Westerland. Seit dem 1. Juni lebt eine Gruppe von teils Obdachlosen mitten in der Innenstadt. Sie erzählen, warum sie auf der Insel sind.
Tanja Fuhrmann sieht jeden Tag sehr viele Menschen. Sie kontrolliert die Kurkarten am Strandübergang beim Hotel Miramar in Westerland auf Sylt. Punks seien bei ihr bislang eher sehr selten durchgekommen, sagt sie. Manchmal kaufe einer von ihnen eine Tageskarte, „aber meistens kommen die eher am Abend, wenn nicht mehr kontrolliert wird.“
Florian aus Berlin, der zahlreiche Tätowierungen im Gesicht und am Hals trägt, hatte sich kürzlich schon mitten am Tag auf den Weg zum Strand gemacht, sagt er. Er sei aber an der Promenade vor dem Kassenhäuschen eingeschlafen. „Ich bin im Sitzen eingepennt, ich habe 190 Euro gemacht – innerhalb einer Stunde.“ So einen Stundenlohn hätte er gern öfter, sagt der junge Mann, der nach eigenen Angaben zuletzt vier Jahre in Berlin auf der Straße lebte.
Sylt: Punks reisen mit dem 9-Euro-Ticket an
Florian, der sich Flo nennt, ist gleich am 1. Juni mit den 9-Euro-Ticket auf Sylt angekommen. „Und ich bleibe auch noch hier.“ Sylt sei ein großes Kontrastprogramm zur Hauptstadt. „Berlin ist Straße. Wir sind hier, um morgens am Strand aufzuwachen und zu chillen.“
Die Reaktionen einiger Passanten, die weniger freigiebig sind, sind ihm nicht verborgen geblieben. Denn die Punks, die in der vergangenen Woche weitgehend in den Rathauspark abgewandert und dort ihr Lager aufgeschlagen haben, hatten wochenlang den Platz um die Dicke Wilhelmine belagert. Die Bronzefigur ziert den Brunnen, der zwischendurch durch einen Bauzaun abgesperrt war, weil die Punks und Obdachlosen ihn als Pool benutzt hatten. Am Sonntag saßen sie erstmals wieder in großer Zahl gegenüber dem Brunnen vor der kürzlich eröffneten Rossmann-Filiale.
Punks auf Sylt: "Die Gäste haben Angst vor uns"
Die Gastronomen rund um den Brunnen klagen seit der Ankunft der 9-Euro-Ticket-Gäste Anfang Juni über massive Umsatzeinbußen. Flo sagt dazu: „Die Gäste haben Angst vor uns, weil wir so aussehen, wie wir aussehen.“ Klar, am Brunnen gebe es ab und zu mal Ärger, „aber das regeln wir untereinander.“ Er sagt auch: „Was allein durch Bier umgesetzt wurde, davon könnten wir die Insel kaufen." Die Gruppe sei nicht da, um Stress zu machen.
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Die mit Spannung erwartete linke Demo am Sonnabend, bei der 100 Teilnehmer erwartet worden waren, fand gar nicht erst statt, stattdessen gab es nur eine Spontandemo mit weniger als 20 Demonstranten, die einen kleinen Spaziergang durch Westerland machten. Auch die Nacht zu Sonntag blieb ruhig, so ein Polizeisprecher.
Etliche Krawallmacher seien auch längst abgereist, sagen Mitglieder der inhomogenen Gruppe, die versichern, sie wollten keinen Stress. Viele scheinen sich über das Interesse von Passanten und Medien zu freuen, der Umgangston ist überwiegend freundlich. Alle wollen von sich erzählen, wenn man sich zu ihnen setzt, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen.
Das bestreiten auch die Anlieger nicht, ebenso wenig das Ordnungsamt oder die Polizisten. Geschäftsschädigend sei die bunte Gästeschar, bei der der Alkohol schon morgens fließt, trotzdem. Flo etwa trinkt gern Mixgetränke – in einer Hand hat er dann eine Wodkaflasche, in der anderen Eistee. Und dann geht das im Wechsel.
Ehemaliger Marine-Soldat unter den Punks auf Sylt
Ein 36-Jähriger aus Karlsruhe, der sich Psycho nennt, sitzt ebenfalls bei gutem Wetter gern mit nacktem Oberkörper in der Sonne. Angst vor Sonnenbrand habe er nicht, sagt er. Sein Bart ist akkurat getrimmt, seine Haare trägt er mit stylishem Undercut. Doch Psycho sagt, er sei obdachlos. „Ich war Marine-Soldat und viereinhalb Jahre im Irak.“ Der Staat tue nichts für ihn. Bei anderer Gelegenheit, als er gerade auf dem Weg zu einem öffentlichen Klo ist, erzählt er, er habe sechs Jahre im Knast gesessen. Nicht am Stück, aber immer wieder. Dabei wirkt er ziemlich klar, trinkt weniger als andere. Er raste auch nicht mehr bei jeder Gelegenheit aus so wie in früheren Jahren, sagt Psycho.
