Hamburg. Verfassungsschutzchef Torsten Voß warnt im Interview: Extremisten versuchen Anschluss an die Mitte der Gesellschaft zu finden.

Wenn die Preise für Energie und Lebensmittel weiter steigen, werden Extremisten die Not und die Ängste der Menschen politisch instrumentalisieren. Davor warnt der Hamburger Verfassungsschutzchef Torsten Voß (CDU). Eine Verschärfung der wirtschaftlichen Lage könnte das Potenzial von Extremisten steigern, die auf die Straße gehen.

Der Nachrichtendienst beobachtet vermehrt „russische Aktivitäten“ im Internet. Voß sagt: Die Gefährdung durch mutmaßliche russische Cyberangriffe und gezielte Falschmeldungen hat zugenommen.

Hamburger Abendblatt: Herr Voß, der Berliner Verfassungsschutz rechnet damit, dass Inflation und steigende Energiepreise im Herbst zu mehr Protesten führen, auch zu mehr Protesten von Extremisten. Was in Berlin zu erwarten ist, dürfte in Hamburg nicht viel anders sein, oder?

Torsten Voß: Ich würde es wie folgt formulieren: Es ist zu erwarten, dass Extremisten von rechts bis links versuchen werden, diese Themen für sich zu besetzen und zu instrumentalisieren. Sie werden damit zu Demonstrationen aufrufen. In Hamburg haben dies Reichsbürger bereits getan. Hier ist die Analysefähigkeit des Verfassungsschutzes und der Polizei sehr gefragt: Wer geht auf die Straße? Wer folgt solchen Aufrufen? Sind es tatsächlich ausschließlich Extremisten? Oder sind es auch Bürger wie du und ich, die befürchten, ihre Strom- und Gasrechnungen nicht mehr bezahlen zu können? Extremistische Veranstalter und Organisatoren sowie alle Teilnehmer gleichermaßen über einen Kamm zu scheren halte ich für falsch.

Berlin befürchtet laut dem dortigen Senat „Aktivitäten aus dem rechtsextremen Spektrum von Reichsbürgern und Staats­delegitimierern“ ...

Voß: Wir haben in Hamburg Gruppierungen, die wir den verfassungsfeindlichen Delegitimierern und Querdenkern zurechnen. Die jüngste Gruppierung nennt sich selbst „United Movement for Human Rights“, kurz UMEHR. Diese vermischt schon jetzt Themen wie Corona, Krieg oder Energiekrise. Durch den Zulauf zu Delegitimierern besteht durchaus die Gefahr, dass auch Rechtsextremisten mehr Zulauf bekommen, obgleich Hamburg bisher nach wie vor eine vergleichsweise eher weniger starke und aktive rechtsextremistische Szene hat. Eine Gefahr für die Demokratie bemisst sich aber grundsätzlich nicht nur an Zahlen und Potenzialen der extremistischen Spektren, sondern an handelnden Personen.

Der Verein UMEHR ist seit Februar Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes. Welche Erkenntnisse haben Sie seither gewonnen?

Voß: Dieser Verein artikuliert, offen nachlesbar, seine Feindschaft gegenüber unserem demokratischen Verfassungsstaat. ­UMEHR lehnt das Demokratieprinzip ab und verfolgt eine staatsgefährdende und demokratiefeindliche Delegitimierung des Staates. Wir stellen auch reichsbürgertypische Argumentationsmuster, eine ausgesprochen prorussische Haltung und auch Bezüge in den Antiimperialismus fest. Auch Beiträge rechtsgerichteter Medien werden von UMEHR-Protagonisten geteilt. Dieser Verein ist Extremismus fürs Lehrbuch. Er greift Themen wie die Corona-Pandemie, Wirtschaft und Energie sowie den Krieg Russlands gegen die Ukra­ine auf, um bei seinen Demonstrationen Menschen auf die Straße zu locken, die bisher keine Delegitimierer sind.

Droht von UMEHR oder anderen Gruppierungen eine weitere Radikalisierung und vielleicht sogar ein sogenannter „heißer Herbst“?

Voß: Es wird mutmaßlich ein kritischer Herbst werden. Es liegt an der Aufklärungs- und Informationspolitik sowie am konsequenten Agieren aller Sicherheitsbehörden und an den gesellschaftlich-demokratischen Kräften insgesamt, einen sogenannten heißen Herbst zu verhindern – wobei ich kein Freund solcher für eine seriöse Analyse wenig geeigneter Schlagwörter und auch nicht irgendwelcher Umsturz-szenarien bin. Im Übrigen: Radikal sind die Delegitimierer schon jetzt. Wer wie UMEHR offen propagiert, „entweder geht der Staat in die Knie oder wir“, ist radikal, eine stärkere Radikalisierung ist kaum noch denkbar. Jetzt ist zu beobachten, wer diesen Aufrufen folgt.

Rechnen Sie mit gewalttätigen Aktionen, Blockaden oder Sabotage?

