größeren Offenheit ihr Grundrecht auf Religionsfreiheit in Anspruch. Wir sind in beider Hinsicht frei: uns auf einen Glauben einzulassen oder uns dagegen zu entscheiden. Wir sollten das akzeptieren. Als Kirche können wir offen über unseren Glauben sprechen und klar, streitbar und fromm zu dem stehen, was wir sind. Gleichzeitig müssen wir mit offenem Ohr zuhören, was die Menschen bewegt. Wir müssen uns fragen, wie wir an der Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen mitwirken können, beispielsweise im Bereich der Diakonie, durch Kooperationen mit Kommunen bei Kitas und Seniorenheimen oder durch die Betreuung einsamer Menschen.
Die Pastoren Anja Botta aus Ahrensburg und Christian Schack aus Siek haben der Kirche unlängst in dieser Zeitung ein Imageproblem attestiert. Muss die Kirche ihr Image aufbessern?
Wir sollten immer offen sein für die Anregungen der jüngeren Kollegen. Dazu gehört, dass wir bereit sind, uns kritisch zu hinterfragen. Es geht darum zu sehen, an welchen Stellen wir Bewährtes pflegen sollten und an welchen wir Neues wagen können. Die Kirche muss am Puls der Zeit sein, aber das bedeutet nicht, dass sie jeder Entwicklung hinterherlaufen sollte. Dinge sind nicht gut, nur weil wir sie immer so gemacht haben, aber auch nicht, nur weil sie neu oder modern sind. Mit Blick auf unsere Gemeinden, in denen, so mein Eindruck, bereits heute Kreativität gelebt wird – ich nenne nur Herrn Schack als Beispiel, der während der Coronazeit mit dem Lastenrad Einkäufe für Senioren erledigt hat –, habe ich den Eindruck, dass unser Image besser ist, als es oft wahrgenommen wird.
Die beiden plädieren für mehr Offenheit bei der Gestaltung von Gottesdiensten und neue Formate etwa am Strand, auf dem Marktplatz oder mit Popmusik. Ist das ein Zukunftsmodell?
Die Kirche sollte sich neuen Formaten und Ideen nicht verschließen. Ich ermutige Kolleginnen und Kollegen dazu, ihren großen Gestaltungsspielraum auf kreative Weise zu nutzen. Es geht darum, auszuprobieren, rauszugehen und dort zu feiern, wo die Menschen sind. Das ist auch für uns Pastoren bereichernd. Während meiner Zeit als Seemannspastor in Kiel habe ich es genossen, jedes Jahr während der Kieler Woche eine Andacht unter dem Holtenauer Leuchtturm gemeinsam mit dem Lotsengesangverein Knurrhahn, einer Gruppe singender Kapitäne, zu feiern. Ich möchte aber auch betonen, dass die herkömmlichen Gottesdienste vielen Menschen ein Gefühl der Beheimatung geben und sie daraus Kraft schöpfen. Um es prägnant zu sagen: Der Mix macht’s.
Oft wird kritisiert, die Kirche würde bei der Digitalisierung hinterherhinken. Wurden digitale Kanäle bislang zu wenig genutzt?
Bei der Nutzung digitaler Medien haben wir noch erheblichen Nachholbedarf, das ist gar keine Frage. Ich bewundere es aber, mit welcher Geschwindigkeit es vielen Gemeinden während des Lockdowns gelungen ist, neue digitale Angebote zu schaffen. In dieser Hinsicht hat die Krise einen erheblichen Schub gebracht und gezeigt, dass Formate wie Online-Gottesdienste funktionieren. Beim Kirchenkreis haben wir eine tolle Abteilung für Kommunikation und Medien, mit Fachleuten, die sich überlegen, wie wir auch junge Menschen über die Medien verstärkt ansprechen können.
Auch die Schließung von Gotteshäusern ist ein Thema. In Ahrensburg hat der Streit um die Entwidmung von St. Johannes einen Streit entfacht, der bis heute Narben hinterlässt. Wie können Reformen gelingen, ohne langjährige Mitglieder zu verschrecken?
