Arnis. Häuser in Arnis standen tagelang unter Wasser – und sind unbewohnbar. Wie es Betroffenen geht und welche Entscheidung die Stadt empört.
Der Verzweiflung ist eine tiefe Traurigkeit gewichen, der Angst ein gewisser Pragmatismus. Vor ziemlich genau zwei Monaten haben Kerstin Rosinke und ihr Freund Christian Stübler ihr Zuhause in Arnis verloren, überschwemmt von der Sturmflut, die Ende Oktober die Ostseeküste heimsuchte.
Innerhalb kürzester Zeit war das Haus des Paares im Erdgeschoss und Keller komplett überflutet. Rund zehn Tage lang floss das Wasser nicht wieder ab. Kerstin Rosinke und ihr Partner waren zu dieser Zeit im Urlaub, konnten nicht einmal die wichtigsten persönlichen Gegenstände retten. Und haben so ziemlich alles verloren, was ihnen wichtig ist.
Ostsee-Sturmflut: Deich brach – Arnis wurde überflutet
Arnis, die Stadt, die gerade gut 300 Einwohner zählt, war wie kein anderer Ort von der Sturmflut betroffen. Das malerische Städtchen direkt an der Schlei, das bei Touristen sehr beliebt ist, liegt unterhalb des Meeresspiegels. Auch deshalb sollen sie zwei Deiche vor schlimmen Fluten schützen.
Doch einer der Deiche brach in der Sturmflutnacht – innerhalb kürzester Zeit wurde Arnis zu einer Insel. Das Wasser schoss durch die Straßen und in die Häuser hinein. Eine Fläche von insgesamt 20 Hektar wurde sofort überflutet. Der Strom fiel aus, die Kanalisation musste abgestellt werden. Rund 20 Häuser standen unter Wasser.
Arnis: In einigen Häusern stand tagelang das Wasser
Da Arnis so tief liegt, zog das Wasser aber nicht – wie in anderen betroffenen Orten wie Damp oder Flensburg – wieder ab. Mithilfe der Feuerwehr und des Katastrophenschutzes des Kreises Schleswig-Flensburg musste es wochenlang mühsam aus dem Ort abgepumpt werden. Genauso lange stand es allerdings auch in den Häusern.
Eines davon war das von Kerstin Rosinke und ihrem Freund. Stück für Stück hatte das Paar seit 2019 alles renoviert und erneuert, vieles davon selbst gebaut. Vor Kurzem erst wurde das Dach gedeckt und das Erdgeschoss komplett renoviert. „Mein Partner hat so unendlich viel Arbeit und Liebe hier hineingesteckt“, sagt die junge Frau.
Bei Familie Rosinke laufen Tag und Nacht die Trocknungsmaschinen
Von diesem frisch renovierten Häuschen ist nach der Sturmflut nicht mehr viel übrig. Mittlerweile sind die beiden unteren Stockwerke komplett entkernt. Seit Ende November laufen die Trocknungsmaschinen hier Tag und Nacht. Das feuchte Wetter helfe ihnen bei dem Prozess nicht gerade, sagt Kerstin Rosinke. „Trockene, kalte Luft wäre besser.“
Dazu feuere sie jeden Tag den Ofen an, damit die Räume im Obergeschoss nicht komplett auskühlen und auch noch feucht werden. Eine Heizung gibt es seit der Sturmflutnacht nicht mehr. „Mir graut schon jetzt vor der Stromrechnung für die Maschinen“, sagt Kerstin Rosinke.
Nach wie vor hat Familie Rosinke keine Gewissheit, wie es für sie weitergeht
Noch immer weiß das Paar nicht, wie es weitergeht für sie und ihr Haus. Es wird vermutlich nicht abgerissen werden müssen, „aber selbst darüber haben wir nicht die endgültige Klarheit“, so die junge Frau. Die Entscheidung könne erst nach dem Trocknungsprozess gefällt werden.
