Schleswig-Holsteins Ministerpräsident spricht im Interview erstmals über Konsequenzen aus der Bluttat im Regionalzug nach Hamburg.

Welche Fehler wurden in der Behördenabstimmung zwischen Hamburg, Schleswig-Holstein und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gemacht? Warum war der Täter Ibrahim A. überhaupt noch im Land? Welche Konsequenzen sind jetzt nötig? Diese und viele weiteren Fragen stellen sich nach dem tödlichen Messerangriff von Brokstedt. Neben Polizei und Staatsanwaltschaft arbeitet auch die Politik den Fall intensiv auf.

Im großen Abendblatt-Interview spricht Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther erstmals über den Angriff in der Regionalbahn, bei dem zwei junge Leute starben und drei weitere Fahrgäste schwer verletzt wurden. Günther betont das gemeinsame Interesse von Schleswig-Holstein und Hamburg, Versäumnisse offenzulegen und daraus Konsequenzen zu ziehen.

Hamburger Abendblatt: Herr Günther, wie stark hat Sie der tödliche Messerangriff in der Regionalbahn mitgenommen?

Daniel Günther: Er bewegt mich bis heute. Es ging mir, glaube ich, wie ganz vielen anderen Menschen auch: Die Betroffenheit war von Anfang an riesig. Ich dachte automatisch daran, dass ich selbst häufig diese Strecke gefahren bin und in dem Zug gesessen habe. Und jeder fragt sich: Sind Angehörige, Freunde, Bekannte in dem Zug gefahren? Die Lage war ja zunächst nicht klar. Wie viele Menschen sind gestorben? Wie viele wurden verletzt? Und dann offenbarte sich das ganze Ausmaß dieser Katastrophe. Man überlegt natürlich gleich, ob und wie man die Menschen besser schützen kann. Ob man irgendetwas hätte tun können, um eine so grausame Tat zu verhindern.

Hätte man denn die Tat verhindern können mit dem Wissen von heute?

Ich bin vorsichtig mit Urteilen nach so kurzer Zeit. Aber ich bin grundsätzlich der Meinung, dass jemand, der in unserem Land solche zum Teil schwere Straftaten begangen hat und deswegen auch zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, sein Gastrecht verwirkt hat. Es ist bitter, dass sich so jemand noch immer in Deutschland aufhält – bei allen Schwierigkeiten, die es gibt, Kriminelle abzuschieben. Gerade wenn sie mutmaßlich staatenlos sind. Diesen Gedanken teilen viele Menschen im Land. Aber wir müssen bei aller Bitterkeit auch ehrlich sagen: Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es in einem freiheitlichen Land nicht, auch wenn wir noch so viele Gesetze erlassen und die Sicherheitsbehörden noch so gut ausstatten.

Zunächst dominierte die Trauer um die Opfer, jetzt geht es in Schleswig-Holstein sehr intensiv um die Fehlersuche und die Aufarbeitung auch der Vorgeschichte der Tat. Wie wichtig ist eine gemeinsame tief gehende Analyse dieses Falls?

Der Attentäter war ja sehr schnell gefasst. Daher war es in der ersten Phase richtig, den Menschen, die trauern und um Angehörige bangen, sowie den Helferinnen und Helfern Aufmerksamkeit zu geben und uns um die Opfer zu kümmern. Das hatte absolute Priorität. Da gilt mein aufrichtiger Dank auch allen Beteiligten. Jetzt erfolgt die Aufarbeitung in den drei betroffenen Bundesländern, in den unterschiedlichen Behörden, aber auch beim Bund. Das sollten wir mit der notwendigen Seriosität tun. Die Betroffenen können zu Recht erwarten, dass wir Fehlerquellen schonungslos benennen und die richtigen Schlüsse ziehen.

Es hat schon fast etwas Reflexartiges, wenn nach solchen Taten Gesetzesinitiativen mit dem Ziel härterer Strafen ins Gespräch gebracht werden. Aber ist der Strafrahmen oft gar nicht das Problem, sondern die milden Urteile sind es? Der Fall Ibrahim A. könnte für viele andere stehen: Ein Amtsrichter verurteilt den Mann wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einem Jahr und ein paar Tagen Haft, statt sich für eine härtere Strafe zu entscheiden. Fallen Urteile oft zu mild aus?

