Hamburg. Hamburg zieht Konsequenzen aus Bluttat im Regionalzug. Senat will System, das Verhalten der Fahrgäste überwacht. Opposition reagiert.
Intensivere Begutachtung gewalttätiger Haftinsassen, bessere Behördenabstimmung und mehr Sicherheit in Zügen – mit diesen Maßnahmen reagiert der rot-grüne Senat in Hamburg auf die tödliche Messerattacke in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg.
Dabei soll der der 33 Jahre alte Ibrahim A. am 25. Januar zwei junge Menschen getötet und vier weitere schwer verletzt haben. Er hatte zuvor wegen einer anderen Messerattacke in Hamburg in Untersuchungshaft gesessen und war erst wenige Tage vorher entlassen worden.
Fall Ibrahim A.: „Psychische Verhaltensauffälligkeiten“ sollen besser erkannt und analysiert werden
Ein Psychiater hatte ihn während eines Jahres 16-mal untersucht und dabei nicht festgestellt, dass von dem Mann eine Gefahr ausging – obwohl er sich mindestens einmal mit dem Attentäter vom Berliner Weihnachtsmarkt, Anis Amri, verglichen hatte. Die mögliche Abschiebung des Palästinensers Ibrahim A. war unter anderem daran gescheitert, dass die zuständige Behörde nicht wusste, dass er in Hamburg in Haft saß.
Daraus zieht der Senat nun eine ganze Reihe von Konsequenzen, um solche Taten besser verhindern zu können. Unter anderem soll es künftig immer dann, wenn Insassen wegen eines Gewaltdelikts in der Untersuchungshaft sitzen und dabei „psychische Verhaltensauffälligkeiten mit aggressiver Grundtendenz zeigen und/oder suchtmittelabhängig sind“ eine gemeinsame Fallbewertung von Justizvollzug, Sicherheitsbehörden, Staatsanwaltschaft, Ausländerbehörde und den für soziale Fragen zuständigen Behörden und Einrichtungen geben.
Brokstedt-Konsequenz: Alle wichtigen Hinweise aus der Haft sollen dem Verfassungsschutz gemeldet werden
Zweitens sollen sämtliche im Rahmen des Strafvollzugs auftretenden „Hinweise und Wahrnehmungen zu extremistischen Haltungen sowie Gefährdungspotentialen“ an das Landesamt für Verfassungsschutz und die Staatsschutzabteilung im Landeskriminalamt weitergeleitet werden. Damit reagiert der Senat auf den Umstand, dass die Äußerungen von Ibrahim A. zu Anis Amri zwar von einem JVA-Mitarbeiter als „Wahrnehmung“ dokumentiert wurden, aber – wohl, weil sie nur einmal getätigt wurden – nicht an andere Stellen weitergeleitet wurden.
Zudem sollen alle bereits angelegten „Wahrnehmungsbögen“ nun daraufhin überprüft werden, ob sie noch nicht gemeldete extremistische Äußerungen oder Handlungen von Untersuchungs- und Strafgefangenen enthalten.
Ibrahim A.: Mögliche Ausweisung scheiterte auch an fehlender Behörden-Abstimmung
Zu den „Sofortmaßnahmen“ gehört ferner die „Überprüfung laufender Haftsachen durch die Staatsanwaltschaften im Hinblick auf Mitteilungspflichten zu ausländer- und asylrechtlichen Sachverhalten“ – und gegebenenfalls die Nachmeldung solcher Fälle. Das klingt sperrig, betrifft aber einen springenden Punkt dieses Falls: Denn beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) lief wegen vorheriger Straftaten bereits ein Verfahren zur Aberkennung des subsidiären Schutzes, den A. in Deutschland genoss, das auch mit einer Ausweisung hätten enden können.
Es kam jedoch ins Stocken, weil das Bamf den Palästinenser nicht mehr auffinden und anhören konnte. Dass er in Hamburg in Haft saß, hätte die Staatsanwaltschaft Hamburg dem Bamf mitteilen müssen. Nach Aussage von Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) tat sie das nicht, weil die Ermittler keine Kenntnis vom Flüchtlingsstatus des Mannes hatten.
Innensenator will Zug-Fahrgäste auch per Videoüberwachung schützen
Mittelfristig will Hamburg zudem etliche weitere Maßnahmen anstoßen, etwa für mehr Sicherheit im Zugverkehr. Unter anderem setze man sich für die „regelhafte Einführung von Videoüberwachung in Zügen des Regional- und Fernverkehrs“ ein, heißt es – so wie es in Bussen und Bahnen im Nahverkehr, etwa im HVV, bereits üblich sei.