Zu Weihnachten wollte die Firma, die die Geräte aufgestellt hat, eigentlich mit der Trocknung fertig sein. Doch nur wenige Tage vor dem Fest erneut schlechte Nachrichten: Die Trocknung kommt nicht voran. Noch immer läuft Wasser aus den Wänden im Keller. „Seit Beginn des Prozesses ist es nicht schlimmer geworden, aber leider auch kein Stück besser“, sagt Kerstin Rosinke, und man merkt ihrer Stimme den Frust an. „Diese Nachricht war noch mal ein echter Schock für uns.“
Zuhause durch Sturmflut verloren – „Mir geht es nicht wirklich gut“
Die Wände und Böden hätten im Oktober zehn Tage Zeit gehabt, sich komplett vollzusaugen. Entsprechend schleppend laufe die Trocknung. Nun mussten weitere Geräte im Erdgeschoss aufgestellt werden. „Das haben wir gerade organisiert. Jetzt müssen wir auch noch ständig die Wasserbehälter entleeren.“ Kerstin Rosinke ist ernüchtert: „Allein dieser Prozess wird sich noch gewaltig in die Länge ziehen.“
Das Paar wohnt jetzt in einer benachbarten Ferienwohnung im Ort. Christian Stübler arbeitet in diesen Tagen viel, er fährt als Steurer auf dem Nord-Ostsee-Kanal. Kerstin Rosinke, die die Stadtbücherei von Kappeln leitet, ist nach wie vor krankgeschrieben. „Mir geht es nicht wirklich gut“, sagt sie.
Kerstin Rosinke hat Angst vor den Bauarbeiten, die noch auf sie zukommen
Das sei die Sorge, wie sie finanziell die komplette Sanierung stemmen sollen. „Wir haben ein paar Rücklagen, aber die haben wir eigentlich für ganz andere Dinge eingeplant. Und außerdem sind die nun schon bald weg.“ Aber da ist auch der Respekt vor den Bauarbeiten, die auf sie zukommen.
„Uns wurde der Boden unter den Füßen im wahrsten Sinne des Wortes weggerissen. Das macht was mit einem. Das nimmt einem ein wenig das Urvertrauen.“ Von diesen ersten Stunden und Tagen nach der Sturmflut habe sie sich nach wie vor nicht ganz erholt.
Nach Sturmflut: Kerstin Rosinke fällt der ganz normale Alltag schwer
„Am Anfang konnte ich nicht einmal einkaufen gehen“, sagt Kerstin Rosinke. Einfache, eigentlich banale Dinge seien ihr sehr schwergefallen. „Ich habe mich immer gefragt, wie kann sich an der Kasse jemand über die lange Schlange aufregen. Habt ihr keine anderen Sorgen? Ich habe gerade mein Zuhause verloren.“ Das sei nun langsam besser. „Aber eine tiefe Traurigkeit, die bleibt.“
Kerstin Rosinke steht die Sanierung ihres Hauses bevor. „Als wir alles für uns schön gemacht haben, hatten wir eine große Freude“, sagt sie. Die könne sie jetzt verständlicherweise nicht empfinden. „Mir fällt es so unendlich schwer, all das noch einmal anzugehen.“ Es sei ein tägliches Jonglieren mit den Gegebenheiten – und den Kosten. „Wir müssen alles genau abwägen, strategisch denken. Das hat nichts Schönes mehr, ganz im Gegenteil.“
Kraft gibt allen Betroffenen die große Hilfsbereitschaft
Kraft gibt beiden die große Hilfsbereitschaft, die ihnen aus Arnis und weit darüber hinaus entgegengebracht wurde und wird. „Es ist unfassbar, was hier in den vergangenen Wochen für uns getan wurde“, sagt Kerstin Rosinke.
Auch die stellvertretende Bürgermeisterin berichtet von der großen Unterstützung, die nach wie vor anhält. „Zum einen gibt es für die Betroffenen in Arnis Spenden aus ganz Deutschland“, sagt Michelle Dieckmann. „Zum anderen helfen hier weiterhin viele ganz pragmatisch vor Ort.“
Arnis: Mehr als 350.000 Euro Spenden sind bereits eingegangen
Mehr als 350.000 Euro sind bereits auf einem Konto eingegangen, das die Stadt Kappeln extra für die betroffenen Bürger eingerichtet hat. Das sind zum einen Spenden, aber auch Gelder, die bei verschiedenen Aktionen in und um Arnis zusammengekommen sind. Bei einer Benefizveranstaltung vor rund zwei Wochen wurden etwa 10.000 Euro gesammelt. Bei einem Chorkonzert in der Schifferkirche von Arnis waren es 1500 Euro. Andere Einwohner haben spontan besondere Hoodies gestaltet und für einen guten Zweck verkauft. Auch hier wurden 10.000 Euro erlöst.
