Westerland. Bei der Sylter Tafel werden die Spenden knapper, zugleich kommen mehr Bedürftige. Auch Kurgäste und Punks waren schon da.
Kurz bevor die Türen aufgehen, wird es noch mal hektisch. Aneta steht an einem der langen Tische, arrangiert die letzten Paprika und Tomaten. „Heute haben wir besonders viel frische Lebensmittel“, sagt die 49-Jährige, die eine grüne Schürze über den dicken Rollkragenpullover gezogen hat.
Sylter Tafel steht darauf. Kartoffeln und Grünkohl, Orangen und Bio-Bananen, sogar Avocados und Himbeeren liegen in großen Kisten. Auch die anderen Helfer sind jetzt an ihren Plätzen. „70 Leute heute“, ruft Werner in den Saal des Gemeindezentrums der Katholischen Kirche in Westerland auf Sylt, in dem gleich die Lebensmittelausgabe der Sylter Tafel beginnt. Das ist viel.
Sylt: Zahl der Bedürftigen hat sich verdoppelt
Draußen warten manche schon eine halbe Stunde und länger, Frauen und Männer mit großen Taschen. Dazwischen flitzen Kinder. Es ist windig, die Luft feucht vom Herbstnebel. Um sich warm zu halten, zieht eine die dünne Jacke fester um sich. Gerade ist der Transporter mit den letzten Lebensmittelspenden vorgefahren. Unter den neugierigen Blicken lädt der Fahrer aus. Jetzt muss es schnell gehen.
Da, wo vorher noch eine Lücke auf den in langer Reihe aufgestellten Tischen war, werden Wurst und Käse in Plastikverpackungen, Joghurtbecher und Milchtüten gestapelt. Dann kommt die erste Besucherin rein, eine ältere Frau mit Kopftuch. Sie wirft einen schnellen Blick auf das Angebot. „Heute gibt es viel“, sagt sie fast andächtig und packt eine Handvoll Möhren in einen abgenutzten Hackenporsche.
Reiches Sylt, armes Sylt
Arm auf Sylt. Dass es auch das gibt, bleibt meist unter dem Radar. Passt ja auch nicht ins Bild der Insel mit Hochglanz-Image, auf der für ein Reetdachhaus in Strandnähe zweistellige Millionenbeiträge gezahlt werden, die mehr Standorte von Luxushotels und Sterne-Restaurants hat als jede andere deutsche Insel und wo im Edeka-Markt eine ganze Regalwand nur für Champagner reserviert ist. Das ist die eine Seite. „Aber bei uns ist es auch deutlich voller geworden“, sagt Tafel-Chefin Dörte Lindner-Schmidt. „Die Zahl der Bedürftigen hat sich in den vergangenen Monaten verdoppelt.“
Das spiegelt sich in der offiziellen Statistik. Nach jüngsten Zahlen des Kreises Nordfriesland aus dem Juli 2022 beziehen 448 Personen auf Sylt staatliche Leistungen, 100 mehr als im Juli 2021. Die größte Gruppe sind 310 Harzt-IV-Empfänger, 99 erhalten Sozialhilfe und 39 sind sogenannte Aufstocker, deren Lohn nicht zum Lebensunterhalt reicht.
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Dass es mehr Bedürftige auf der Insel gibt, hat vor allem mit dem Krieg in der Ukraine zu tun. Gut die Hälfte der Menschen, die zur Lebensmittelausgabe der Tafel kommen, sind Geflüchtete. Aber auch für Sylter Familien wird es angesichts von Preiserhöhungen und Energiekrise schwieriger, über die Runden zu kommen. Und manchmal reicht es am Ende des Monats eben nicht.
Es gibt Männer und Frauen, die das ganze Leben im Hotel oder Restaurant gearbeitet haben und trotzdem kaum von ihrer Rente leben könnten. „Das sind ganz normale Bürger, da sind wir genauso aufgestellt wie andere Gemeinden“, sagt Heinke Tadsen aus dem Tafel-Vorstand. Nur sind die Gegensätze auf Sylt immer größer.
Doppelt so viele Besucher
An diesem Novembertag sind die ersten Besucher mit prall gefüllten Taschen nach zehn Minuten schon wieder weg. Alle kennen den Ablauf. Wenn jemand rausgeht, ruft Lothar – auch einer von zwei Dutzend ehrenamtlichen Mitarbeitern der Sylter Tafel – am Eingang den nächsten rein. Vorher hat jeder ein Holzklötzchen mit einer Zahl aus einem Stoffbeutel gezogen, das die Reihenfolge von 1 bis 70 festlegt.