Zu den Kommunikationsprozessen vergangener Zeiten möchte ich mich im Nachhinein nicht äußern, das wäre wohlfeil. Grundsätzlich gilt: Wir müssen akzeptieren, dass schmerzhafte Prozesse Menschen enttäuschen. Ich kann absolut nachvollziehen, dass viele Menschen eine emotionale Bindung zu Kirchengebäuden aufgebaut haben, zu der Kirche, in der sie getauft oder konfirmiert wurden, in der sie geheiratet haben. Als Kirche versuchen wir, Einschnitte wie Entwidmungen von Gotteshäusern, die auch uns schwerfallen, soweit es geht abzufedern. Aber ich sage auch ganz deutlich: Obgleich solche Wege schmerzhaft sind, ist es keine Lösung, sie nicht zu gehen. Jeder, der sich die Mitgliederzahlen ansieht und dann auf die Zahl der Kirchen schaut, erkennt, dass die Reduzierung des Gebäudebestandes unumgänglich und unumkehrbar ist. Wir können es uns nicht mehr leisten, Immobilien zu unterhalten, die nicht bespielt werden. Was nützt eine Kirche, wenn keine Kirchenmusik, keine Jugendarbeit und keine Diakonie mehr vorhanden sind? Es muss daher nicht darum gehen, diesen Prozess aufzuhalten, sondern den Weg möglichst im Einvernehmen zu gehen.
Für tiefe Gräben hat in Ahrensburg auch der Skandal um den 2010 bekannt gewordenen Missbrauch mehrerer Minderjähriger durch den Pastor Dieter K. in den 1970er- und 1980er-Jahren gesorgt. Auch die Aufarbeitung durch die Kirchenleitung hat das Vertrauen vieler in die Kirche nachhaltig erschüttert. Wie kann die Kirche das verlorene Vertrauen zurückgewinnen?
Das Vertrauen wiederherzustellen ist ein schwieriger Prozess, der noch lange nicht abgeschlossen sein wird. Dieser Prozess wird immer Menschen verletzen. Warum: Weil er auch in eklatanten Verletzungen seinen Ursprung hat. Wir als Kirche müssen zu diesen schrecklichen Dingen, die geschehen sind, stehen und unsere Verantwortung dafür akzeptieren. Um dem gerecht zu werden, haben wir in den vergangen zehn Jahren zahlreiche Reformen beschlossen und umgesetzt. Es gibt jetzt im Kirchenkreis eine Fachstelle für Prävention und in der gesamten Nordkirche Schutzkonzepte, die es gilt, immer wieder gemeinsam mit Betroffenen kritisch zu hinterfragen und weiterzuentwickeln. Gleichzeitig müssen wir denen, die Opfer dieses Missbrauchs geworden sind, und ihren Angehörigen weiter ein offenes Ohr bieten und im Gespräch bleiben. Es gilt aber auch anzuerkennen, dass nicht alle Betroffenen den Dialog mit der Kirche wünschen, und auch das gilt es zu akzeptieren.
Abschließend ein Blick in die Zukunft: Was werden die größten Herausforderungen Ihrer Amtszeit sein?
Die große Aufgabe in den kommenden Jahren wird es sein, vor dem Hintergrund der rückläufigen Mitgliederentwicklung und dem damit einhergehenden Rückgang uns zur Verfügung stehender finanzieller Mittel eine Möglichkeit zu finden, dennoch die pastorale Versorgung zu gewährleisten, den Personalbedarf auch in übergemeindlichen Bezügen zu gewährleisten und gleichzeitig in neue Angebote zu investieren. Ich wünsche mir, dass wir mit dem, was wir uns leisten können, eine einladende Kirche bleiben, die nah am Puls der Zeit und vor allem nah an den Menschen ist.
Berufliche Stationen auch in Kairo und Paris
Axel Matyba ist einer von sieben Pröpsten im Kirchenkreis Hamburg-Ost. Zu seiner Propstei Rahlstedt-Ahrensburg gehören elf Gemeinden, darunter in Stormarn Ahrensburg, Bargteheide, Eichede, Großhansdorf-Schmalenbeck, Lütjensee, Siek und Trittau. Er ist Vorgesetzter von 31 Pastoren. Zusätzlich leitet Matyba beim Kirchenkreis den Bereich Diakonie und Bildung mit rund 550 Mitarbeitern.
Der verheiratete Vater von zwei Kindern war unter anderem in Hamburg tätig, Seemannspastor in Kiel und Auslandspfarrer in Kairo (Ägypten). Darüber hinaus war der gebürtige Bad Bramstedter Beauftragter für den Christlich-Islamischen Dialog der Nordkirche und Referent im Zentrum für Mission und Ökumene. Zuletzt war der 59-Jährige Pastor der deutschen Gemeinde in Paris. Axel Matyba tritt als Propst die Nachfolge von Hans-Jürgen Buhl an, der mit 65 Jahren in den Ruhestand gewechselt ist.