Seine Freundin Butterfly ist 47, sie hatte längere Zeit ihren zwölfjährigen Sohn dabei. Meist macht sie ein wenig die Mutter der Kompanie, weckt Betrunkene, wenn sie im Weg liegen, und nimmt auch mal einen Besen in die Hand, um Ordnung zu schaffen. „Ich gucke, dass der Müll weg kommt“, sagt die Frau aus Karlsruhe, die zwei Söhne und eine Tochter hat.
"Freiheit im Herzen" – das ist für die Punks auf Sylt Punk
Auf die Krawallmacher ist sie nicht gut zu sprechen: „Das waren Zecken, diese Möchtegernpunks, die haben es mit dem Alkohol maßlos übertrieben“, und dann entbrennt in der Runde eine Diskussion, wen man nun genau als Zecken titulieren dürfe und wer nun echter Punk sei. Punk bedeute, seinen eigenen Weg zu gehen und nicht den gesellschaftlich vorgegebenen. „Freiheit im Herzen“, das sei Punk, darauf einigen sie sich schließlich. Und dass es Arschlöcher überall gebe, auch unter Punks.
Hedwig Wolffgang hat sich kürzlich absichtlich in die erste Reihe in der Fußgängerzone gesetzt und im Restaurant an der Wilhelmine einen Cappucino bestellt. „Diese Punks stören mich überhaupt nicht“, sagte die 69 Jahre alte Urlauberin, die auf einem Campingplatz untergekommen war. „Ich finde nur so schade, dass die Geschäftsleute dadurch solche Defizite erleiden.“ Das 9-Euro-Ticket sollte doch eine Chance für Familien mit Kindern sein, die sich solche Fahrten an die See sonst nicht leisten können. Das Ziel sei verfehlt worden.
Urlauber unterstützen die betroffenen Gastronomen auf Sylt
Viele der Punks seien doch viel zu betrunken, um den Weg zum Strand auf sich zu nehmen, sagt Hedwig Wolffgang. Und wenn sie den Reichen schaden wollten: „Warum gehen sie dann nicht nach Kampen auf die Whiskey-Meile?“, fragt sie sich. „Ich setze mich aus Protest hier jeden Tag hin.“ Während es sonst rappelvoll sei, bekomme sie diesmal immer einen Platz. Dass sich die Punks ausgerechnet die „schrecklichste Straße auf der Insel“ ausgesucht hätten, kann sie auch nicht verstehen. Und überhaupt, „die Reichen sitzen doch inzwischen auf Norderney“, sagt sie.
Ein Punk, der nicht mit Namen genannt werden möchte, beschreibt sein Leben auf Sylt so: „Abends versammeln sich alle am Strand. Jeder pennt, wo er möchte.“ Es gelinge, alle in der Gruppe zu versorgen - mit Essen und Alkohol. Und dass alle warm schlafen, wenn auch draußen. Zudem habe längst nicht jeder Insulaner etwas gegen ihn und seine Gefährten: „Heute morgen kam einer, der hier wohnt. Der sagte, ich habe keinen Bock mehr auf die Touris, aber ihr macht die Insel etwas bunter.“
Punks auf Sylt: Am Wochenende wird es meist voll
An den Wochenenden kommen zu den Dauergästen meist Punks dazu, die während der Woche nach eigenen Angaben arbeiten müssen. So wie das Paar mit Hund aus Flensburg. Die junge Frau mit bunt gefärbtem Irokesen sagt, sie sei Holzhandwerkerin. Sie schlafe mit ihrem Freund auch nicht in Westerland, sondern suche sich einen ruhigen Platz. Ihr Antrieb, immer wieder am Wochenende nach Sylt zu kommen: „Freunde aus der ganzen Republik treffen“, sagt sie. Ein junger Mann aus Lüneburg, der schon mächtig getankt hat, erzählt, dass er eine Maurerlehre macht, aber sich bei seinem Chef krank gemeldet hat, um auf Sylt mit den Punks zu „chillen". „Wann sonst im Leben kann man so etwa noch einmal machen“, sagt er.
Brunnen in Westerland wieder mit Wasser, dafür ohne Zaun
Inzwischen wurde der Bauzaun um den Brunnen mit der Dicken Wilhelmine wieder entfernt, ein wenig Wasser ist auch wieder im Becken, mutmaßlich Regenwasser. Auch das Papp-Schild am Zaun mit der Aufschrift: „Kleingeld für die Freilassung der Wilhelmine. Sie ist unschuldig!“, ist wieder weg.
„Das Schild bei der Wilhelmine war meine Idee“, sagt Sani fröhlich. Die 51-Jährige stammt aus Duderstadt und hat ein WG-Zimmer in Kassel. Sie sitzt immer etwas abseits. Sie sei einfach eine „Reisende, eine Rumtreiberin“, sagt die gelernte Floristin, die schon seit vier Wochen auf Sylt ist, über sich selbst. Ihr Hund Lilo, ein schwarzer Mischling, liegt meist in einer Kinderkarre neben ihr, vor der Sonne mit einem kleinen Sonnenschirm geschützt.