„So stellen wir sicher, dass nicht immer die gleichen die ersten sind und die besten Sachen bekommen“, erklärt Vereinschefin Lindner-Schmidt das Prinzip. Ärger gebe es dadurch selten. „Bei uns bekommt auch der letzte noch was.“
Eine weitere Besonderheit der Insel-Tafel: Niemand muss seine Bedürftigkeit beweisen. „Das ist eine Frage der Würde“, sagt Dörte Lindner-Schmidt. Wird das nicht ausgenutzt? Passiert es, dass der Kampener Porschefahrer zum Sozialschmarotzer wird und die Tafel abräumt? „Die Frage kommt immer wieder“, sagt die Westerländerin und schüttelt den Kopf. Tatsächlich gebe es kaum Fälle, in denen das Angebot ausgenutzt werde. „Es ist eher andersrum: Einige brauchen lange, bevor sie sich trauen. Es gibt eine große Scham, sich als arm zu outen.“
Dabei spielt die Insellage eine wichtige Rolle. Man kennt sich unter den 18.000 Syltern oder kennt zumindest jemand, der jemand kennt. „Anfangs waren viele skeptisch und haben gefragt, brauchen wir wirklich eine Tafel“, erinnert sich Dörte Lindner-Schmidt. Inspiriert von einem Vortrag der Gründerin der Hamburger Tafel, Annemarie Dose, hat die 62-Jährige mit einem Dutzend Mitstreitern damals einfach losgelegt. „Es geht auch darum, dass Lebensmittel nicht weggeworfen werden.“
Vorbild für Sylt war die Hamburger Tafel
Das war vor 24 Jahren. „Zuerst waren es die Gestrauchelten, die kamen. Obdachlose, Drogensüchtige, einige Rentner“, sagt die Gründerin, die lange als Sport- und Gymnastiklehrerin gearbeitet hat. Inzwischen kommen Menschen aus allen Inselorten, bei Bedarf mit einem von der Tafel gesponsorten Busticket. „Es ist wichtig, dass es auch auf Sylt für alle dieses Angebot gibt.“
Denn nicht nur die Insulaner kommen, auch Kurgäste melden sich bei der Tafel. „Manche sind in einer der Reha-Kliniken auf die Insel und haben kein Geld, um sich nebenbei mal etwas zu kaufen“, sagt Dörte Lindner-Schmidt. Selbst Urlauber seien schon zur Lebensmittelausgabe gekommen. Auch die Punks, die im Sommer einige Monate auf Sylt campiert haben, hätten angerufen und gefragt, wie das mit der Lebensmittelausgabe laufe.
Zwei seien dann an einem Termin erschienen und hätten auch Lebensmittel mitgenommen. „Aber die haben gesehen, wie voll das inzwischen bei uns ist. Und dann haben sie gesagt, dass sie niemand was wegnehmen wollten.“
Dabei ist die Tafel auf Sylt in einer besseren Situation als die meisten anderen. Vor allem in den Großstädten schlagen die Initiatoren inzwischen Alarm. Einerseits steigt überall die Zahl der Bedürftigen. Parallel sind die Spenden massiv zurückgegangen. „Rund ein Drittel der Tafeln ist so überlastet, dass sie Aufnahmestopps verhängen mussten", hat der Vorsitzende des Dachverbands Tafel Deutschland, Jochen Brühl, gerade gesagt.
Tafel auf Sylt: Spenden gehen zurück
So weit ist es auf Sylt noch nicht. „Aber auch bei uns wird es an manchen Tagen knapper“, sagt die Vereinsvorsitzende. Grundsätzlich seien alle Supermärkte und Discounter im Boot. Es kommen auch Spenden von Privatleuten. „Die Insellage hat in dem Fall den großen Vorteil, dass alle gut vernetzt sind.“ Da fällt es auf, wenn weniger abfällt. Meistens würden sich die Händler sogar entschuldigen, wenn sie mal nur eine Kiste mit Lebensmitteln spenden und Besserung für das nächste Mal versprechen.
Trotz des guten Angebots sind an diesem Tag die Tische im Gemeindesaal knapp eine Stunde nach der Eröffnung der Lebensmittelausgabe schon fast leer. „Es gibt eine große Dankbarkeit“, sagt Gertrud, Mitglied einer katholischen Gemeinschaft und mit 85 Jahren die älteste Tafel-Mitarbeiterin.
Sylter Tafel: Was besonders beliebt ist
Besonders beliebt sind helles Brot und Brötchen, Wurst und Käse, Kaffee und Tee. Dagegen bleibt das gute Vollkornbrot vom ortsansässigen Bäcker meist bis zum Schluss liegen, ähnlich wie vegane Würstchen oder vegetarische Brotaufstriche. Nur eine junge Frau mit großem Rucksack steuert gezielt darauf zu.
„Wenn alle, die eine Nummer gezogen haben, einmal durchgegangen sind, gibt es eine zweite Runde“, sagt Tafel-Mitarbeiter Klaus räumt leere Kisten weg. Draußen vor dem Gemeindesaal warten schon einige.