Für die Verteilung der Gelder wurde von der Stadt Arnis extra ein Hochwasserkomitee gegründet. Hier sind in den vergangenen Tagen und Wochen bereits 14 Anträge eingegangen. „Im Rahmen des sogenannten Katastrophenerlasses konnten wir an alle Betroffenen, je nach Schwere der Fälle, bis zu 5000 Euro als Soforthilfe auszahlen“, sagt Michelle Dieckmann, die ebenfalls in dem Komitee sitzt. „So haben wir noch vor Weihnachten bereits über 50.000 Euro auszahlen können.“
Für die Stadt Arnis ist der Hochwasserschutz besonders wichtig
Die größeren Summen sollen dann Anfang Januar folgen. „Wir arbeiten die Anträge Stück für Stück ab. Und je nach Schwere der Schäden bekommen die Betroffenen entsprechende Unterstützung.“ Klar sei allerdings, dass auch mithilfe der Spenden niemandem der Schaden zu einhundert Prozent ersetzt werden könne. „Aber es kann die Not ein wenig lindern.“
Für sie und die anderen Stadtvertreter gibt es aber noch ein weiteres wichtiges Thema: den Hochwasserschutz. „Unser Deich ist an einer Stelle durchgebrochen, und auch der Rest ist in keinem schützenden Zustand mehr“, sagt Michelle Dieckmann. „Gerade hat der Bund gesagt, dass der beim Wiederaufbau keine Gelder zur Verfügung stellt, das ist für kleine Gemeinden wie unsere natürlich bitter.“
Schleswig-Holstein will 90 Prozent der Kosten für Wiederaufbau übernehmen
Michelle Dieckmann ist empört über die Entscheidung. „Für die Menschen in Arnis sind die Deiche lebenswichtig“, sagt sie. „Direkt dahinter stehen Häuser, die ohne sie ständig in Gefahr wären.“ Zudem würden die betroffenen Einwohner ihre Häuser bereits wieder aufbauen. „Die brauchen eine Perspektive und Sicherheit, dass sie künftig vernünftig geschützt sind.“ Und eine kleine Stadt wie Arnis sei schlicht auf Gelder angewiesen. „Alleine können wir das nicht stemmen.“
Erst vor wenigen Tagen hat Schleswig-Holsteins Umweltminister Tobias Goldschmidt zugesagt, 90 Prozent der Kosten für den Wiederaufbau zu übernehmen. Das reicht aber nicht, sagt Michelle Dieckmann. So viel Geld, um zehn Prozent der Kosten für den Wiederaufbau selbst zu tragen, habe eine kleine Kommune wie ihre Stadt schlicht nicht. Zum Hintergrund: Die Kommunen finanzieren den Wasserverband, der für den Wiederaufbau zuständig ist.
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Nach Sturmflut: Paar aus Arnis feiert Weihnachten getrennt voneinander
Auch Kerstin Rosinke hat genau verfolgt, was Goldschmidt gesagt hat, schließlich hängt ihre Existenz von der Entscheidung ab. Erst einmal hangelt sich die junge Frau allerdings von Tag zu Tag. Das Weihnachtsfest stehe ihr bevor, sagt sie. Ihr Freund werde wieder einmal arbeiten.
Und sie? „Ich werde bei befreundeten Nachbarn mitfeiern.“ Allerdings falle es ihr derzeit noch schwer, sich in größere Gruppen zu begeben. „Ich kann mir eine fröhliche Feier gerade nur schwer vorstellen.“ Kerstin Rosinke will die kommenden Tage einfach hinter sich bringen. Und dann abwarten, was ihr Haus im kommenden Jahr für Überraschungen bereithält. So wie sie alles im Moment auf sich zukommen lassen muss. Geduld, das hat sie in den vergangenen Wochen gelernt.