Ahrensburg. In dem Ahrensburger Stadtteil leben 36 Menschen mit Behinderung. Warum keine Lösung in Sicht ist, obwohl alle das Problem anerkennen.

Der Ahrensburger Stadtteil Wulfsdorf: Landwirtschaft, viel Grün und das namensgebende Gut prägen das Viertel im Südwesten der Schlossstadt – und dennoch sind U-Bahn und Einkaufsmöglichkeiten nur gut zehn Minuten mit dem Auto entfernt. Ein idealer Ort zum Wohnen für Naturliebhaber, die nicht auf die Nähe zur Stadt verzichten möchten. Und so sind hier in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Wohnungen entstanden, darunter die beiden inklusiven WohnprojekteAllmende und Wilde Rosen. Das Problem: Die Infrastruktur ist nicht mitgewachsen.

Der Bornkampsweg, die zentrale Straße, die den Stadtteil durchzieht, ist nicht nur auf weiten Abschnitten eine Schlaglochwüste, ausgelegt vor allem auf die Bedürfnisse der landwirtschaftlichen Nutzfahrzeuge, die hier verkehren, es gibt vielerorts auch keinen richtigen Gehweg. Zusätzlich macht der teilweise üppige Bewuchs am Fahrbahnrand die Straße schwer einsehbar. Dabei hat sich die Trasse längst als beliebte Abkürzung in Richtung Hamburg-Volksdorf bei Autofahrern herumgesprochen.

Ahrensburg: Wulfsdorfer fordern sichere Querung am Bornkampsweg

Das birgt schon unter normalen Umständen Gefahrenpotenzial. Doch im Wulfsdorfer Fall kommt hinzu, dass hier zahlreiche Anwohner mit körperlichen und geistigen Einschränkungen leben. Seit 2005 sind drei Gebäudekomplexe entstanden, in denen 36 Menschen mit Behinderung leben – zwar ambulant durch einen Pflegedienst rund um die Uhr betreut, aber in eigenen Ein-Zimmer-Appartements und so selbstständig, wie es die individuellen Bedürfnisse zulassen.

Zwei der der Häuser liegen auf der südlichen Straßenseite, eines auf der nördlichen, wo sich auch die Textilwerkstatt befindet, in der ein Großteil der Bewohner tagsüber tätig ist. Andere von ihnen arbeiten in einem inklusiven Café auf dem Gelände des Wohnprojektes oder auf dem Wulfsdorfer Gutshof. Die Folge: Die behinderten Menschen müssen mehrfach am Tag den vielbefahrenen Bornkampsweg überqueren.

Bewohner mit Handicap können Straße nicht allein überqueren

Nicole Lampe, deren Sohn Erik in einem der Wohnkomplexe lebt, setzt sich deshalb bereits seit Jahren dafür ein, dass für die Bewohner eine sichere Querungsmöglichkeit geschaffen wird – bislang vergeblich. „Es hieß aus dem Rathaus immer, das sei zeitnah nicht umsetzbar“, sagt sie. Für die 56-Jährige ist der derzeitige Zustand schon lang nicht mehr tragbar. Lampe fühlt sich im Stich gelassen. „Erik und viele andere Bewohner können die Straße nicht allein überqueren, das ist viel zu gefährlich“, sagt sie.

Warum, wird noch während des Interviews deutlich. Gegen 17 Uhr macht sich der Feierabendverkehr bemerkbar, zahlreiche Autofahrer sind in beiden Richtungen auf dem Bornkampsweg unterwegs. An Tempo 30 hält sich kaum einer von ihnen. „So ist das jeden Morgen und jeden Nachmittag in den Hauptverkehrszeiten“, sagt Lampe. Der Bornkampsweg sei längst zur Durchgangsstraße geworden.

Rollstuhlfahrer sind nicht schnell und flexibel genug

Die 56-Jährige ist mit ihrem Mann und den beiden Söhnen des Paares 2005 nach Wulfsdorf gezogen. Zunächst lebte die Familie gemeinsam in der Siedlung Allmende auf der nördlichen Straßenseite. Erik, der jüngere Sohn, ist mit einer infantilen Zerebralparese zur Welt gekommen und spastisch in seiner Bewegungsfähigkeit eingeschränkt. Außerdem sind sein räumliches Sehen und seine Reaktionsfähigkeit beeinträchtigt. Um ein eigenes Lebens als Erwachsener zu führen, zog Erik 2016 aus der gemeinsamen Wohnung aus in das betreute Wohnprojekt auf der anderen Straßenseite.

Mit seinem Elektrorollstuhl ist der 26-Jährige in der Lage, sich selbstständig fortzubewegen. Doch ist er mit dem Gerät nicht schnell und flexibel genug, um auf den Verkehr zu reagieren. Jedes Mal, wenn Erik seine Eltern besuchen oder zur Arbeit auf dem Gutshof möchte, wo er in der Grünflächen- und Tierpflege tätig ist, ist er deshalb auf die Begleitung durch einen Pflegedienst angewiesen.