Ich glaube schon, dass man Strafvorschriften bei Taten mit Messern überprüfen sollte. Messer sind Alltagsinstrumente, leicht zu besorgende Tatwaffen, mit denen man sehr schnell großen Schaden anrichten und Menschen töten kann. Da finde ich es legitim, über das Strafmaß und Möglichkeiten der Verschärfung nachzudenken. Aber es gibt auch schon jetzt die Möglichkeit bei den in Rede stehenden Straftaten, härtere Strafen zu verhängen und das Strafmaß weiter auszuschöpfen.

Milde Urteile haben Auswirkungen sowohl auf potenzielle Straftäter als auch auf Menschen, deren subjektives Sicherheitsempfinden maßgeblich gestört wird. Wären Urteile mit abschreckender Wirkung präventiv nicht wirksamer?

Grundsätzlich lohnt sich sicherlich eine Debatte über Strafen und das richtige Strafmaß. Weit wichtiger ist aber eine schnelle Aufklärung und Verurteilung, welche nachgewiesenermaßen sehr abschreckend auf Täter wirken. Da müssen wir in der Tat besser werden, und das ist auch eine Frage der Ausstattung der Justiz. Da ist das Land gefordert. Wir müssen mehr machen, damit die Urteile schneller erfolgen können. Wenn sie lange auf sich warten lassen, ist das schlecht für die Abschreckungswirkung, zu der klare Urteile hingegen beitragen können. Da ist auch die Justiz in Verantwortung.

Das gilt nicht nur für schwere Straftaten, sondern gleichermaßen für Jugendliche oder junge Straftäter, wie wir sie zu Silvester erlebt haben, die allein aufgrund ihres Alters schon mit relativ geringen Strafen rechnen müssen? Wenn die lange auf ein Urteil warten müssen, dürfte das wie ein Signal wirken, dass das eigene Tun ohne Konsequenzen bleibt.

Genau, schnelle Verfahren und schnelle Verurteilungen sind grundsätzlich wichtig, aber in den Fällen von jungen Straftätern natürlich ganz besonders. Deswegen befürworte ich, dass es auch bei kleineren Vergehen zu Verurteilungen kommt. Verfahrenseinstellungen senden falsche Signale für die Straftäter. In einem Rechtsstaat, der darauf angewiesen ist, dass die Bevölkerung die Regeln akzeptiert, muss der Straftat eine Strafe folgen, sonst erodiert das Rechtsbewusstsein. Mir ist bewusst, dass das entsprechende Kapazitäten in der Justiz erfordert, aber die müssen wir bereitstellen. Das halte ich für die Akzeptanz unseres Rechtsstaates für absolut zwingend.

Sie hatten die personelle Ausstattung der Justiz schon angesprochen. Sehen Sie hier einen Bedarf, personell nachzulegen in Schleswig-Holstein?

Ja. Wir haben uns in unserem Koalitionsvertrag verständigt, weitere Stellen gerade im Bereich der Strafjustiz zu schaffen, also bei den Staatsanwaltschaften und den Strafgerichten. Die brauchen wir auch, um organisierte Kriminalität zu bekämpfen. Eine bessere personelle Ausstattung ist zudem nötig, um in den Verfahren schneller zu werden. Wir müssen in den nächsten Jahren sichtbare Zeichen setzen und Polizei und Justiz stärken und damit unsere Wertschätzung und Unterstützung auch zeigen. Beim Thema personelle Stärkung ist übrigens ebenfalls der Bund gefordert: Die Länder haben schon lange die Forderung erhoben, den Pakt für den Rechtsstaat zu verstetigen.

Welche Konsequenzen drängen sich nach der Tat von Brokstedt aus Ihrer Sicht auf? Beginnen wir in Ihrem Bundesland. Was kann Schleswig-Holstein auch kurzfristig tun?

