Brokstedt/Itzehoe. Sechs Monate nach der Bluttat in Brokstedt muss sich der 34-Jährige von Freitag an vor dem Landgericht Itzehoe verantworten.

Der Fall hatte alles, das Vertrauen in einen funktionierenden Staat nachhaltig zu erschüttern: Über Jahre hinweg hielten Behörden von gleich drei Bundesländern – Hamburg, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen – sowie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge es nicht für nötig, vernünftig miteinander zu kommunizieren. Selbstauskünfte eines immer wieder kriminellen, angeblich staatenlosen Palästinensers wurden nicht überprüft, Behördenmails verschwanden im Nirwana öffentlicher Postfächer, offizielle Meldungen wurden nicht weitergeleitet.

Schließlich wurde der seit 2014 in Deutschland geduldete Mann unvorbereitet aus der Haft in Hamburg entlassen, wo er zuletzt noch einen Angestellten angegriffen hatte. Dieser Mann, er heißt Ibrahim A., wurde nur wenige Tage später bundesweit bekannt als der „Messerstecher von Brokstedt“. Am Freitag startet in Itzehoe (Schleswig-Holstein) am Landgericht der Prozess gegen den 34-Jährigen.

Ibrahim A. muss sich wegen zweifachen Mordes – die junge Frau wurde 17, ihr Freund 19 Jahre alt – und vierfachen versuchten Mordes verantworten, jeweils aus niedrigen Beweggründen und in Heimtücke. Er soll am 25. Januar in einer Regionalbahn von Kiel nach Hamburg in Höhe des Ortes Brokstedt wahllos mit einem Messer auf Menschen eingestochen haben, bis es Fahrgästen gelang, ihn zu stoppen. Eine bei dem Messerangriff verletzte Frau nahm sich später das Leben.

Bluttat von Brokstedt – erste Zeugen sollen am 17. Juli aussagen

Acht Nebenkläger treten in dem Verfahren auf. 127 Zeugen wurden benannt, 39 Verhandlungstage sind bis kurz vor Weihnachten angesetzt. Zum Prozessauftakt ist nur die Verlesung der Anklageschrift fest geplant, eventuell werden sich die Verteidigung oder der Angeklagte zur Tat äußern. Die Beweisaufnahme und die Befragung der ersten Zeugen startet erst am 17. Juli.

Ibrahim A. ist seit gut fünf Monaten Untersuchungshäftling in der JVA Neumünster. Dort ist man eigentlich daran gewöhnt, mit besonders schwierigen und aggressiven Gefangenen umzugehen. Aber kaum in Neumünster angekommen, begann der Mann, Justizangestellte zu tyrannisieren.

Zuletzt hatte Ibrahim A. versucht, Feuer in seiner Zelle zu legen – der kleine Brand war aber schnell gelöscht. So soll es im Prozess jetzt auch um den psychischen Zustand des Mannes gehen – ein Sachverständiger soll die Schuldfähigkeit des Angeklagten prüfen.

Brokstedt – wie die Behörden versagten

Die heimtückische Tat hatte deutschlandweit Entsetzen ausgelöst – und Fassungslosigkeit angesichts des kaum für möglich gehaltenen Behördenversagens. Ein Beispiel von vielen: Während Ibrahim A. nach einer Messerattacke 2022 in Hamburg in Haft saß, versuchte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), ihn ausfindig zu machen, um ein Verfahren zu starten mit dem Ziel, dem Mann den sogenannten subsidiären Schutz wieder zu entziehen.

Die Idee versandete – für das BAMF war A. unbekannt verzogen. Ein weiteres Beispiel für die desolate Behördenkommunikation: Als die JVA in Hamburg das Kieler Ausländeramt endlich von der Haftentlassung A.s informierte, hatte der schon in der Regionalbahn sechs Fahrgäste getötet oder schwer verletzt.

Lehren aus Brokstedt: Datenbank für bessere Kommunikation

Hamburg und Schleswig-Holstein haben Verantwortung für die Bluttat übernommen und das Behördenversagen im Detail aufgearbeitet. Die norddeutschen Länder haben nicht für sich Konsequenzen gezogen, sondern über die Justiz- sowie die Innenministerkonferenz auch bundesweite Gesetzesänderungen angeschoben. So soll die Sicherheit von Fahrgästen verbessert werden. Einheitliche Regeln für Waffenverbotszonen und zu Videoaufzeichnungen in Zügen und auf Bahnhöfen werden geprüft.

Geplant ist auch eine bundesweite Datenbank zu Messerangriffen. Bis Herbst soll ermittelt sein, wie viele Angriffe es mit dieser Alltagswaffe in den vergangenen zehn Jahren gegeben hat und wie die Täter bestraft wurden.

Parallel soll die Kriminologische Zentralstelle der Länder bis zur Herbstkonferenz der Justizminister „Handlungsoptionen“ erarbeiten. Eine könnte sein, schwere Körperverletzungen mit einem Messer künftig härter zu bestrafen.

Beschlossen ist auch, eine nationale Plattform aufzubauen, in die alle Fälle von Ausländerkriminalität einfließen und automatisch an alle beteiligten Behörden auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene ausgespielt werden. So sollen menschliche Fehler bei der Datenübermittlung wie im Fall Brokstedt minimiert werden.