Am Stadtrand von Ahrensburg haben 250 Menschen in Allmende-Wulfsdorf ihre Vorstellungen von einem ökologisch-sozialen Wohnprojekt verwirklicht. Der Ort bietet viel Raum für die eigene Entfaltung
Ahrensburg/Wulfsdorf. Silas schaut mit großen, braunen Augen in die Welt. Mit seinen acht Monaten ist er derzeit der jüngste Bewohner von Allmende-Wulfsdorf, dem ökologisch-sozialen Wohnprojekt zwischen Ahrensburg und Hamburg. „Seinetwegen sind wir hierhergezogen“, sagt Tobias Bucher, Silas’ Vater. Im November 2013 haben er und seine Frau Antonia Koffer und Möbel gepackt, ihre Wohnung im Hamburger Schanzenviertel an einen Nachmieter übergeben und der Großstadt Tschüs gesagt. „Das ist mir nicht leicht gefallen“, sagt der 46 Jahre alte Tischler, der vor dem Umzug Bedenken hatte, ob ein Leben auf Allmende überhaupt das richtige für ihn sei.
„Es macht schließlich einen Unterschied, ob man nur raus aufs Land zieht oder Teil eines Wohnprojekts wird.“ Antonia und Tobias Bucher haben den Schritt gewagt. Sie gehören mit ihrem Sohn jetzt zu den rund 250 Einwohnern auf dem 6,5 Hektar großen Gelände am südwestlichen Stadtrand von Ahrensburg.
Vor zehn Jahren wurden die ersten der 100 Wohneinheiten bezogen. Der Grundstein für das besondere Dorf wurde aber schon früher gelegt. Kurz vor dem Jahrtausendwechsel stand das Gelände, auf dem die Stadt Hamburg in den 1940er-Jahren minderjährige Straftäter untergebracht hatte und das von 1970 an bis in die 80er-Jahre hinein als Wohn- und Ausbildungsstätte für Jugendliche diente, zum Verkauf. Georg Lutz, damals wie heute Pächter des gegenüber liegenden landwirtschaftlichen Betriebs Gut Wulfsdorf, machte sich Gedanken über die künftige Nutzung des Nachbargrundstücks am Bornkampsweg. „Ein Neubaugebiet hätten wir als seelenlosen Störfaktor empfunden. Das hätte nicht zu uns und der Umgebung hier gepasst“, sagt der Biolandwirt. Er wollte mitentscheiden, wer sein Nachbar wird.
Schnell fand Lutz Mitstreiter, die seine Vision eines ökologisch-sozialen Dorfprojekts teilten, das eine Symbiose aus Arbeit, Wohnen, Pädagogik und Forschung beinhaltet. Die Stadt Hamburg zeigte Interesse an dem handfesten Konzept, hatte aber noch weitere potenzielle Käufer an der Angel. „Ein Angebot war deutlich höher als unseres“, sagt Georg Lutz. „Der Bieter wollte aus dem Grundstück eine Beauty-Oase machen.“ Ob sich dahinter eine dubiose Schönheitsfarm, ein Massageclub oder ähnlich Schlüpfriges verbergen sollte, kam nie ans Tageslicht: Bevor es zu weiteren Verhandlungen kam, entpuppte sich der Kaufinteressent als unseriös und schlug sich damit selbst aus dem Rennen.
