Kiel. Schleswig-Holstein will aus der Bluttat im Zug ähnliche Konsequenzen ziehen wie Hamburg – und nimmt den Nachbarn in die Pflicht.
Nach der tödlichen Messerattacke in einem Regionalzug in Brokstedt hat die Landesregierung erste Schritte für mehr Sicherheit auf den Weg gebracht. „Zukünftig dürfen auch Polizistinnen und Polizisten in Zivil den öffentlichen Nahverkehr (ÖPNV) kostenfrei nutzen, wenn sie eine Dienstwaffe bei sich tragen“, sagte Verkehrsminister Claus Ruhe Madsen (parteilos) am Mittwoch im Landtag. „Das kann dafür sorgen, dass sich die Menschen im ÖPNV noch wohler fühlen.“
Madsen will auch über mehr Videoüberwachung beraten. „Schon jetzt sind viele Züge mit Videoüberwachung ausgestattet.“ Es sei aber nicht möglich, in jedem Zug zu jeder Tag- und Nachtzeit Zugbegleiter oder Sicherheitspersonal mitfahren lassen zu können. Die Regierung wolle auch den Einsatz von Bodycams prüfen.
Kommt eine Konferenz für mehr Sicherheit im ÖPNV?
Der Landtag forderte die Regierung auf, eine Konferenz für mehr Sicherheit im Nahverkehr zu organisieren. SPD und FDP unterstützen die Pläne. Madsen betonte, noch am Mittwoch sei ein Treffen mit Polizei, kommunalen Spitzenverbänden und Datenschützern geplant.
Die CDU-Innenpolitikerin Birte Glißmann sagte, gänzlich könnten solche Taten nicht ausgeschlossen werden. Die objektive Sicherheit, aber auch das subjektive Sicherheitsgefühl der Reisenden müsse erhöht werden. Dafür reiche eine einzelne Maßnahme nicht.
Fall Brokstedt: Skepsis über Effekt von Videoüberwachung
Videoüberwachung werde schwere Straftaten nicht verhindern können, aber bei deren Aufklärung helfen, sagte der SPD-Innenpolitiker Niclas Dürbrook. Sein FDP-Kollege Bernd Buchholz sagte zu den geplanten Waffenverbotszonen: „Wer soll denn das tatsächlich kontrollieren?“ Ein Schild hätte den mutmaßlichen Täter wohl nicht abgehalten. Die Tat hätte auch in jedem anderen Zug oder an einem anderen Ort stattfinden können, beispielsweise im Kieler Rathaus, in einem Supermarkt oder auf dem Bahnhofsvorplatz.
Der Palästinenser Ibrahim A. soll in einem Zug von Kiel nach Hamburg am 25. Januar Fahrgäste mit einem Messer angegriffen und zwei Menschen getötet haben. Fünf Menschen wurden verletzt. Erst wenige Tage zuvor war der Mann aus der Untersuchungshaft in Hamburg entlassen worden. „Es hätte quasi jeden von uns treffen können“, sagte FDP-Fraktionschef Christopher Vogt zum Auftakt der Debatte, in der auch Fehler bei der Kommunikation zwischen Behörden und Forderungen nach konsequenten Abschiebungen von Straftätern thematisiert werden sollten.
Auch Hamburg prüft Neuregelung für Polizisten
Vor dem Kieler Landtag hatte bereits der Hamburger Senat erste Maßnahmen angekündigt, die sich aus der Bluttat von Brokstedt ableiten. Dabei geht es ebenfalls um eine Ausweitung der Videoüberwachung an Bahnhöfen, aber auch um ein spezielles Kamerasystem in Zügen, das das Verhalten der Fahrgäste permanent hinsichtlich möglicher Gefährdungen analysieren soll. Wie nun Schleswig-Holstein lässt Hamburg zudem die kostenfreie ÖPNV-Nutzung für zivile Polizeibeamte prüfen, sofern eine Dienstwaffe und einen Dienstausweis mitführen.
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Die Aufarbeitung des Falles Ibrahim A. hatte klare Mängel aufgezeigt im Informationsaustausch zwischen Behörden in Hamburg, Kiel und Nordrhein-Westfalen, wo der mutmaßliche Täter jeweils gelebt und auch Straftaten begangen hatte.
Kieler Landtag debattiert Fall Ibrahim A.
Am Mittwoch diskutierte der Kieler Landtag Konsequenzen aus dem Fall Ibrahim A. in großer Ernsthaftigkeit. In einer Aktuellen Stunde wurden parteienübergreifend eine bessere Kommunikation zwischen Behörden und zügigere Verfahren zur Abschiebung ausländischer Straftäter gefordert. Einigkeit bestand darin, dass auch ohne die zwischenzeitlich bekanntgewordenen Kommunikationspannen die Tat aller Wahrscheinlichkeit nach nicht hätte verhindert werden können. Das Risiko für eine solche Tat müsse allerdings verringert werden, forderte Niclas Dürbrook von der SPD.