Voß: Das ist schwer zu prognostizieren. Gewalt aus dem Spektrum der Delegitimierer und Reichsbürger ist nicht neu. Man denke an den Tankstellen-Mord von Idar-Oberstein, an den Mord an einem Polizeibeamten 2016 in Bayern, an Sachbeschädigungen an Impfzentren, Entführungspläne rund um Gesundheitsminister Lauterbach und, und, und ... Eine weitere Verschärfung der wirtschaftlichen Lage könnte das Potenzial von Extremisten steigern, die auf die Straße gehen. In welcher Größenordnung, bleibt abzuwarten. Insgesamt bin ich davon überzeugt, dass es zwar auch künftig Verfassungsfeinde geben wird, diese aber eine kleine, wenn auch gefährliche Minderheit bleiben.

Versuchen die Extremisten mit den Themen Energiepreis, Krieg, Inflation und zuvor auch Corona Anschluss an die Mitte der Gesellschaft zu finden?

Voß: Genau das beobachten wir. Verfassungsfeinde von rechts bis links versuchen den Brückenschlag in die Gesellschaft unter Vortäuschung falscher Tatsachen. Deren Botschaft lautet zum Beispiel: „Wir haben Verständnis für eure soziale Situation, weil ihr die Energiepreise nicht mehr zahlen könnt.“ So versuchen Antidemokraten verschiedenster Couleur schleichend in die Gesellschaft zu kommen, die Grenzen zwischen demokratischem und extremistischem Bereich aufzulösen und die Menschen von ihren demokratiefeind­lichen Narrativen zu überzeugen. Das ist auch eine Art Rekrutierungsversuch. Die Gefahr, die ich sehe, ist, dass mit einer wachsenden Unzufriedenheit auch eine Ablehnung unserer Demokratie zunehmen könnte, obgleich Extremisten nach wie vor eindeutig in der Minderheit sind und weit entfernt davon, einen Umsturz herbeiführen zu können.

Das heißt, Reichsbürger, Delegitimierer und Rechtsextremisten versuchen, über die Themen neue Anhänger zu mobilisieren.

Voß: Ausdrücklich ja. Eine große Gefahr des Rechtsextremismus nach der hohen Gewaltaffinität besteht gerade darin, dass Gruppierungen dieser Szene versuchen, über populäre, breit diskutierte und relevante Themen an die demokratische Gesellschaft anzudocken, Diskurse zu beeinflussen und zu lenken. Eine solche Strategie, populäre Themen zu instrumentalisieren, verfolgen im Übrigen neben Reichsbürgern und Delegitimierern auch Islamisten und Linksextremisten.

Die Corona-Leugner und die radikalen Gegner der staatlichen Eingriffe ins Leben der Menschen haben sich in der Pandemie eine Protest-Infrastruktur aufgebaut. Können diejenigen im Herbst und Winter bei ihren Protesten gegen die Energiepreise auf diese Infrastruktur zurückgreifen?

Voß: Davon bin ich überzeugt. Wir haben eine Infrastruktur, die mit Corona begann, die sich mit delegitimierenden, auch prorussischen Narrativen und jetzt unter anderem dem Themenkomplex Preise und Energie fortsetzt. Wir haben beispielsweise eine Gruppierung, die fast vollständig das Thema Corona gekippt hat und sich jetzt beinahe ausschließlich positiv zum russischen Angriffskrieg äußert. Es existiert ein Sammelbecken von Unzufriedenen: Beim Thema Corona waren es eher wenige Menschen, die sich aus ideologischen Gründen – und ich meine ausdrücklich nur die Delegitimierer, nicht jeder Impfgegner ist ein Extremist – nicht impfen ließen. Diese wenigen konnten also durch ihre so begründete Verweigerung aus ihrer Sicht dem „Diktat des Staates“ ausweichen. Jetzt haben wir aber mit der Energiekrise und den Preissteigerungen Themen, denen man nicht ausweichen kann – jeder hat im Winter seine Heiz- und Stromkosten. Wir haben also eine ungleich breitere betroffene Mehrheit. Ein, wenn man so will, dankbares Thema für Extremisten vieler Richtungen, die natürlich absichtsvoll verschweigen, dass der Verursacher nicht in Berlin, sondern in Moskau sitzt, und unserer Demokratie die Schuld in die Schuhe schieben wollen.

Angenommen, im Herbst gehen Tausende Menschen aus Protest gegen die Preise auf die Straße. Kann der Verfassungsschutz dann überhaupt noch unterscheiden, wer extremistisch ist und wer einfach nur besorgt?

Voß: Wir fokussieren uns auf die Organisatoren dieser Veranstaltungen. Das ist bisher im Bereich der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierer eine niedrige zweistellige Zahl von Menschen. Nicht jeder, der auf eine von Extremisten organisierte Demo geht, ist auch sofort ein Extremist. Aber, ganz deutlich: Wir werden auch künftig bei größeren Versammlungen darauf hinweisen, wenn diese von Extremisten organisiert werden, die die russische Urheberschaft für Krieg, Energiekrise und Preisentwicklung leugnen.

Sie beobachten seit ungefähr anderthalb Jahren einen großen Zulauf für die Delegitimierer, also für Demokratiefeinde, die den Rechtsstaat ablehnen, verächtlich machen, abschaffen möchten. Wie viele Menschen rechnen Sie dieser Szene in Hamburg zu?

