Hamburg. Mutmaßlicher Angreifer soll „alle Gefangenen gegen sich aufgebracht“ haben. Landtag erneuert Kritik an Hamburger Behörde.
Kiel Nach dem tödlichen Messerangriff von Brokstedt vor rund vier Wochen wurden jetzt neue Vorwürfe gegen den 33 Jahre alten Täter bekannt, der von sich sagt, er sei staatenloser Palästinenser. So berichten Justizvollzugskräfte der Untersuchungshaftanstalt Neumünster in Gesprächen mit der Polizeigewerkschaft GdP von Beschimpfungen und Bedrohungen, die „Ibrahim A. regelmäßig täglich ausspricht – begleitet von entsprechenden Gesten“.
Der Häftling sei nicht einschätzbar und stelle durch sein Verhalten eine erhebliche Bedrohung für die vor Ort eingesetzten Kolleginnen und Kollegen dar. „Ibrahim A. ist ein Gefangener, der – aus Perspektive der Bediensteten – einen ganzen Behördenapparat lahmlegt.“
Messerattacke: Gewerkschaft in ihrem Mitgliederheft über den Fall
So schreibt es die Gewerkschaft in ihrem Mitgliederheft „Der Schlüssel“. Weiter heißt es dort, dass die JVA Neumünster schon in den vergangenen Jahren „gebeutelt von Suiziden und Übergriffen auf Mitarbeiter“ war. Aktuell werde durch den Umgang mit Ibrahim A. der „normale Haftalltag“ durch einen einzigen derart auffälligen Gefangenen extrem behindert. Die Folge: „Durch sein Verhalten bringt Ibrahim A. alle anderen Gefangenen gegen sich auf“, heißt es im Artikel.
Diesen Bericht machte am Mittwoch in der Debatte des schleswig-holsteinischen Landtags über Behördenfehler im Umgang mit dem mehrfach vorbestraften Ibrahim A. der SPD-Innenexperte Niclas Dürbrook öffentlich. Er nannte den 33-Jährigen „in Neumünster eine Bedrohung“.
Messerattacke von Brokstedt: Ibrahim A. bedrohte Personal in U-Haft
Schon wenige Tage nach der Tat war der mutmaßliche Doppelmörder A. von Itzehoe nach Neumünster verlegt worden. Dort gibt es besondere Schutzräume für verhaltensauffällige und aggressive Verdächtige. Auch die Hamburger Justiz – hier saß Ibrahim A. ein Jahr nach einem Messerangriff in Haft – beschreibt den Mann als anstrengenden und aggressiven Gefangenen und Provokateur, der dazu neigte auszurasten, wenn er nicht seinen Willen bekam. Während seiner rund einjährigen Haft in Hamburg hatte sich Ibrahim A. übrigens mit Anis Amri verglichen, dem Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz. „Es gibt nicht nur einen Anis Amri, es gibt mehrere, ich bin auch einer.“ Diese Aussage ist vom Personal der JVA Billwerder in einem sogenannten Wahrnehmungsbogen festgehalten worden.
Als erste Konsequenz aus dem Messerangriff mit zwei jungen Menschen, die starben, vier Schwerverletzten und mehreren traumatisierten Fahrgästen der viel befahrenen Regionalbahn von Kiel nach Hamburg beschloss der Landtag nahezu einstimmig eine Sicherheitskonferenz von Politik, Verwaltung, Bahn und Polizei. Ziel ist, die Videoüberwachung in Zügen und an Bahnhöfen auszubauen. Eine Überlegung ist, die Aufzeichnungen der Kameras nicht nur 72 Stunden zu speichern, sondern die Bilder in Echtzeit dem Lokführer auf einen Monitor zu spielen, sodass von dort Alarm ausgelöst werden kann.
Verkehrsminister Madsen fordert Bodycams für Zugpersonal
Verkehrsminister Claus Madsen brachte zudem die Idee auf, Zugpersonal mit Bodycams auszustatten und deren Einsatz in einem Pilotprojekt zu testen. Künftig dürfen auch Polizeikräfte in Zivil Bus und Bahn in Schleswig-Holstein kostenfrei nutzen, wenn sie eine Dienstwaffe tragen und so zu einem besseren Sicherheitsgefühl beitragen. Einig war sich das Parlament, das subjektive Sicherheitsgefühl der Bahnfahrgäste zu erhöhen, wenngleich auch das keinen 100-prozentigen Schutz vor Angriffen biete.