Nun war der Weg frei für Georg Lutz und mittlerweile 60 Bauparteien, die gemeinsam die Idee vom Dorf neu erfinden wollten. Sie alle unterschrieben im Juni 2004 den Kaufvertrag über 3,25 Millionen Euro. Eine der Unterschriften stammt von Karl Fischer. „Das war mehr als mutig“, sagt der mittlerweile pensionierte Pädagoge, der mit seiner Frau seit fast zehn Jahren auf Allmende lebt. „Keiner von uns wusste, ob das wirklich funktionieren wird.“
Fischer erinnert sich gut an viele lebhafte Diskussionen. Die gibt es auch heute noch. „Wenn allen ein bisschen von allem gehört, will natürlich auch jeder mitreden.“ Neben Vereinssitzungen und Eigentümerversammlungen sorgt der Dorfrat für Struktur. Er gilt als das Herz von Allmende. Einmal im Monat tauschen sich hier die Vertreter der einzelnen Hausgemeinschaften aus, bringen Ideen ein, besprechen Probleme, suchen gemeinsam nach Lösungen. „Jeder Mensch ist individuell und hat ganz persönliche Ansprüche an seine Lebenswelt. Das ist auch auf Allmende nicht anders“, sagt Günter Ebel.
Der gebürtige Hamburger hat, wie die anderen Vereinsmitglieder auch, bereits beim Aufbau von Allmende mitgeholfen. „Was uns hier aber alle verbindet, ist der Wunsch nach einem sozialen Miteinander in einem ökologisch-orientierten Umfeld.“ Bei der letzten Kommunalwahl erreichten die Grünen hier mehr als 57 Prozent der Stimmen.
Das Zusammenleben auf Allmende, so der ehemalige Polizist, sei eine tägliche Herausforderung, die neben einigen Pflichten ganz viel Raum für die eigene Entfaltung biete. Und genau das schätzt er: „Man lernt hier neben vielen anderen Dingen auch eine ganze Menge über sich selbst.“ Sein Nachbar Friedhelm Wittmeier, wie Ebel und Fischer ein Dorfbewohner der ersten Stunde, bestätigt diesen Lernprozess: „Am Anfang hatten wir alle eine rosarote Brille auf. Doch die Jahre zeigten, dass längst nicht alles immer nur Friede, Freude, Eierkuchen sein kann. Das ist aber völlig okay so. Konflikte gehören eben zum Leben dazu.“
Aus der einstigen Vision ist innerhalb eines Jahrzehnts ein angesehenes Vorzeigeobjekt mit hoher Lebensqualität geworden. Ein integrativer Kindergarten, Handwerk- und Künstlerateliers, Forschungswerkstätten, eine Sporthalle, ein Gesundheitszentrum und ein Jugendhaus beleben das Dorf. Die Idee vom gemeinschaftlichen Wohnen zog bereits Kreise: In der Nachbarschaft entstanden weitere Wohnprojekte nach dem Vorbild Allmendes.
Der Lübecker Projektplaner Volker Spiel hat Allmende-Wulfsdorf von Anfang an begleitet und steht der Dorfgemeinschaft bis heute als Ansprechpartner zur Verfügung. „Es können niemals die Wünsche aller Beteiligten umgesetzt werden. Die sind bei einer solch großen Anzahl an Menschen zu vielfältig“, weiß Spiel. Mit der Zeit arbeite sich aber das Machbare heraus. „Die Menschen auf Allmende haben das erkannt und sich nicht durch Rückschläge von ihrer Grundidee abbringen lassen.“
Mehrmals im Monat kommen Anfragen nach frei gewordenen Wohnungen. „Wir freuen uns vor allem über junge Familien“, sagt Karl Fischer. Schon jetzt machen Kinder ein Drittel der Dorfgemeinschaft aus. Im Moment ist Allmende aber ausgebucht. „Wir hatten Glück, dass gerade eine Wohnung frei geworden ist“, sagt Tobias Bucher.
Die anfänglichen Bedenken des Tischlers, ihm könne das Leben auf Allmende „zu eng“ werden, sind verflogen. Er schätzt das verantwortungsvolle Miteinander der Dorfbewohner. „Silas wird eine tolle, naturverbundene Kindheit haben. Das liegt nicht nur daran, dass hier keine Autos fahren dürfen und wir ihn ohne Angst vor die Haustür zum Spielen lassen können. Sondern vor allem an den Menschen hier, die immer für ihn da sein werden.“