Hamburg/Kiel. Die Innenbehörde verfügt über eine Spezialeinheit für Fälle wie Ibrahim A.. Könnten so mehr Verbrechen verhindert werden?

Der 25. Januar ist kein schöner Tag. Es ist kalt, grau, unangenehm. An diesem Mittwoch steigt Ibrahim A. mittags in Kiel in den ICE nach Hamburg. Die Fahrt endet abrupt. Schon in Neumünster wirft der Schaffner den Mann ohne Fahrschein wieder aus dem Zug.

Kurz darauf stoppt der RE70 auf dem Weg nach Hamburg am Bahnsteig. Der nächste Halt: Brokstedt. Der Ort, den zu dem Zeitpunkt selbst in Schleswig-Holstein kaum jemand kennt und der an dem Nachmittag bundesweit Schlagzeilen macht.

Fall Ibrahim A.: Wie arbeitet die Hamburger Abschiebe-Soko?

Der Mann ohne Fahrschein wird zum „Messerangreifer von Brokstedt“, der zwei junge Leute tötet und mehrere Fahrgäste schwer verletzt. Der Fall weckt nicht nur wegen seiner Brutalität und der zufälligen Opfer bundesweite Aufmerksamkeit – sondern auch wegen der Serie behördlicher Fehler in gleich drei Bundesländern und einer Bundesbehörde.

Jetzt läuft die Aufarbeitung, es ist die Zeit der Konsequenzen. Dabei rückt eine Spezialeinheit der Hamburger Innenbehörde in den Fokus. Ist ihre Arbeitsweise so gut, dass sie als Vorbild für andere Bundesländer taugt? Das Abendblatt hat die Truppe in einem unscheinbaren Bürogebäude an der Hammer Straße besucht.


Eine Rückblende

Ibrahim A. beantragt 2014 als angeblich staatenloser Palästinenser Asyl. Man gewährt ihm subsidiären Schutz – weiß aber bis heute nicht, ob die Angaben überhaupt stimmen. A. begeht zig Straftaten in Nordrhein-Westfalen, ohne dass das außerhalb des Bundeslandes eine Behörde mitbekommt und ohne dass es Folgen hat. A. landet in Kiel, wird wieder auffällig, wechselt nach Hamburg, begeht weiter Straftaten.

Wird milde verurteilt, ohne dass das Urteil je rechtskräftig wird. Wird im Gefängnis mit Methadon versorgt und entlassen ohne Perspektive oder Hilfe. Die Liste der Versäumnisse ist lang. Im Fokus der Kritik steht dabei vor allem die Hamburger Justizbehörde, während die Arbeitsweise der Sondereinheit der Innenbehörde beispielgebend sein könnte.

Diese Einheit ist die „Gemeinsame Ermittlungs- und Rückführungsgruppe für ausländische Straftäter“, kurz Geras. Hier arbeiten je drei Vertreter aus der Innen- und aus der Ausländerbehörde zusammen – statt nebeneinander her; die ausländerrechtlichen und die polizeilichen Kompetenzen wurden gebündelt.

Geras kümmert sich um die Fälle, bei denen Hamburg ein Ausweisungsinteresse sieht, um so Verbrechen zu verhindern. „Hamburg hat eine sehr sinnvolle Struktur aufgebaut“, lobt der schleswig-holsteinische Innenexperte der FDP, Bernd Buchholz. Er fordert: Statt sich um die Masse der hier lebenden Ausländer zu kümmern, die zwar ausreisepflichtig seien, aber integriert, „sollten wir uns auf die konzentrieren, die straffällig geworden sind“.


Die Geras
Aber was macht diese Geras so besonders? Wie arbeiten die Mitarbeiter? Wie ist ihre Bilanz? Zu den tödlichen Messerangriffen von Brokstedt und der Vorgeschichte äußert sich hier niemand. Das ist politisch vermintes Gelände und nicht Sache der Behörde.

Aber angenommen, für Ibrahim A. wäre die Hamburger Ausländerbehörde zuständig gewesen – und nicht die in Kiel und vorher in NRW –, und angenommen, diese Ausländerbehörde hätte verzahnt mit der Polizei gearbeitet: Der Mann wäre mit seinen Vorstrafen wohl ins Prüfraster der Geras gefallen.

„Ziel von Geras ist die Verhinderung weiterer Straftaten durch die Rückführung eines Straftäters.“ Das sagt Martin Hinzer. Der Kriminalhauptkommissar hat das LKA 55, bei dem die Geras angedockt ist, im Oktober 2022 übernommen, nach zuvor 17 Jahren in der Mordkommission.