Die Aufarbeitung ist ja noch nicht abgeschlossen. Gleichwohl kann man bereits jetzt einige Schlussfolgerungen ziehen. Zum einen, was die Sicherheitslage im ÖPNV und in Bahnhöfen betrifft, denn die Tat hat natürlich Auswirkungen auf das Sicherheitsgefühl der Menschen, die Bahn fahren. Wir müssen die Videoüberwachung ausbauen, auch in Zügen. Wir brauchen Waffenverbotszonen im Bahnhofsumfeld. An diesen Orten sind die Straftaten in den vergangenen Jahren erheblich angestiegen, nicht nur in Schleswig-Holstein, sondern bundesweit.

Und darüber hinaus? In der länderübergreifenden Zusammenarbeit?

Wir müssen die behördliche Zusammenarbeit besser regeln und den Informationsaustausch und die jederzeitige Verfügbarkeit von relevanten Informationen für die Behörden verbessern. Es ist schon sehr augenscheinlich, dass in diesem konkreten Fall die behördliche Abstimmung nicht gut funktioniert hat. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, die Ausländerbehörden, die Justizbehörden müssen im Informations- und Datenaustausch besser werden. Bei aller Sympathie für den Datenschutz wünsche ich mir, dass alle Behörden möglichst auf alle Informationen zugreifen können. Dann muss man nicht lange telefonieren oder sich E-Mails schreiben. Und die Behörden müssen natürlich so ausgestattet sein, dass sie die Informationen auch verarbeiten können. Das gilt vor allem für die Zuwanderungsbehörden.

Hätte Hamburg das BAMF informiert, dass Ibrahim A. in Untersuchungshaft saß, hätte das Bundesamt seine erfolglose Suche nach A. einstellen können.

Das hätte Relevanz für die Frage gehabt: Wird subsidiärer Schutz eigentlich weiter gewährt oder nicht? Mir ist aber nicht daran gelegen, irgendwohin mit dem Finger zu zeigen, gerade weil ja auch noch nicht abschließend geklärt ist, bei wem welche Informationen wann vorlagen. Klar ist aber jetzt schon, dass wir aus diesem Fall wirklich Konsequenzen ziehen müssen und im Datenaustausch alle digitalen und technischen Möglichkeiten viel besser nutzen sollten.

Sie wollen Ausländer, die schwere Straftaten begangen haben, schneller abschieben. Nur: Wie soll das gehen?

Erst einmal brauchen wir bundesweit einheitliche Regeln. Ab wann ist eine Tat eine schwere Tat, die es ermöglicht, den Aufenthaltstitel wieder zu entziehen? Das müssen wir einheitlich und klar definieren. Dann muss es möglich sein, Menschen ohne Aufenthaltstitel auch wieder zurückzuführen. Mit manchen Herkunftsländern gibt es Probleme, sie wiederaufzunehmen. Dafür brauchen wir dringend Abkommen, die Rückführungen ermöglichen. Hier ist natürlich der Bund gefordert, der gerade einen Sonderbevollmächtigten zur Verhandlung solcher Abkommen eingesetzt hat. Davon losgelöst ist dann nochmals das Thema der Staatenlosigkeit zu betrachten. Rückführungen von Menschen in Länder, deren Staatsangehörigkeit sie nicht haben und die zuvor in Deutschland zu einer Haftstrafe von mehr als einem Jahr verurteilt wurden, sind natürlich alles andere als leicht. Und es gibt auch Länder, in die schlicht nicht zurückgeführt werden kann, das muss man auch klar benennen.

Zumal im Fall Ibrahim A. bis heute nicht geklärt ist, ob er wirklich staatenloser Palästinenser ist, wie er es vor neun Jahren bei der Einreise behauptet hat …

Auch das ist ein Problem. Wir sind auch beim Beschaffen von Ersatzpapieren zu langsam. Schleswig-Holstein hat 2022 aus der Haft heraus 41 Menschen abgeschoben. Aber wir müssen – in ganz Deutschland – besser und schneller werden. Das ist ein Grundpfeiler der Akzeptanz von Migrationspolitik. Es gibt einen breiten gesellschaftlichen Konsens, dass wir in diesem Bereich bei Straftätern wirklich viel, viel schneller und effizienter werden müssen.