Eine Bedarfsampel böte den Bewohnern die größte Sicherheit

Genauso geht es auch den anderen Bewohnern mit Handicap. Zum Beispiel dem 20 Jahre alten Tariq. „Ich brauche immer Hilfe, wenn ich meine Freunde auf der anderen Seite besuchen möchte“, sagt er. Er wünscht sich eine Bedarfsampel in Höhe der Feuerwache, an der Kreuzung Bornkampsweg/Wulfsdorfer Weg. Eine solche fordert auch Nicole Lampe. „Die Bewohner sind auf eine sichere Querungsmöglichkeit angewiesen, um sich selbstständig im Stadtteil bewegen zu können“, sagt sie.

Und das Gefühl von Selbstständigkeit sei gerade für Menschen mit Behinderung sehr wichtig. „Die UN-Behindertenrechtskonvention beinhaltet ein Recht auf persönliche Mobilität im Sozialraum mit größtmöglicher Unabhängigkeit, um Menschen mit Handicap eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen“, sagt Lampe. Anstelle einer Ampel könnte sie sich auch einen Zebrastreifen vorstellen, wobei eine erstere jedoch die größte Sicherheit biete.

Lampe engagiert sich schon seit Januar 2019 für eine Querungshilfe

Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, haben fünf Bewohner mit Unterstützung von Nicole Lampe eine Politikgruppe gegründet. Wöchentlich diskutiert die 56-Jährige mit ihnen über die Funktionsweise von Kommunalpolitik. Anfang Mai war die Gruppe auch im Ahrensburger Bau- und Planungsausschuss, um ihr Anliegen vorzutragen.

Nicole Lampes Engagement für die Querungshilfe reicht aber schon bis Anfang 2019 zurück. Im Januar schrieb die Wulfsdorferin erstmals einen Brief an den damaligen Ahrensburger Bürgermeister Michael Sarach. Anschließend folgten mehrere weitere an die Verwaltung und die politischen Parteien, außerdem Ortsbegehungen mit Bauamtsvertretern, Mitgliedern des Behindertenbeirates und Politikern. Passiert ist seitdem wenig – obwohl alle Beteiligen die Dringlichkeit des Problems anerkennen.

Bauamtsleiter sieht wegen der Gegebenheiten vor Ort wenig Spielraum

„Die örtlichen Gegebenheiten erschweren es, zeitnah zu einer Lösung zu kommen“, sagt Ahrensburgs Bauamtsleiter Peter Kania, der sich bereits selbst ein Bild vor Ort gemacht hat. „Das Problem ist, dass diese Siedlungen in einem Außenbereich der Stadt entstanden sind“, erklärt er. Deshalb gebe es am Bornkampsweg keine Straßennebenanlagen. „Wenn es keinen Bürgersteig gibt, kann ich auch keinen Fußgängerüberweg und keine Ampel bauen, beides würde ins Grüne führen“, so Kania.

Deshalb müsse zunächst die gesamte Kreuzung ausgebaut werden, inklusive der Fahrbahn. „Und da der Bornkampsweg ohnehin saniert werden muss, muss die restliche Straße gleich mitgeplant werden, damit alles später zusammenpasst.“ Dafür habe das zuständige Tiefbauamt, das seit Jahren mit massiven Personalproblemen zu kämpfen hat, absehbar keine Kapazitäten. Auch Provisorien seien aufgrund der fehlenden Gehwege nicht umsetzbar, sagt Kania. Immerhin: Ein kleines Teilstück des Sandweges auf beiden Straßenseiten in Höhe der Bushaltestelle an der Feuerwache wurde inzwischen gepflastert. Mehr sei kurzfristig nicht machbar gewesen.

Rechtliche Hürde für Ampel oder Zebrastreifen sind hoch

„Hinzu kommt, dass der kreuzende Wulfsdorfer Weg in der Zukunft einmal Teil eines Radschnellwegs nach Hamburg werden soll“, erklärt Kania. Und es gibt auch rechtliche Hindernisse. Wie die Verkehrsaufsicht im Rathaus erläutert, seien zusätzliche Querungshilfen in Tempo-30-Gebieten nicht vorgesehen, weil sie als nicht erforderlich angesehen würden. „Jeder Eingriff in den Straßenverkehr muss gerechtfertigt sein“, heißt es.

Die Hürden für eine Ausnahme sind hoch. So müsse ein besonderer Bedarf nachgewiesen werden, außerdem die Verkehrsfrequenz und die Zahl der Straßenquerungen an einer Stelle erwiesenermaßen besonders hoch sein. Beides erfordere umfangreiche Prüfungen. Und so sieht es derzeit danach aus, als würde sich die Situation für die Wulfsdorfer absehbar nicht verbessern. Immerhin: Kania sichert zu, das Problem mit Priorität zu behandeln. Nicole Lampe und ihre Mitstreiter möchten dennoch nicht aufgeben. „Barrierefreiheit ist ein Menschenrecht“, sagt die 56-Jährige.