„Die Leute sind hier in Westerland viel spendabler als auf dem Festland“, sagt Sani, die eine Netzstrumpfhose, rot-schwarze Ringelstrümpfe und schwarze Lederstiefeletten trägt und eine rosa Sonnenbrille. Das Schnorren lohne sich, sagt sie, die Passanten seien großzügig: „Vielleicht weil sie Urlaub haben, weil sie glücklich sind.“ Außer Geld brächten viele Urlauber auch Essen vorbei, etwa Übriggebliebenes, wenn sie abreisen, sagt Sani, die Veganerin ist. Ihr Antrieb nach Sylt zu kommen: „Urlaub machen, das Meer genießen.“
Viel Interesse an den Punks auf Sylt
Viele Urlauber, aber auch Insulaner würden sie und andere Punks auch ansprechen und sich unterhalten, sagt Sani, die nach eigenen Angaben einen Minijob als Bühnenbauerin hat, aber eher im Winter arbeitet und im Sommer lieber auf Achse ist. Ihr Chef habe dafür Verständnis. Sie sei schon etliche Male auf Sylt gewesen. Zum Schlafen suche sie sich meist ein ruhiges Plätzchen, weil sie und andere in einer Nacht mit Flaschen beworfen worden seien, als sie in einem Hauseingang schliefen. Aber längst nicht alle seien feindlich: „Viele finden gut, dass Westerland durch uns ein bisschen bunter wird.“
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Auch Eric aus Dresden, der mit ihr in der Fußgängerzone sitzt, lobt die Großzügigkeit der Passanten. Er habe mal weggewollt von der Dresdner Stadttristesse, „einfach mal das Meer genießen“ sagt er über seine Beweggründe. Er war auch schon mal schwimmen, als ihm jemand eine Kurkarte geschenkt hatte. Dafür vier Euro auszugeben würde ihm nicht in den Sinn kommen. Das geschnorrte Geld brauche er für Essen, sagt Eric, ein gelernter Kfz-Schlosser. der auf dem Campingkocher sein Essen zu bereitet. „Mein Zuhause steht da“, sagt Eric und zeigt auf seinen Bollerwagen, in dem seine gesamte Habe verstaut ist. „Kfz-Schlosser braucht keiner mehr, heute gibt es nur noch Kfz-Mechatroniker.“ Er lebe auf der Straße.
Spießig? Punks kaufen Sylt-Postkarten
Nicht ein einziger von ihnen sagt, dass er auf Sylt sei, um es den Reichen auf der Insel mal so richtig zu zeigen. „Vielleicht gibt es ja auch Reiche, die nicht scheiße sind“, sagt Sani. Sie kenne die doch gar nicht. Sie wolle einfach nur Urlaub machen.
Ein wenig spießig sind die 9-Euro-Ticket-Gäste übrigens auch. Sie haben Sylt-Postkarten gekauft und alle darauf unterschrieben. Ob sie sie losschicken und an wen, ist noch unklar. „Vielleicht kriegt einfach jeder eine, der unterschrieben hat.“
Am Dienstag hatte der Hauptausschuss in Westerland getagt und mehrere Maßnahmen beschlossen, nachdem etliche Geschäftsleute in der Einwohnerfragestunde ihrem Ärger über die Zustände in der Innenstadt Luft gemacht hatten. Konkret wurde beschlossen, einen Sicherheitsdienst zu beauftragen, der an den neuralgischen Punkten in Westerland täglich von 13 Uhr bis 1 Uhr nachts Präsenz zeigen soll – die bislang tätigen Stadtlotsen konnten sich nicht genug Respekt verschaffen.
Streetworker für die Situation auf Sylt gesucht
Außerdem sollen mobile Toiletten aufgestellt werden, weil die öffentlichen WCs nachts geschlossen werden. Und für die Zeit bis 31. August, also für den Zeitraum, in dem das 9-Euro-Ticket noch gilt, wird ein Streetworker gesucht, der mit den 9-Euro-Ticket-Gästen ins Gespräch kommt.
Nikolas Häckel, Bürgermeister der Gemeinde Sylt sagte dem Abendblatt zu den beschlossenen Verschärfungen in Westerland: „Die Dixies sind beauftragt, werden Montag geliefert. Der Sicherheitsdienst ist entsprechend beauftragt. Gespräche zum Streetworker finden kommende Woche statt – es liegen auch schon externe Bewerbungen vor“.
Punks auf Sylt: Demos angekündigt
Für den 16. Juli ist wieder eine Demonstration auf Sylt angekündigt. „Da die Kooperationsgespräche jedoch noch ausstehen, können wir hierzu noch keine weiteren Auskünfte erteilen“, sagte Laura Berndt, Sprecherin des Kreises Nordfriesland.
Dagegen ist klar, wer am 30. Juli auf die Insel kommen will. Für den Tag hat die Partei „Die Rechte“ eine Demonstration auf der Insel angemeldet. Auch Flo hat von der Demo gehört. Es sei die Rede von „16.000 Punks und 10.000 Faschos, da wird es richtig knallen“, meint er. „Die Faschos kommen nur wegen uns Punks, um uns aus der Reihe zu kicken.“ Da werde es „richtig knallen.“ Angst habe er nicht, Respekt schon vor der Auseinandersetzung.