Wir reden über schnellere Urteile, über die Abschiebung straffällig gewordener Ausländer. Wie wichtig ist es, solche Debatten in der Mitte der Gesellschaft zu führen, statt sie der AfD zu überlassen?

Es ist richtig und wichtig, dass wir als Demokratinnen und Demokraten bestimmte Themen und Fehlentwicklungen benennen. Als jemand, der diese liberale Gesellschaft und ihre Aufnahmebereitschaft schätzt und auch aus christlicher Verantwortung heraus es für richtig hält, Menschen in Not hier aufzunehmen, gehört für mich genauso, eine rote Linie zu ziehen, wenn jemand unser Gastrecht missbraucht. Wir müssen Abschiebungen durchsetzen. Das ist meine Grundhaltung, die ich mit vielen Menschen teile und die wir als Demokratinnen und Demokraten auch aussprechen dürfen und müssen. Sind wir hier nicht klar, stärkt das die politischen Ränder.

Dieser Fall zeigt schon jetzt, dass es bei der Vorbereitung auf die Haftentlassung und bei der Betreuung freigekommener Gefangener Nachbesserungsbedarf gibt, damit diese nicht gleich in ein „Entlassungsloch“ fallen.

Wir müssen uns das bestehende Regelwerk sehr genau angucken. Wir müssen uns um die Menschen kümmern, wenn sie wieder in die Gesellschaft zurückkehren. Menschen, die ihre Strafe abgesessen haben, müssen wir helfen, den Übergang ins Leben zu organisieren. Wir in Schleswig-Holstein haben dafür eines der modernsten Resozialisierungsgesetze in ganz Deutschland, da finden sich die entsprechenden Vorgaben. Im vorliegenden Fall war das noch etwas komplizierter, da keine Strafhaft, sondern lediglich eine Untersuchungshaft vorlag. Aber gerade für diese Fälle müssen wir gucken, was es an Regelungsbedarf beim Übergangsmanagement gibt.

Es wurden Vorwürfe hin und her ausgeteilt zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein, zwischen Hamburg und BAMF und wieder zurück. Wie sehr hat die Aufarbeitung dieses Falls die Beziehungen zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein belastet, nachdem Sie die Schlickdebatte gerade erst hinter sich gebracht haben?

Wir haben ein wirklich ein sehr, sehr gutes Miteinander zwischen Schleswig-Holstein und Hamburg. Ich habe mit Peter Tschentscher zuletzt vor ein paar Tagen lange gesprochen. Wir haben ein großes Interesse daran, die Zusammenarbeit immer weiter zu verbessern. Sowohl auf Hamburger Seite als auch auf schleswig-holsteinischer Seite müssen wir uns genau anschauen, wo wir uns besser aufstellen können. Der Aufklärungsbedarf und -druck ist groß. Da hilft es schon, wenn man als Regierung sehr schnell sprechfähig ist. Die schleswig-holsteinische Landesregierung informierte an Tag eins nach dieser Tat das erste Mal den Innen- und Rechtsausschuss. Das war sehr wichtig. In einer solchen Situation wollen die Menschen nicht hören, dass sich die Behörden streiten, wer wen wann informiert hat. Ich bin mir mit Peter Tschentscher einig, dass wir zu einer gemeinsamen Sicht und Kommunikation kommen müssen und darüber hinaus jeder in seinem Verantwortungsbereich schaut, wie er bei sich nachjustieren kann.

Es wird also Konsequenzen geben, die gemeinsam von beiden Bundesländern gezogen werden?

Definitiv. Wir müssen die Möglichkeiten, dass Fehler unterlaufen, auf ein Minimum reduzieren. Und prüfen, ob wir in allen Bereichen gut aufgestellt sind. Uns treibt ein sehr, sehr großes Interesse um, die richtigen Schlüsse aus dieser schrecklichen Tat zu ziehen.