2016 ins Amt gekommen, hatte Innensenator Andy Grote Geras nach der Flüchtlingswelle aufgebaut. „Wir wollten alle Kompetenzen und Informationen in einer schlagkräftigen Einheit zusammenführen, um bei der Abschiebung ausländischer Straftäter noch effektiver zu werden. Der Fokus lag damals darauf, Schwerkriminelle und Intensivtäter konsequent abschieben zu können“, sagt der SPD-Politiker. „Das Konzept hat sich bewährt.“

Die Arbeitsweise
Die Geras steigt in Fälle nicht erst ein, wenn eine rechtskräftige Verurteilung vorliegt, sondern sobald es verlässliche Informationen gibt, dass eine Person verdächtigt wird, eine Straftat begangen zu haben. Häufig meldet eine andere LKA-Dienststelle strafrechtlich relevante Ermittlungen zu einer Person an Geras. Darüber hinaus gibt es automatisierte Meldeverfahren.

„Wir prüfen, ob dieser Person weitere Straftaten vorgeworfen werden, ob von ihr eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Wir arbeiten eng mit verschiedenen Behörden zusammen, sowohl bundesländerübergreifend als auch grenzüberschreitend“, sagt Hinzer. Geras prüft – durch die Polizei – die Gefahr, die von der Person ausgeht, und – durch die Ausländerbehörde – den ausländerrechtlichen Status.

Die Fälle werden bewertet, gefiltert und entsprechend von Prüfkriterien kategorisiert. „Eine Gefahr kann sich ergeben durch eine hohe Zahl von Straftaten in kürzester Zeit, die vielleicht von ihrem Delikt her gar nicht so schwer wiegen würden. Aber in der Gesamtbetrachtung können sich dann Kriterien ableiten lassen, sodass die Person in ein Geras-Verfahren aufgenommen werden könnte. Auslöser kann aber auch eine einzelne besonders schwerwiegende Tat sein“, sagt Hinzer.


Die Bilanz

Geras kümmert sich nicht um Fälle, bei denen eine Rückführung durch die Ausländerbehörde bereits rechtlich möglich ist und umgesetzt werden kann. „Wir bearbeiten die Fälle, wo der polizeiliche Support erforderlich ist, das geht häufig los mit der Identifizierung“, sagt Martin Hinzer. Seit der Gründung sind 457 Fälle abgeschlossen worden, 201 davon endeten mit einer „Aufenthaltsbeendigung“. Das heißt: Ein Teil der Menschen wurde abgeschoben, ein anderer ist freiwillig ausgereist.

Ob 201 von 457 Fällen eine gute Quote seien, will Hinzer nicht bewerten. „Ich finde aber, dass jede Gefährdungslage, die behördlicherseits abgewehrt werden kann, ein Erfolg ist.“ Insgesamt hat Hamburg im vergangenen Jahr 379 Menschen abgeschoben.

Weitere 218 Ausreisepflichtige haben 2022 die Stadt freiwillig verlassen – weil der Bund ihnen eine Ausreiseprämie gezahlt hat. 2022 hielten sich mehr als 10.500 Ausreisepflichtige mit abgelehnten Asylanträgen in Hamburg auf, drei Viertel mit einer offiziellen Duldung.

Die Schwierigkeiten
Um die Rückführungen zu ermöglichen, tragen Polizei und Ausländerbehörde gemeinsam quasi die fehlenden Puzzleteile zusammen“, sagt Martin Hinzer. Nur reicht auch das oft nicht aus: wenn die Lage in Herkunftsländern wie Afghanistan oder dem Iran Abschiebungen faktisch ausschließt.

Oder die Abschiebung scheitert, weil Rücknahmeabkommen fehlen und die Heimatländer Kriminelle nicht zurückhaben wollen. Oder, wie im Fall Ibrahim A., daran, dass es gar keinen aufnehmenden Staat gibt, sondern nur ein palästinensisches Autonomiegebiet.


Konsequenzen aus dem Fall Brokstedt
Im Maßnahmenpaket vom 15. Februar kündigt Hamburg an, das länderübergreifende Rückführungsmanagement für Straftäter zu stärken. „Ziel muss es sein, dass die Geras verlässliche Ansprechstellen auch in anderen Bundesländern bekommt und so in die Lage versetzt wird, um bei länderübergreifenden Fällen (wie zuletzt im Fall Ibrahim A.) noch erfolgreicher vorgehen zu können.“ Nur: Noch gibt es nicht einmal digitale Schnittstellen zwischen Behörden und Ländern.


Der Innensenator
Die erfolgreiche Rückführung von Straftätern habe hohe Priorität, um Gefahren für die öffentliche Sicherheit abzuwenden, sagt Andy Grote. „Versäumnisse wiegen hier besonders schwer und können das Vertrauen in den Rechtsstaat beschädigen“, so der Innensenator.

Andy Grote (SPD), Innensenator von Hamburg.
Andy Grote (SPD), Innensenator von Hamburg. © dpa | Kay Nietfeld

Diese Verfahren seien jedoch häufig komplex, weshalb es auf eine intensive Kommunikation und eng verzahnte Zusammenarbeit von Polizei und Ausländerbehörde ankomme. „Die Kolleginnen und Kollegen bei Geras sind eng dran an den Straftätern. Genau das ist es, was diese Truppe so bedeutsam und erfolgreich macht“, sagt der SPD-Politiker. Und so wirbt er, dass die Arbeitsweise von Geras „bundesweiter Standard“ werden sollte.