Die Regierung wolle die Sicherheit im Nahverkehr, die Gewaltprävention, den Zugriff der Behörden auf Informationen und das Übergangsmanagement nach Haftentlassungen verbessern, sagte Integrationsministerin Aminata Touré (Grüne). Zudem sollten Beschleunigungsmöglichkeiten in Strafverfahren genutzt und Menschen schneller zurückgeführt werden, die schwere Straftaten begangen haben. „Die Tat hat uns auf furchtbarste Weise gezeigt, wo wir als Staat in Zusammenarbeit mit anderen Bundesländern, im behördlichen Zusammenarbeiten schlichtweg besser werden müssen.“
Touré widerspricht Bundesinnenministerin Faeser
Touré widersprach der Aussage von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), bei besserer Behördenkommunikation hätte Ibrahim A. abgeschoben werden können. „Leider müssen wir feststellen, dass selbst im Falle einer besseren Zusammenarbeit die Ausweisung nicht hätte erfolgen können“, sagte sie. „Der Täter hatte einen subsidiären Schutzstatus und damit einen erhöhten Ausweisungsschutz; eine Ausweisung vor dem 25. Januar 2023 war daher nicht möglich.“
Touré verwies auch auf lange Verfahrensdauern. Und: „Es hätte außerdem ein aufnahmebereiter Staat gefunden werden müssen, weil die Staatsangehörigkeit des Täters ungeklärt war.“ Allen klar sei aber, dass Straftäter schnell zurückgeführt werden müssten, nachdem sie ihre Strafe verbüßt hätten.
Touré zufolge sind in Deutschland 304.000 Menschen ausreisepflichtig, in Schleswig-Holstein 12.400. Bei 10.730 davon sei eine Rückführung nicht möglich. Zu den Gründen gehörten die Sicherheitslage im Herkunftsland und das Fehlen von Ausweisdokumenten. Zudem gebe es Herkunftsländer, die nicht kooperierten; hier seien Bund und EU gefordert.
CDU-Fraktionschef nimmt Hamburg in die Pflicht
Die Bundesinnenministerin habe den Anschein erweckt, die Tat hätte verhindert werden können, kritisierte CDU-Fraktionschef Tobias Koch. „Das ist wirklich ein Hohn für die Hinterbliebenen der Toten und für die Verletzten.“ Für Faesers Aussage, Ibrahim A. hätte abgeschoben werden können, wären keine Behördenfehler aufgetreten, gebe es nicht den geringsten Anhaltspunkt.
Koch kritisierte Kommunikationsmängel von Behörden in Hamburg und Kiel. Er forderte von der Hamburger Justizbehörde eine „deutlich stärker ausgeprägte Fehlerkultur, verbunden mit der Fähigkeit zur Selbstkritik“.
Buchholz fordert Günther zu mehr Konsequenz auf
Behördenversagen habe es auf allen Ebenen gegeben, sagte FDP-Innenexperte Buchholz. Es sei beschämend zu behaupten, man habe alles richtig gemacht und die Fehler seien woanders geschehen. Buchholz forderte Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) zu einem konsequenten Rückführungsmanagement auf. Wer keine Bleibeperspektive habe und kriminell geworden sei, müsse das Land verlassen, verlangte FDP-Fraktionschef Vogt.
Auch ohne die begangenen Fehler hätte man die Tat nicht verhindern können, sagte Grünen-Fraktionschef Lasse Petersdotter. Auch er wies Faesers Aussage zurück, bei früherer Information hätte Ibrahim A. abgeschoben werden können. Eine Rückführung in die palästinensischen Gebiete gelinge ausgesprochen selten.
SSW: „Viel zu wenige Rückführungsabkommen“
„Wir sprechen hier nicht über einen Unfall infolge von menschlichem Versagen, sondern über ein Verbrechen mit ganz klarer Verantwortlichkeit, vollkommen unabhängig davon, was zuvor passiert ist“, betonte der SPD-Politiker Dürbrook. Kommunikationspannen in Behörden lägen auch an Überlastung und fehlenden Ressourcen. Haftentlassene in Obdachlosigkeit zu schicken sei schon aus Sicherheitsgründen falsch.
Hilfe bei Wohnungssuche und psychologische Betreuung forderte auch SSW-Fraktionschef Lars Harms. Die Menschen dürften nicht allein gelassen werden. Es gebe auch viel zu wenige Rückführungsabkommen mit anderen Staaten, kritisierte Harms.