Voß: Anhänger dieses Spektrums argumentieren darüber hinaus häufig verschwörungsideologisch, proklamieren ein vermeint­liches Recht auf Widerstand und setzen unsere Demokratie mit der NS-Diktatur gleich. Das alles lässt sich nicht unter die traditionellen Extremismusbereiche wie Rechts- oder Linksextremismus einordnen. Daher beobachten die Verfassungsschutzbehörden in Deutschland diese Verfassungsfeinde als „verfassungsschutzrelevante Delegitimierer des Staates“. Wir sind am Beginn der Aufklärung und rechnen derzeit der Szene in Hamburg ein Personenpotenzial im höheren zweistelligen Bereich zu. Zudem haben wir in Hamburg derzeit gut 340 Reichsbürger und Selbstverwalter.

Kann man überhaupt noch ausmachen, aus welcher politischen Ecke die Proteste kommen? Die extreme Rechte äußert wie eine extreme Linke Verständnis für Putin, negiert die völkerrechtswidrige Aggression Russlands und kritisiert die Politik west­licher Demokratien.

Voß: Genau, daher gibt es auch den neuen Phänomenbereich. Manches erinnert derzeit in der Tat an eine Art Querfront von rechts bis links, wobei – bundesweit betrachtet – Reichsbürger, Delegitimierer und Rechtsextremisten bisher in der Majorität sind. Aber wir beobachten auch Antifa-Narrative. Eine weitere Besonderheit an diesem Phänomenbereich ist, dass hier Menschen erstmals in den Fokus des Verfassungsschutzes geraten – darunter Personen, die wir bisher nicht kannten, die aber aktiv das Ziel verfolgen, unsere Demokratie zu bekämpfen und abzuschaffen.

Sie haben, noch bevor der Krieg begann, als Verfassungsschutz vor russischer Propaganda und vor gezielten Falschinformationen gewarnt. Welche Erkenntnisse haben Sie heute dazu?

Voß: Wir registrieren zunehmende russische Aktivitäten im Netz: gegen die Ukraine, aber auch gegen uns. Die Gefährdung durch mutmaßliche russische Cyber­angriffe und gezielte Falschmeldungen hat zugenommen. Aber: Das Propagieren von Fake News gehört seit jeher zum Repertoire russischer Politik, auch schon Monate und Jahre vor dem völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine.

Hat es Hackerangriffe auf Unternehmen oder Organisationen in Hamburg oder Norddeutschland gegeben?

Voß: Ich bitte um Verständnis, dass sich der Verfassungsschutz bei diesen Themen öffentlich zurückhält – auch im Interesse betroffener Unternehmen.

Sorgen Sie sich vor gezielten Falschinformationskampagnen, beispielsweise zu angeblicher Gas- oder Lebensmittelknappheit?

Voß: Verschiedenste Falschmeldungen sind längst im Umlauf. Ziel ist, den Staat zu destabilisieren und Unruhe zu verbreiten, ein Widerstandsnarrativ zu schaffen und Wähler möglicherweise in Richtung einer Partei zu bringen, die für Russland angenehmer ist. Das Ziel ist Destabilisierung, und die Angriffe mit diesem Ziel werden sicherlich noch zunehmen. Ich sorge mich nicht davor, da unsere Demokratie stark genug ist, dagegenzuhalten.

Schleswig-Holstein warnt im Verfassungsschutzbericht vor der Feinden der Demokratie, die ihre „Aktivitäten verstärkt von der realen in die virtuelle Welt verlagern“. Welche Beobachtung hat der Hamburger Verfassungsschutz über den Extremismus im Netz? Wie hat der sich verändert?

Voß: Seit Jahren berichten auch wir über die Entwicklung und Funktion des Internets, speziell der sozialen Netzwerke, da gehen wir mit den Kollegen in Kiel Hand in Hand. Der Extremismus hat sich sehr stark ins Internet verlagert. Das gilt in erster Linie für den Rechtsextremismus, der die virtuellen Möglichkeiten zur Verbreitung von Propaganda, zur Mobilisierung, zur Vernetzung und auch zur Radikalisierung nutzt – aber natürlich auch für weitere extremistische Phänomenbereiche. Im Netz erreichen Extremisten viel mehr Menschen als beispielsweise in einer Kneipe.

Und was bedeutet diese Entwicklung für Ihre Arbeit?

Voß: Wir haben unter anderem mit unserer Spezialeinheit Rechtsextremismus darauf reagiert und versuchen, in den sozialen Netzwerken Erkenntnisse zu gewinnen. Wir setzen zudem verstärkt auf wissenschaftliche Analysefähigkeit, der Senat hat uns in den vergangenen Jahren personell insgesamt um mehr als ein Drittel aufgestockt. Das ist auch notwendig, denn der Extremismus der 2020er-Jahre ist vielschichtiger und komplexer geworden. Insofern braucht es den gut aufgestellten Verfassungsschutz als sensiblen Seismografen, Frühwarnsystem und Diskursmotor unserer Demokratie.