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Zuvor hatten Vertreter aller Parteien die massiven Kommunikationspannen im Fall A. scharf kritisiert und Konsequenzen gefordert oder angekündigt. Der Mann war 2014 nach Deutschland eingereist. Trotz mehrerer Straftaten in Nordrhein-Westfalen erhielt er als Flüchtling subsidiären Schutz – auch weil NRW es versäumte, die Taten und Urteile dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zu melden. Erst die Ausländerbehörde Kiel – A. hatte sich im Sommer 2021 in Schleswig-Holstein angemeldet – informierte das BAMF.
Die Bundesbehörde schaffte es aber nicht, in vier Monaten den Fall entscheidend weiterzutreiben. Danach verlor sich erst einmal jede Spur des Mannes – weil er in Hamburg in Haft saß. Statt den förmlichen Weg zu wählen, informierte die Hamburger Justizbehörde die zuständigen Behörden in Schleswig-Holstein und im Bund lediglich per Mail. Übrigens: Ein offizielles Schreiben über die Freilassung Ibrahim A.s aus der Haft in Billwerder ging Anfang Februar in Hamburg raus – da waren die jungen Fahrgäste des RE70 tot, und A. saß wieder in Haft.
FDP-Innenexperte Buchholz kritisiert „Behörden-Pingpong“
In den Wochen nach der Tat folgten gegenseitige Schuldzuweisungen der beiden Nordländer. Oder: „Behörden-Pingpong“, wie es FDP-Innenexperte Bernd Buchholz kritisierte. Er sprach von einem „Behördenversagen auf allen Ebenen und einem beschämenden Schauspiel“, für das man sich bei den Eltern und Angehörigen der Opfer nur entschuldigen könne. Buchholz forderte für Schleswig-Holstein eine neue Spezialeinheit aus Innen-, Ausländer- und Justizbehörde, die sich gezielt um die zügige Abschiebung straffällig gewordener Ausländer kümmere. Eine vergleichbare Einheit gibt es in Hamburg bereits. Und so hat die Hansestadt 2022 aus der gemeinsamen Abschiebeeinrichtung heraus 120 Menschen abgeschoben, Schleswig-Holstein aber nur 48.
Im nördlichsten Bundesland sind 12.400 Menschen ausreisepflichtig. Tatsächlich sei aber bei 10.730 von ihnen „eine Abschiebung nicht möglich“, sagte Sozialministerin Aminata Touré von den Grünen. Statt die Menschen „zu Unrecht“ zu kriminalisieren, sollte man sich auf die konsequentere Rückführung straffällig gewordener Ausländer konzentrieren.
Massive Kritik an der Hamburger Justizbehörde
Massive Kritik an der Justizbehörde der Hansestadt kam von CDU-Fraktionschef Tobias Koch. Hamburg versuche sich aus der Verantwortung herauszureden, sagte Koch. Er forderte von der Hamburger Justizbehörde eine „deutlich stärker ausgeprägte Fehlerkultur, verbunden mit der Fähigkeit zur Selbstkritik“. Laut Koch müsse es, statt nur die Behördenkommunikation zu verbessern, einen „grundlegenden Systemwechsel“ geben. Alle beteiligten Behörden an einem solchen Fall – im Fall A. waren es insgesamt sieben verschiedene Dienststellen – müssten künftig einen direkten Zugriff auf alle relevanten Daten erhalten, forderte der CDU-Politiker.
Einig waren sich nahezu alle Landespolitiker in ihrer Kritik an Bundesinnenministerin Nancy Faeser. CDU, Grüne, FDP und SSW griffen die sozialdemokratische Ministerin scharf an. Ibrahim A. hätte bei besserer Behördenkommunikation abgeschoben werden können, hatte Faeser kurz nach der Tat gesagt – und damit unterstellt, die beiden jungen Opfer könnten heute noch leben. Das sei Hohn für die Hinterbliebenen der Toten und für die Verletzten, hieß es jetzt in Kiel. Lars Harms vom SSW sagte: Auch wenn es schwer zu ertragen sei, aber die Tat sei wohl nicht zu verhindern gewesen.