Kiel. Der Norden stellt Verfassungsschutzbericht vor. Wollen Extremisten Siedlungen aufbauen? Großangriff russischer Hacker erfasst.
Der Nachrichtendienst in Schleswig-Holstein warnt vor einem deutlichen Zulauf zu den sogenannten Reichsbürgern. Die Szene sei 2022 im Vergleich zum Vorjahr um rund ein Drittel auf 640 Personen angewachsen. Das sagte Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) am Mittwoch, als sie den Verfassungsschutzbericht für das vergangene Jahr vorstellte. Sie sprach von einer „neuen Form der Bedrohung“.
2022 war geprägt von gleich mehreren Krisen. Die Pandemie schwächte sich nur langsam ab, die Inflation stieg auf in den vergangenen Jahren ungekannte Höhen, das Leben verteuerte sich massiv, die Energieversorgung galt zwischenzeitlich in Prognosen für den Winter als nicht gesichert, die Nachrichten vom Krieg am Rande Europas machten Angst. Davon profitierten ganz offensichtlich auch die Reichsbürger.
Verfassungsschutz: „Reichsbürger“ radikalisieren sich weiter
„Der massive Zulauf in dieser Szene hing teilweise mit diffusen Zukunftsängsten zusammen. Auslöser dieser Ängste waren nahezu zeitgleich eingetretene und parallel ablaufende Ereignisse, die als tiefgreifende existenzielle Krisen wahrgenommen wurde. Personen mit einer Affinität zu Verschwörungstheorien haben Anschluss an die Szene bekommen, die genau diese Themen aufgegriffen hat“, analysierte die Innenministerin.
Teile der waffenverliebten „Reichsbürger“-Szene seien gewaltbereit, so die CDU-Politikerin. „Deren erkennbare Radikalisierung dürfte sich auch 2023 fortsetzen.“ Über Internetkanäle wie Telegram werde sich die Szene weiter vernetzen, warnte Sütterlin-Waack. Sie schränkte allerdings auch ein, dass trotz Zulaufs zur Szene die 2022 von Reichsbürgern begangenen Straftaten zurückgegangen seien. Die Erklärung: Viele von ihnen versuchten, unter dem „polizeilichen Radar“ zu bleiben, sagte Henrik Greve, stellvertretender Staatsschutzchef im Landeskriminalamt.
Nachrichtendienst warnt vor „Siedlungsbestrebungen“ der „Reichsbürger“
Der Verfassungsschutz beobachtete in der gut vernetzten „Reichsbürger“- und „Selbstverwalter“-Szene „Siedlungsbestrebungen“. Ende Oktober war ein von „Reichsbürgern“ errichtetes Camp in Owschlag im Kreis Rendsburg-Eckernförde geräumt worden. Für die Siedlung gab es keine Baugenehmigung. Sogenannte Selbstverwalter nutzten oftmals eigene Immobilien, luden Gleichgesinnte ein, wie der stellvertretende Leiter des Verfassungsschutzes Wolfgang Klonz sagte.
Der Verfassungsschutz hatte sich als ein Schwerpunkt für 2022 vorgenommen, rechtsextremistische Bestrebungen und Netzwerke aufzudecken. Und so registrierte er ein Plus beim „rechtsextremistischen Personenpotenzial“ von rund 1,7 Prozent auf 1220 Personen. Im Phänomenbereich „Politisch Motivierte Kriminalität“ zählte der Nachrichtendienst 699 Taten, das waren 32 oder 4,8 Prozent mehr als im Jahr zuvor.
Ministerin: Linke Gruppen wie TKKG suchen über Klimabewegung Anschluss
Der erneute Anstieg sei nicht gut, sagte die Ministerin. „Gut ist aber die hohe Aufklärungsquote. Mehr als jedes zweite Delikt und mehr als neun von zehn Gewaltdelikten konnten aufgeklärt werden“, erklärte Sütterlin-Waack.
Der Verfassungsschutz beobachtet zudem, dass Linksextremisten versuchten, Anschluss an die Mitte der Gesellschaft zu erlangen – vor allem über die Klimabewegung. „In Schleswig-Holstein trat insbesondere die TurboKlimaKampfGruppe (TKKG) in Erscheinung.“ Die Gruppierung fungiere als bedeutendste linksextremistische Gruppierung in der ansonsten bürgerlich geprägten Klimabewegung.
Der Nachrichtendienst beobachtet darüber hinaus eine „konstant hohe abstrakte Gefährdung durch islamistischen Terrorismus. Unter den 868 Islamisten seien etwa 750 radikale Salafisten zu finden. 19 politisch motivierte Straftaten haben die 2022 begangen, von denen das Land weiß. Unter anderem geht es um Terrorismusfinanzierung und die Bildung einer terroristischen Vereinigung im Ausland. Weitere Informationen zu diesen beiden Fällen verweigerten Sütterlin-Waack und Greve mit Blick auf die noch laufenden Ermittlungen.
Verfassungsschutz: Wie sich der Krieg in der Ukraine auswirkt
In Folge von Putins Krieg in der Ukraine verzeichnet Schleswig-Holstein einen explosionsartigen Anstieg von Straftaten, die unter dem Oberbegriff „Ausländische Ideologie“ zusammengefasst werden. Hier lag das Plus bei 1214 Prozent. Allerdings war die Gesamtzahl der Straftaten 2021 noch sehr gering, sie stieg jetzt auf 92 Taten insgesamt. Allein 70 davon haben einen unmittelbaren Russland-Bezug. Die Hälfte der Taten entfällt auf die Billigung von Straftaten, überwiegend als festgestellte „Z“-Symbolik im öffentlichen Raum. Das „Z“ steht für die Unterstützung des russischen Angriffskriegs. Weitere Delikte waren Nötigungen und Bedrohungen sowie insgesamt vier Körperverletzungsdelikte.
Sütterlin-Waack berichtete von Desinformationskampagnen. „Die ideologische Einfärbung und tendenziöse Berichterstattung im Sinne russischer Propaganda ist seit Beginn des russischen Angriffskrieges an der Tagesordnung.“ Zuletzt hatte es am 5. April einen großangelegten europaweiten Hackerangriff gegeben. Auch in Schleswig-Holstein brachen deshalb Regierungsportale und Internetauftritte zusammen.
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Warnung vor „Reichsbürgern“: Was Politiker sagen
Die CDU-Innenexpertin Birte Glißmann nannte den hohen Zulauf zur sich radikalisierenden Reichsbürgerszene „besorgniserregend“. „Es ist richtig, dass die Landesregierung diese Entwicklung sehr ernst nimmt und konsequent dagegen vorgeht.“ Laut Glißmann zeigten der Anstieg politisch motivierter Gewalt und die Bedrohung durch russische Spionageangriffe und Propagandamanöver, dass Verfassungsschutz und Polizei im Land weiter gestärkt werden müssten.
„Gefahr für unseren Staat steht rechts. Und das meint nicht nur die Neonazis. Die wirkliche Gefahr für unsere Demokratie ist das rechtsextreme Gedankengut, das von der AfD bis weit in die bürgerliche Mitte hineingetragen wird.“ So kommentierte der grüne Innenexperte Jan Kürschner die Entwicklung. „Die Anschlussfähigkeit der Thesen, von der vermeintlichen Bedrohung durch Migration bis zum Hass auf Eliten und unverhohlen antisemitische, rassistische und menschenfeindliche Einstellungen, ist ein Dauerproblem in unserer Gesellschaft“, sagte der Grüne.