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Innensenator Andy Grote (SPD) sagte, denke er dabei auch Systeme, die nicht nur einfach das Geschehen im Zug festhalten, sondern das Verhalten und die Bewegungen der Fahrgäste permanent hinsichtlich möglicher Gefährdungen analysieren, um Zugpersonal und Sicherheitskräfte schnellstmöglich auf eventuelle Gefahrensituationen aufmerksam machen zu können. „Aggressive Körperhaltung, Gruppenbild oder Taumeln“ könnten zum Beispiel Hinweise auf eine mögliche Gefährdung sein.
Polizisten mit Waffe sollen kostenlos Zug fahren dürfen – auch in zivil
Zudem wolle man die Videoüberwachung an Bahnhöfen und im Umfeld von Bahnhöfen ausweiten, ebenso die Waffenverboten in Zügen und an Bahnhöfen. Das alles könne Hamburg aber nicht im Alleingang beschließen, so Grote. Daher werde man sich mit anderen Bundesländern, dem Bund und der Bundespolizei abstimmen.
Um die Präsenz von Polizeikräften in den Verkehrsmitteln zu verbessern solle weiterhin geprüft werden, ob die kostenfreie Nutzung sämtlicher Züge im ÖPNV, Regional- und Fernverkehr nicht nur für uniformierte, sondern auch zivile Kräfte gelten kann, soweit sie eine Dienstwaffe und einen Dienstausweis mitführen.
Justizsenatorin Gallina: Aufklärung ist noch nicht abgeschlossen
„Wir stehen alle noch immer unter dem Eindruck dieser furchtbaren Tat in Brokstedt“, sagte Justizsenatorin Gallina. Daher habe Hamburg die Aufklärung ins Zentrum gestellt: „Wo können, wo müssen wir besser werden in den Abläufen, wo müssen Maßnahmen eingeleitet oder geprüft werden? Justiz, Justizvollzug und Polizei arbeiten bereits eng zusammen, wenn es um die Gefahrenabwehr im Hinblick auf entlassene Gefangene geht.
Auch wenn die Aufarbeitung noch nicht vollständig abgeschlossen ist, haben wir wichtige Maßnahmen bereits identifiziert.“ Es brauche aber auch „bundesweit Klarstellungen und Vereinheitlichungen bei den Mitteilungspflichten und den Mitteilungswegen“, so Gallina. „Dafür werden wir konkrete Vorschläge erarbeiten und die nötigen Änderungen vorantreiben.“
Innensenator Grote will Rückführungen aus Haft „konsequent“ vorbereiten und umsetzen
Es müsse nun darum gehen, die Wahrscheinlichkeit solcher Taten möglichst weitgehend zu reduzieren, sagte Innensenator Grote: „Dazu gehört die Erhöhung der Sicherheit im Zugverkehr unter anderem durch Einführung von Videoüberwachung in Zügen des Regional- und Fernverkehrs. Zudem müssen wir sicherstellen, dass auch bei ausländerbehördlicher Zuständigkeit anderer Bundesländer Rückführungen aus Haft konsequent vorbereitet und umgesetzt werden.“
Opposition: Maßnahmen ein „durchschaubares Ablenkungsmanöver“?
CDU-Fraktionschef Dennis Thering nannte die Maßnahmen des Senats ein „durchschaubares Ablenkungsmanöver. Insbesondere die Maßnahmen zur Steigerung der Sicherheit in Zügen und an Bahnhöfen sind geradezu grotesk, denn alles davon wird seit Jahren von uns gefordert, wie beispielsweise eine IT-gestützte Videoüberwachung oder eine Ausweitung von Waffenverboten. Es musste leider wieder erst etwas passieren, damit der rot-grüne Senat notwendige Maßnahmen zum Schutz der Menschen aufgreift.“ Angesichts der „Vielzahl von Fehlern, Pannen und Ungereimtheiten“ forderte Thering die Entlassung der Justizsenatorin: „Das ist spätestens jetzt alternativlos.“
Aus Sicht der Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei, Cansu Özdemir, gehen die „halbgaren“ Lösungsvorschläge an den Problemen im Justizvollzug vorbei: „Wir benötigen einen deutlichen Ausbau der psychosozialen Betreuung von Gefangenen, insbesondere im Bereich der psychologischen und psychiatrischen Versorgung. Dafür müssen aber auch erst mal die personellen Ressourcen erheblich ausgebaut werden.“
Für die FDP-Abgeordnete Anna von Treuenfels-Frowein ist das Maßnahmenpaket des Senats „ein Eingeständnis des justiz- und sicherheitspolitischen Scheiterns von Rot-Grün“. Alle nun aufgelisteten Maßnahmen „hätten im Falle derart gefährlicher Personen wie Ibrahim A. längst stattfinden müssen“. Stattdessen habe man ihn „achselzuckend auf die Straße gesetzt. Die politische Verantwortung dafür ist und bleibt bei Justizsenatorin Gallina.“